Читать книгу Damaris (Band 1): Der Greifenorden von Chakas - C. M. Spoerri - Страница 15
Kapitel 6 - Damaris
ОглавлениеTag 11, Monat 8, 1 EP 10 250 – 6 Jahre zuvor
»Jaja, ist ja gut, Schwesterherz, ich pass auf!«, rief ich, während ich leichtfüßig über die Steine sprang, ehe ich begann, eine Felswand hinaufzuklettern.
Wir waren nun seit einer Stunde unterwegs, um zu dem Ort zu gelangen, an dem die seltenen Kronenblumen wuchsen. Eine Pflanze, mit welcher sich alle möglichen Tränke und Tinkturen herstellen ließen, was unseren Lebensinhalt darstellte. Meine Schwester trug Erdmagie in sich, die sie in den vergangenen Jahren selbst zu beherrschen gelernt hatte. Als in mir ebenfalls zusätzlich zum Wasserelement Magie erwachte, war ich einfach nur glücklich. Vielleicht würde ich irgendwann eine ebenso gute Magierin wie sie werden – selbst wenn ich keine Lebewesen heilen konnte. Aber auch Wassermagie vermochte einige nützliche Dinge zu bewirken. Wie beispielsweise aus beinahe jedem Untergrund Wasser herauszuholen. Oder Eispfeile zu schießen. Noch waren meine Kräfte dafür zu gering, doch irgendwann würde ich diese Zauber erlernen und dann konnte ich Gabriella und mich beschützen.
»Ris, du solltest nicht so hoch klettern!«, ermahnte mich meine Schwester erneut und ich verdrehte die Augen.
»Du und deine Fürsorge«, erwiderte ich und schickte ein »Pfft« hinterher.
»Ich braue die Tränke nicht, um dich ständig zusammenzuflicken«, ereiferte sich Gabriella weiter und ich konnte förmlich vor meinem inneren Auge sehen, wie sie ihre hübsche Nase krauszog. »Wir haben genügend Blüten, komm zurück!«
»Dort oben habe ich eine richtig große Ansammlung von Kronenblumen gesehen, Ella!«, rief ich zurück, ohne nach unten zu blicken. »Damit kannst du fast ein Dutzend Tränke mehr brauen.«
Ich hörte meine Schwester leise schnauben, wusste aber, dass sie nicht weiter widersprechen würde. Die Tinkturen, die sie herstellte, konnten Verletzungen und Krankheiten aller Art heilen. Sie waren in der ganzen Umgebung bekannt und viele Menschen machten sich die Mühe, den beschwerlichen Weg zu uns auf sich zu nehmen, um sie zu kaufen. Das stellte unsere einzige Einnahmequelle dar und daher war es auch wichtig, dass wir stets ein paar Tränke zu Hause hatten, um sie verkaufen zu können.
Geschickt kletterte ich weiter, dem Vorsprung entgegen, der nur noch wenige Schritt von mir entfernt war. Gerade als ich versuchte, Halt für meinen rechten Fuß zu finden, ertönte ein erbärmliches Kreischen, das an ein verletztes Adlerjunges erinnerte. Ich hatte einmal eines mit gebrochenen Flügeln gefunden und seine Schreie waren mindestens so herzzerreißend gewesen wie diejenigen, die jetzt an mein Ohr drangen.
Ich hielt inne und sah nun doch nach unten. Etwa fünfzehn Schritt unter mir konnte ich meine Schwester entdecken, die den Klagelaut wohl auch bemerkt hatte. Ihr Kopf war in die Richtung gewandt, aus der die Schreie ertönten.
»Was ist das?«, rief ich zu ihr hinunter.
»Wahrscheinlich ein Adler oder so«, antwortete sie und hob den Blick zu mir herauf. Der Wind wehte ihr ein paar ihrer dunklen langen Strähnen ins Gesicht und sie strich sie unwirsch weg. Von Weitem wirkte sie erwachsener, als sie mit ihren fünfzehn Jahren eigentlich war. Fast schon wie eine erwachsene Frau. »Komm jetzt da runter, Ris.«
»Aber …«
»Du sollst jetzt da runterkommen!« Ihr Befehlston ließ keine Widerrede mehr zu und ich schnaubte mürrisch.
Erneut erklang das gequälte Krächzen und ich atmete tief durch, da sich alles in mir vor Mitleid zusammenzog. Ich musste dem Tier irgendwie helfen.
