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Kapitel 2 Distanz zur EWG I.Traditionelle Abwehrhaltung gegen supranationale Strukturen

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Die Schweiz ist eines der wenigen europäischen Länder, die vom Zweiten Weltkrieg verschont geblieben sind. Laut lang herrschender offizieller Doktrin war dies eine Folge der bewaffneten Neutralität. Tatsächlich waren auch andere Gründe ausschlaggebend. Ob so oder anders: Hätte die Schweiz das Schicksal der Benelux-Länder geteilt, deren Neutralität von den Armeen Adolf Hitlers missachtet wurde, so hätte sie wahrscheinlich eine aktive Rolle im europäischen Aufbauwerk gespielt. Da dies aber nicht der Fall war, beschlossen die Schweizer, sich aus dieser Entwicklung herauszuhalten. Die Haltung der Bevölkerung gegenüber der politischen Integration in Europa war eine defensive. Das Land verblieb lange Zeit in einem selbstgewählten geistigen «Réduit». Historisch war das «Réduit Suisse» eine militärische Verteidigungsstrategie, bei der sich die Schweizer Armee, wenn ein Feind nicht an der Grenze aufgehalten werden könnte, relativ schnell in die Alpen zurückgezogen, aber mit einer Art Guerilla-Taktik von dort aus Widerstand geleistet hätte. Das Konzept wurde während des Zweiten Weltkrieges berühmt, aber der Bau von Befestigungsanlagen aller Art begann in den 1880er Jahren.

Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb die Idee des Réduit in den Köpfen. Die Schweiz war in der Überzeugung gefangen, dass die Neutralität und das Konzept des Réduit sie vor einer Invasion der deutschen Wehrmacht bewahrt hätte. Sie betrachtete sich als Sonderfall. Die Dinge, die sich ausserhalb des Landes abspielten, wurden einseitig aus schweizerischer Perspektive beurteilt. Auch die geistige Landesverteidigung, die vor und während des Krieges gepredigt worden war, wirkte weiter. All dies führte zu Denkmustern wie der Petitpierre-Doktrin, wonach die Neutralität die Mitgliedschaft in einer «politischen» internationalen Organisation ausschloss. Max Petitpierre war der Schweizer Aussenminister der Jahre 1945–1961. Als wichtigste Prinzipien beim Eingehen internationaler Vereinbarungen wurden angesehen: Wahrung der Neutralität und Souveränität, zwischenstaatlicher (intergouvernementaler) Charakter, Fehlen supranationaler Entscheidungsstrukturen wie zentrale Überwachung und übergeordnetes Gericht, Zustimmungserfordernis der Schweiz zu Änderungen, Kündbarkeit, Kontrolle des Personenverkehrs und Schutz der Schweizer Landwirtschaft. Aufgrund dieser Einschränkungen war die schweizerische Aussenpolitik weitgehend Aussenwirtschaftspolitik. Zentrales Element war und ist das Bestreben der Schweiz, den freien Zugang ihrer Wirtschaft zu ausländischen Märkten zu sichern und, wenn nötig, ihre Wirtschaft auch international zu integrieren, solange damit kein politisches Engagement verbunden war. Kommentatoren sprechen von einer Entpolitisierung und Ökonomisierung der Aussenpolitik. Der St. Galler Politikwissenschaftler Alois Riklin hat diese Haltung als «wirtschaftliche Integration ohne politische Partizipation» bezeichnet.

Auf globaler Ebene führte die genannte Haltung dazu, dass die Schweiz der UNO und dem GATT verspätet beitrat. Aufgrund ihrer Neutralitätspolitik hatte die Schweiz weder Deutschland vor dem 1. März 1945 den Krieg erklärt noch die Erklärung der Vereinten Nationen vom 1. Januar 1942 zur Formalisierung und Bekräftigung der zuvor beschlossenen Atlantik-Charta unterzeichnet. Das Land erhielt daher keine Einladung zur Teilnahme an der Gründungskonferenz der Vereinten Nationen. Aus Gründen der Neutralität unternahm das Land auch keine Anstrengungen, den Vereinten Nationen beizutreten. Der Bundesrat versuchte jedoch, das Abseitsstehen durch den Beitritt zu einer Reihe von Sonderorganisationen der Vereinten Nationen auszugleichen. Die Weltorganisation für geistiges Eigentum WIPO ist eine davon. Sie wurde am 14. Juli 1967 durch ein 1970 in Kraft getretenes Übereinkommen in Stockholm gegründet und hat ihren Sitz in Genf. 1974 wurde die WIPO zu einer Sonderorganisation im System der Vereinten Nationen. Um ein weiteres Beispiel zu nennen: Die Schweiz ist seit 1919 auch Mitglied der International Labour Organisation ILO. Seit ihrer Gründung 1946 und trotz der Tatsache, dass die Schweiz nicht Mitglied war, war Genf von Anfang an der wichtigste europäische UNO-Sitz. Die Schweizer UNO-Mitgliedschaft wurde 1986 abgelehnt, erst ein zweiter Versuch im Jahr 2002 war erfolgreich.

