Читать книгу Das Schweizer EU-Komplott - Carl Baudenbacher - Страница 15
3.Der Staat als Vormund der Privaten
ОглавлениеDieses Konfliktlösungsmodell, bei dem die Bundesverwaltung alles und die betroffenen Unternehmen und Bürger nichts zu sagen haben, ist ein Ausfluss einer traditionellen völkerrechtlichen Rechtsfigur, die sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelt hat: des Prinzips des diplomatischen Schutzes. Damit wird ein Verfahren bezeichnet, mit dem ein Staat einen Anspruch gegen einen anderen Staat geltend macht, weil dieser einen seiner Staatsangehörigen völkerrechtswidrig behandelt hat.
Diplomatischer Schutz wurde zunächst hauptsächlich von kapitalexportierenden Ländern (d. h. westeuropäischen Ländern und den Vereinigten Staaten) gegen kapitalimportierende Länder (d. h. hauptsächlich Länder Lateinamerikas) ausgeübt. Das Recht des diplomatischen Schutzes und seine Entwicklung wiederspiegelt aber auch den Strukturwandel des Völkerrechts selbst. Dieses hat sich von einem Rechtsgebiet, das die Beziehungen von Staat zu Staat regelte, zu einem Feld entwickelt, das den Schutz des Einzelnen stärker in den Vordergrund stellt.
Konzeptuell ist der diplomatische Schutz ein Recht des Staates, nicht des betroffenen Einzelnen. Er beruht allerdings auf einer Fiktion: Die Schädigung einer Person wird so behandelt, als stellte sie eine Schädigung des Staates der Person dar, was den Nationalstaat berechtigt, den Anspruch geltend zu machen. Durch die Verletzung des Rechts des Einzelnen entsteht der Anspruch des Staates auf diplomatischen Schutz. Die Fiktion ist nur ein Mittel zum Zweck, dem Einzelnen Schutz zukommen zu lassen. Der Staat ist also der Vormund der Privaten.
Ein angewandtes Beispiel diplomatischen Schutzes ist das Streitbeilegungsverfahren der Welthandelsorganisation WTO. WTO-Mitgliedstaaten können frei darüber entscheiden, ob sie ein Streitbeilegungsverfahren einleiten und damit ihren Wirtschaftsakteuren entsprechenden Schutz zukommen lassen wollen. Sie sind nicht verpflichtet, solchen Schutz zu gewähren. Aus der Sicht der Privaten und Unternehmen hat das vier gravierende Nachteile:
(1)Sie müssen sich zunächst Zugang zu den zuständigen nationalen Bürokraten verschaffen und diese davon überzeugen, ihren Fall aufzugreifen. Das ist ein zeit- und ressourcenaufwendiger, intransparenter Prozess, dessen Ausgang unsicher ist.
(2)Hat ein Staat für einen seiner Untertanen einen Fall aufgenommen, so ist er in den Augen des zuständigen internationalen Gerichts alleiniger Kläger. Der Bürger bzw. das Unternehmen gibt jede Kontrolle ab. Ob Bürger- bzw. Unternehmensperspektiven Berücksichtigung finden, die sich von der Position der Regierung unterscheiden, ist offen.
(3)Der diplomatische Schutz bietet nur Teillösungen: Im Wirtschaftsrecht steht er nur nationalen Unternehmen zur Verfügung, typischerweise in Bezug auf nationale Produkte. Für ein transnationales Unternehmen, das grenzüberschreitende Operationen durchführt, ist es nicht immer einfach, eine Staatsangehörigkeitsbeziehung mit einem Staat herzustellen.
(4)Ob der Fall verfolgt wird, wird anhand von politischen Faktoren bewertet, die für die wirtschaftlichen Interessen der Individuen und Unternehmen nicht relevant sind. Regierungen zögern, Argumente zu unterstützen, die sie in späteren Verfahren binden, parallele politische Verhandlungen untergraben oder sonst unerwünschte präjudizielle Wirkungen haben.
Historisch ist die Tatsache, dass die bilateralen Abkommen auf dem Gedanken des diplomatischen Schutzes fussen, ohne weiteres erklärbar. Die ersten Verträge wurden in den 1950er Jahren mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl EGKS geschlossen. Auch die Freihandelsabkommen, welche die Schweiz im Jahr 1972 mit der EWG und der EGKS vereinbarte, wurden durch einen Gemischten Ausschuss administriert. Gleiches galt für die Freihandelsabkommen zwischen EWG/EGKS und den übrigen damaligen EFTA-Staaten.
Heute ist die Schweiz allerdings das einzige namhafte europäische Land, das seinen Bürgern und Unternehmen den direkten Zugang zu einem europäischen Gericht verweigert. In der EU und im EWR haben Individuen und Unternehmen die Freiheit, selber darüber zu entscheiden, ob sie in einem Fall den Gang vor ein europäisches Gericht anstreben wollen oder nicht. In der EU ist das der EuGH, in der EWR/EFTA der EFTA-Gerichtshof. Die 28 EU-Staaten sind im EuGH, die drei EWR/EFTA-Staaten im EFTA-Gerichtshof mit je einem Richter vertreten. In der Schweiz können sich Private indes lediglich an die Bundesverwaltung wenden mit der Bitte um diplomatischen Schutz. Das passt schlecht zur vielgepriesenen Schweizer Freiheit. Bundesrat und Bundesverwaltung wollen auch für die Zukunft an dieser Prärogative festhalten. Die Parlamentarier und die Kantone kennen nichts anderes und nehmen diesen Zustand als gottgegeben hin. Die Vertreter der Wirtschaftsverbände sind befangen, da sie einen privilegierten Zugang zur Bundesverwaltung haben.