Ein Blick zu meiner Rechten zeigte mir, dass ich über einen schmalen Pfad in die Richtung gehen konnte, aus der die Schreie ertönten.
Gabriella, die bemerkte, dass ich nicht vorhatte, wieder zurück zu ihr zu klettern, stieß ein Stöhnen aus, das ich sogar bis zu mir nach oben hörte. »Damaris!« Meinen vollständigen Namen sprach sie nur aus, wenn sie wütend auf mich war. »Du wirst jetzt nicht zu diesem Adler klettern!«
»Du könntest ihn heilen«, erwiderte ich trotzig. »Ich hole ihn.«
Meine Schwester knurrte eine Verwünschung, während ich mich daranmachte, zu dem schmalen Pfad zu klettern. Ich musste all mein Geschick aufwenden, um heil bei meinem Ziel anzukommen, aber es gelang mir schließlich. Wie ich allerdings den Weg zurück meistern sollte – womöglich mit einem verletzten Adler in den Armen, der sich ziemlich sicher auch noch wehrte –, war mir ein Rätsel. Aber darum würde ich mich kümmern, wenn es so weit war. Nun galt es erst einmal, das Tier zu finden, dessen Rufe unentwegt an mein Ohr drangen.
Ich setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, um nicht abzurutschen, und bewegte mich in Richtung der Schreie. Nach wenigen Dutzend Schritt beschrieb der schmale Pfad eine Kurve, und mein Blick fiel auf ein Tier, das zwischen mehreren Felsen kauerte. Ein Tier, das eindeutig kein Adler war. Und schon gar kein Junges, dafür war es viel zu groß …
»Was bei den Göttern …«, entfuhr es mir und ich schlug augenblicklich die Hand vor den Mund, da das Tier in ebendiesem Moment auf mich aufmerksam wurde und seinen gewaltigen Kopf zu mir drehte.
Doch, es war ein Adler – aber irgendwie auch nicht. Denn der Körper mit dem schneeweißen Fell glich eindeutig dem eines Pumas – der allerdings über gewaltige Flügel verfügte. Der Kopf besaß einen Schnabel und weiße Federn wie ein Vogel, und die katzenartigen Ohren waren aufmerksam in meine Richtung gerichtet. Die roten Augen fixierten mich mit einer Intensität, wie ich sie noch nie bei einem Lebewesen gesehen hatte. Alles an ihm strahlte Intelligenz und Persönlichkeit aus … regelrecht einschüchternd.
Ich hob die Hände, um dem Tier zu signalisieren, dass ich ihm nichts tun würde, und begann langsam rückwärts zu gehen, um aus seinem Blickfeld zu verschwinden. Mit einem Mal stolperte ich und fiel mit einem lauten »Au!« auf den Hintern. Mein Blick huschte zum Tier zurück, das sich nun halb aufgerichtet hatte, um zu sehen, was ich da auf dem Felsenpfad veranstaltete.
»Schon gut, nichts passiert!«, rief ich dem Wesen zu, obwohl ich nicht annahm, dass es meine Sprache überhaupt verstand, geschweige denn, dass ihm mein Wohlergehen am Herzen lag. »Bleib schön brav, wo du bist, ja? Ich will dir nichts tun. Entschuldige bitte die Störung.«
Leider schienen meine Worte es nicht zu beruhigen, denn das weiße Adler-Puma-Tier erhob sich nun komplett und präsentierte mir seine beeindruckende Körpergröße, die der eines kleinen Ponys glich.
»Schöööön Sitz machen«, beschwor ich die Kreatur und rappelte mich wieder auf die Beine. »Ich bin gleich weg.«
Aber das Wesen dachte nicht daran, mir zu gehorchen wie ein braver Hund. Es tat einen Schritt auf mich zu – und zuckte zusammen. Mein Blick fiel auf seine linke Pfote, die unnatürlich verrenkt aussah. Auch der Adler-Puma schien zu bemerken, dass es keine so gute Idee war, das verletzte Bein zu belasten, er hob seine Pfote an und betrachtete sie. Fast schon vermeinte ich, ein Stirnrunzeln auf seinem Adlergesicht zu erkennen.
»Du bist verletzt«, fasste ich seine Musterung in Worte, was das weiße Wesen erneut den Blick auf mich richten ließ. »Da. Deine Pfote«, erklärte ich und deutete mit der Hand auf sein Bein, während ich vorsichtig wieder einen Schritt auf die Kreatur zuging. »Verletzt.« Ich schüttelte meine Hand in der Luft auf und ab, um zu zeigen, was ich meinte.