Da die Schweiz bei der Schaffung einer neuen Weltordnung nach dem Zweiten Weltkrieg am Rande stand, beteiligte sie sich nicht am Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen GATT, das am 30. Oktober 1947 im Palais des Nations in Genf von 23 Nationen unterzeichnet wurde und am 1. Januar 1948 in Kraft trat. Gründungsmitglieder waren Australien, Belgien, Brasilien, Burma, Kanada, Ceylon, Chile, China, Kuba, Tschechoslowakei, Frankreich, Indien, Libanon, Luxemburg, Niederlande, Neuseeland, Norwegen, Pakistan, Südrhodesien, Syrien, Südafrika, Grossbritannien und die Vereinigten Staaten von Amerika. Das Ad-hoc-Sekretariat befand sich in Genf. Die Grundprinzipien des GATT waren die Meistbegünstigungsklausel, der Grundsatz der Inländerbehandlung und das Verbot mengenmässiger Handelsbeschränkungen. Die Schweiz unterzeichnete das GATT erst am 1. August 1966. Seit dem 22. November 1958 war sie provisorisches Mitglied. Der Bundesrat erklärte in seiner Botschaft, die Schweiz sei zwar als provisorisches Mitglied von der Stimmabgabe ausgeschlossen. Das sei aber, da die Generalversammlung fast nie abstimme, nicht von grosser Bedeutung.

Das Abseitsstehen des Landes bei der europäischen Integration entsprach seinem allgemeinen aussenpolitischen Ansatz. Aber es gab auch wirtschaftliche Bedenken gegen den Beitritt zum GATT. Der Bundesrat äusserte in seiner GATT-Botschaft von 1959 die Befürchtung, dass die Schweiz als Hartwährungsland, das vom Zweiten Weltkrieg verschont geblieben war und wirtschaftlich und finanziell prosperierte, einer ständigen Diskriminierung durch Länder mit schwacher Währung ausgesetzt wäre, die aufgrund ihrer unausgeglichenen Zahlungsbilanz die Einfuhr von Schweizer Waren einschränken oder ganz verbieten könnten, während sich die Schweiz aufgrund ihrer uneingeschränkten Liberalisierungspflicht nicht gegen solche Nachteile wehren könnte. Die Aussage war ebenso anmassend wie peinlich.

Die Entscheidung, Vollmitglied des GATT zu werden, ist vor dem Hintergrund der Umwandlung der OEEC in die OECD zu sehen. In seiner Botschaft vom 10. Mai 1966 verwies der Bundesrat auf das fehlende Stimmrecht im Rahmen der provisorischen Mitgliedschaft und plädierte dafür, die Vollmitgliedschaft anzustreben, weil die Schweiz aktiv und konstruktiv an den Arbeiten des GATT mitgewirkt habe. Darüber hinaus gab es eine Änderung der Einstellung zum Importschutz für landwirtschaftliche Produkte. Der Beitritt zum GATT 1966 galt als diplomatische Meisterleistung. Der Schweizer Verhandlungsführer erklärte später, die Mitgliedschaft im GATT habe die Schweiz praktisch nichts gekostet. Die Schweiz beteiligte sich aktiv an der Kennedy-Runde und an den Runden von Tokio und Uruguay. Olivier Long und Arthur Dunkel – zwei Schweizer Bürger – fungierten als Generaldirektoren. Insgesamt hat der verspätete Beitritt zu GATT und UNO kaum zu wirtschaftlichen Einbussen geführt.

Die Schweiz gehörte zu den Mitgliedstaaten der OEEC, deren erstes Ziel es war, den Wiederaufbau unter Beteiligung der Marshall-Hilfe vorzubereiten. Weitere Mitglieder waren Belgien, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Grossbritannien, Island, Irland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, die Türkei und Westdeutschland. Die Mitgliedschaft der Schweiz wurde dadurch erleichtert, dass die OEEC eine zwischenstaatliche Organisation ohne supranationale Strukturen war. Der Marshall-Plan war ein im Jahr 1947 von den USA ins Leben gerufenes Europäisches Konjunkturprogramms.

1961 wurde die OEEC von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD abgelöst. Die Vereinigten Staaten und Kanada wurden Mitglieder der OECD. Die Organisation, deren Sekretariat in Paris angesiedelt ist, hat derzeit 34 Mitgliedstaaten, die meisten davon Industrieländer. Entscheidungen können in rechtlich verbindlicher Form getroffen werden, werden aber oft als Richtlinien oder Empfehlungen abgegeben. Die OECD verwendet weitere Arten von «soft law» wie z.B. Best-Practice-Analysen und theoretische Studien. Die Schweiz konnte an einem der wichtigsten internationalen multilateralen Foren ohne supranationale Züge teilnehmen. Beschlüsse und Empfehlungen können nur einstimmig gefasst werden. Enthält sich ein Mitglied der Stimme, so hebt die Stimmenthaltung nicht die Entscheidung oder Empfehlung auf, die für die anderen Mitglieder, nicht aber für das enthaltene Mitglied gilt (Artikel 6 OECD-Übereinkommen). Die Organisation war also ziemlich nach Schweizer Geschmack. Der Bundesrat erklärte in seiner Botschaft vom 5. Mai 1961:

«Die OECD ist wie die OEEC eine Organisation souveräner, gleichberechtigter Staaten, die über das Vetorecht, das Recht der Stimmenthaltung und das Austrittsrecht verfügen. Die Schweiz behält somit ihre volle Handlungsfähigkeit.»

Dennoch sah sich der Bundesrat veranlasst, einen Neutralitätsvorbehalt zu machen. In der Zwischenzeit ist deutlich geworden, dass weder das Vetorecht noch der Neutralitätsvorbehalt von grossem Nutzen sind. Vor allem im Steuerrecht hat sich gezeigt, dass ein Land sein Vetorecht nicht ohne Nachteile ausüben kann.

Das Schweizer EU-Komplott

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