Das Tier legte den Kopf schief, als versuchte es, meine Worte zu verstehen, und seine Augen begutachteten mich aufmerksam.
»Ich kann das heilen«, fuhr ich fort. »Also nicht ich, aber meine Schwester.« Ich sah über meine Schulter zurück. »Sie ist da hinten … unten. Es ist nicht weit.« Ich wandte mich wieder dem Tier zu. »Du besitzt Flügel. Kannst du damit fliegen?«
Als hätte er mich nun endlich verstanden, entfaltete der Adler-Puma seine Schwingen ein wenig und offenbarte mir damit eine imposante Flügelspanne.
»Ja, ich glaube, damit könntest du fliegen, oder?« Ich nickte mir selbst und dem Adler-Puma zu.
Dass er mich nicht angriff, sondern still auf der Stelle verharrte, ließ mich mutiger werden. Ich machte einen weiteren Schritt in seine Richtung, was ihn jedoch zurückweichen ließ.
»Nun gut, ich hoffe, du folgst mir«, murmelte ich.
Dann wandte ich mich ab und ging den Pfad zurück. Vor der Biegung sah ich mich noch einmal zu dem Tier um, das mich mit schief gelegtem Kopf musterte.
»Komm schon, wir werden dir helfen«, rief ich ihm zu und deutete mit der Hand in die Richtung, in der sich meine Schwester befand.
Das Wesen schien mich zu verstehen, denn es breitete tatsächlich seine Flügel aus.
»Na also«, sagte ich lächelnd. »Wir treffen uns unten.«
So rasch ich konnte, kletterte ich zurück zu der Stelle, wo Gabriella immer noch auf mich wartete. Ein halsbrecherisches Unterfangen, aber es gelang mir, heil bei meiner Schwester anzukommen.
»Wo ist das verletzte Tier?«, fragte sie mich stirnrunzelnd, als ich nach einem mehr oder weniger gelungenen Abstieg wieder neben ihr stand.
Ich deutete mit dem Kopf hinauf zur Felswand. »Dort oben«, hauchte ich, da in diesem Moment eine gewaltige Kreatur am Himmel erschien. Der Adler-Puma kreiste über uns, während er uns misstrauisch beäugte.
Meine Schwester keuchte entgeistert auf und packte mich am Arm. »Lauf!«, rief sie und wollte mich mit sich zerren, aber ich riss mich los.
»Nein. Er wird uns nichts tun«, erwiderte ich mit so viel Überzeugung, wie mir möglich war, während ich unverwandt das edle Tier beobachtete. »Er ist verletzt und du kannst ihn heilen.«
»Ich soll … Bist du von allen guten Geistern verlassen?!« Gabriella sah mich verstört an.
»Ich habe es ihm versprochen«, entgegnete ich trotzig und schob meine Unterlippe vor, ehe ich mich von dem faszinierenden Anblick des fliegenden Pumas losriss und meine Schwester flehend ansah. »Hilf ihm. Bitte.«
Bevor sie etwas antworten konnte, landete das Wesen in einiger Entfernung und legte seine Flügel an.
»Siehst du, er tut uns nichts.« Ich ging ein paar Schritte auf das Tier zu.
»Du bleibst schön hier!« Gabriella packte erneut meinen Arm und schob mich hinter sich. »Mit einem Greif ist nicht zu spaßen.«
»Greif?« Ich runzelte die Stirn.
»Natürlich.« Gabriella nickte heftig, ehe sie mir einen tadelnden Blick über die Schulter zuwarf. »Wenn du dir einmal die Zeit nehmen und die Bücher lesen würdest, die ich dir immer wieder auf den Nachttisch lege, dann wüsstest du so etwas, Ris.«
Ich blies die Wangen auf und stieß die Luft geräuschvoll aus. Es hatte keinen Sinn, ihr zu widersprechen – ich war nun mal keine Leseratte wie meine Schwester und sah wenig Sinn darin, stundenlang geschriebene Wörter anzustarren, die mich ja doch nicht wirklich packen konnten.
»Was weißt du denn über diese … Greife?«, fragte ich stattdessen und beobachtete das Tier, das sich nun wie eine Katze hingekauert hatte.
»Sie sind edle und vor allem intelligente Wesen«, begann meine Schwester ihr Wissen mit mir zu teilen. »Aber auch wahnsinnig scheu und wenn man nicht aufpasst, können sie einen mit einem einzigen Prankenhieb töten. Sie verfügen über Magie und …«
»Warte, warte«, unterbrach ich sie. »Magie?«
Gabriella nickte. »Ja.«
»Etwa so wie Drachen?« Meine Augen wurden groß.
»Nicht ganz so …« Meine Schwester legte den Kopf schief. »Aber ich weiß ehrlich gesagt auch nicht genau, wie weit ihre Fähigkeiten gehen. Es ist sehr wenig über sie bekannt.«
»Hm.« Ich legte ebenfalls den Kopf schief, während ich hinter Gabriella hervortrat. »Trotzdem sollten wir ihm helfen.«
»Manchmal denke ich, du trägst Erde anstelle von Wasser in dir.« Sie stieß ein entnervtes Stöhnen aus. Dann seufzte sie und betrachtete den Greif, der regungslos in einiger Entfernung saß. »Aber ich kann ein verletztes Tier nicht einfach sich selbst überlassen.« Sie sah mich von der Seite an. »Nun gut, ich versuche ihm zu helfen. Aber du hältst Abstand zu dem Greif, verstanden?«
Ich nickte eifrig und beobachtete, wie meine Schwester ein paar Schritte auf das weiße Wesen zuging. Sie streckte die Hand aus und ich hörte sie beruhigende Worte murmeln. Das Tier sah sie unverwandt an, bewegte sich jedoch nicht. Ich hielt den Atem an, als sie schließlich vor ihm stand und ihn ein paar Sekunden lang ansah, ehe sie langsam in die Hocke ging. Noch immer machte der Greif keinen Mucks. Erst als sie seine verletzte Pfote berührte, ging ein Zittern durch seinen Körper. Aber er hielt still, während Gabriella ihre Magie in ihn schickte und die Wunde zu heilen begann.
Es dauerte einige Minuten, bis sie fertig war, und ich bemerkte, dass es sie viel Körperwärme gekostet hatte, da sie schauderte, ehe sie sich erhob. Alle Magier zogen ihre Kräfte aus der eigenen Wärme – daher konnte es im dümmsten Fall sogar vorkommen, dass man erfror, wenn man nicht aufpasste und zu viel Magie wirkte. Meine Schwester besaß zwar beeindruckende Kräfte, aber auch diese waren den Gesetzen der Natur unterworfen. Das war nun mehr als deutlich zu erkennen, als sie zu mir zurückkehrte. Ihre Lippen wiesen einen leichten Blauton auf und sie schlang zitternd ihre Arme um den Körper.
»Hier, nimm meinen Mantel«, sagte ich und legte ihr meinen Umhang um die Schultern. Sofort hüllte mich die Kälte ein, die den bevorstehenden Winter ankündigte, aber das machte mir nichts aus. Ich würde mich später zu Hause am Kamin aufwärmen. Ebenso wie Gabriella, die nun dankbar nickte und nach dem Korb mit den Kronenblumen griff.
»Lass uns gehen, Ris«, murmelte sie.
Ich warf einen Blick zum Greif, der uns immer noch musterte und dann skeptisch seine Pfote beäugte, die wieder heil war. »Wollen wir ihn einfach so zurücklassen?«, fragte ich.
»Wir können ihn ja wohl kaum wie einen Hund mitnehmen.« Über das Gesicht meiner Schwester glitt ein Lächeln. »Auch wenn ich zugeben muss, dass er wunderschön ist. Aber er ist nun mal ein wildes Tier.«
»Hm. Schade.« Ich betrachtete bedauernd den Greif, ehe ich seufzte. Sie hatte ja recht – er war kein Hund, mit dem man auf dem Bett kuscheln konnte. »Mach’s gut.« Ich hob zum Abschied die Hand. »Und pass auf deine Pfoten auf.«
Das Tier musterte mich nur wieder aus seinen roten, klugen Augen. Während wir den Weg zurück antraten, wandte ich mich noch ein paarmal zu ihm um, und beim fünften Mal war er verschwunden, als hätte er sich in Luft aufgelöst.
»Komische Kreaturen«, brummte ich und nahm mir vor, nun doch endlich eines der Bücher zu lesen, die mir meine Schwester auf den Nachttisch gelegt hatte.