Читать книгу Dreizehn. Das Spiegelbild. Band 3: Roman (13. Dark Fantasy, Steampunk) - Carl Wilckens - Страница 13
ОглавлениеRocío
Es war eine Nacht zum Verlieben. Eine Brise trug die salzige Luft des Meeres heran und vermischte sie mit dem Duft der Gräser. Die See lag spiegelglatt da und abertausende Sterne spiegelten sich in ihrer Oberfläche. Während Rocío der Promenade bis zum nördlichen Ende des Hafens folgte, war lange Zeit nur das Glucksen des Wassers unter den Bootsstegen zu hören. Als sie das Whitehall Nord erreichte, wurde es vom Zirpen unzähliger Grillen abgelöst. Feenwürmchen tanzten über der hügeligen Landschaft, die Treedsgow umgab.
In einer Nacht wie dieser war sie Damon zum ersten Mal begegnet. Sie hatte damals in Gatling gelebt. Er hatte hinter einer Kneipe neben ihrer Bleibe gestanden und geraucht. Rocío war nur kurz auf die Straße getreten, um Wasser aus einer Regentonne zu schöpfen, da spürte sie seinen Blick. Sie rechnete damit, dass er versuchen würde anzubandeln. Stattdessen sagte er mit müder Stimme: »Geh wieder rein, bevor einer von da drin rauskommt.« Er nickte zu der Kneipe. »Es treiben sich viele Ausbrecher aus New Port hier rum.«
Rocío sah ihm an, dass er sie anziehend fand, und zugleich spürte sie, dass seine Zuneigung nicht über die körperliche Ebene hinausging. Sie schloss kurz die Augen und als sie sie wieder öffnete, hob sich auch das Lid ihres dritten Auges.
»So wie du?«, erwiderte sie auf gut Glück. Alles, was sie hatte entziffern können, waren die Narben, die seine Taten hinterlassen hatten, und noch etwas, das sie überraschte: eine tief verwurzelte Trauer.
»Woher weißt du …?«
Rocío konnte ihr Lächeln nicht verbergen. »Ich bin vielleicht nicht ganz so einfach gestrickt, wie du denkst«, sagte sie und spürte, wie Damons Interesse wuchs.
Damon war damals noch nicht der Anführer der Gardisten gewesen. Er verdankte ihr seinen Aufstieg. Er offenbarte sich ihr, wie er sich keinem anderen offenbart hatte. Nächtelang redeten sie miteinander. Damon gestand ihr, dass das Gefängnis ihn verändert habe. Er träume jede Nacht von dem, was er dort gesehen und getan hatte. Als sie eines Nachts erwachte und sah, dass er am Fenster stand und rauchte, mischte sie ihm einen Trank aus Chlorosomnium und Amethystia. Chlorosomnium bildete die Grundlage, jemanden in Schlaf zu versetzen. Amethystia war eine seltene Blume mit violetten Blüten, aus der alle Formen von Heiltränken gemacht werden konnten, wie zum Beispiel echtes Laudanum. Der Trank sollte Damon bloß helfen, ruhiger zu schlafen. Aber Rocío entdeckte Wirkungen der Amethystia, die sie sich nicht einmal zu erträumen gewagt hatte. Eines Nachts spürte sie, wie Damon aus dem Bett stieg. Sie hatte dem Trank einige gemahlene Feenwürmchen beigemengt. Damon trat ins Mondlicht, das durch das Fenster hereinfiel, und einen Moment lang schien es, als würde er davon durchdrungen. Als er sich umdrehte, bemerkte Rocío, dass seine Augen silbern leuchteten wie der Mond. Sie fragte, ob er in Ordnung sei. Beim Klang ihrer Stimme lächelte er. Mit geschmeidigen Bewegungen kehrte er zum Bett zurück. Er schwang sich auf die Matratze, war schon im nächsten Moment über ihr und fing an, sie zu küssen. Sie liebten sich so lange und intensiv wie in keiner anderen Nacht zuvor. Am nächsten Tag glaubte Damon, er habe bloß geträumt. Doch mit der Zeit lernte er, während des Schlafwandelns bewusst zu handeln. In diesem Zustand war er nicht nur ein außerordentlich guter Liebhaber, sondern auch ein unbesiegbarer Kämpfer. Der Bedarf nach mehr Amethystia führte Rocío und Damon schließlich nach Treedsgow, wo Damon begann, ausgewählte Männer – überwiegend Ausbrecher aus Fort New Port – um sich zu scharen. Mit Damons Hilfe gelang es Rocío, einige Amethystiagewächse aus dem Rattensumpf zu bergen. Doch das Insomnium veränderte Damon. Der Schlaf unter dem Einfluss des Trankes schien nicht besonders erholsam zu sein. Bald musste Damon tagsüber dagegen ankämpfen, dass ihm die Augen zufielen. Zugleich war er in der Lage, wo er ging und stand, einzuschlafen und in den Zustand eines Mondsüchtigen zu wechseln. Er wurde unbesiegbar. Verließ die Kanalisation und übernahm das Hafenviertel Treedsgows. Je größer seine Macht wurde, desto weniger interessierte er sich für Rocío. Sie beklagte sich bei ihm. Drohte damit, das Insomnium nicht mehr herzustellen. Ihre Verzweiflung machte sie blind. Sie wollte nur wieder das zurück, was sie in Gatling gehabt hatte, wo es nur sie und ihn gegeben hatte. Keine Gardisten, keine Rabotniks und Wahnsinnigen und auch keinen Redscarf Butcher. Natürlich war es dumm von ihr gewesen, das erzwingen zu wollen. Eine Zeit lang sah es so aus, als würde alles wieder so werden wie früher. Damon schien wirklich Reue zu fühlen. Er schenkte ihr seine Aufmerksamkeit. Sie stellte für ihn das Insomnium her. Damon stellte ihr einige Assistenten zur Verfügung, was sie als Geste der Wiedergutmachung verstand. Nie im Leben hätte sie geglaubt, dass er ihre Formel stehlen lassen würde. Also arbeitete sie weiter für ihn. Inzwischen stellte sie nicht nur das Insomnium für ihn her, sondern auch noch etwas anderes. Etwas viel Schlimmeres. Etwas, das vielen Menschen einen grausamen Tod schenken konnte.
Vor dem Whitehall Nord hielten an diesem Abend zwei Gardisten Wache: Spellcer mit einem ärmellosen Hemd, das seine muskulösen Arme zeigte, und Mike, der Unmengen an Haarwichse benutzte, um sein Haar zu Stacheln zu bündeln, sodass sein Kopf einer Feldbefestigung ähnelte. Als Rocío die Tür öffnen wollte, versperrten sie ihr den Weg.
»Wie lautet das Passwort?«, fragte Spellcer, wobei er ein fieses Grinsen kaum unterdrücken konnte.
»Passwort?«, fragt Rocío genervt. »Was soll der Scheiß, Spellcer?«
Jetzt grinste auch Mike. »Das Passwort ist ein Kuss, Süße«, sagte er und spitzte die Lippen. Rocío ballte die Hände zu Fäusten. »Du kannst uns auch deine Titten zeigen. Warum zierst du dich neulich denn so? Früher konntest du nicht freizügig genug herumlaufen.« Das war wahr. Aber nur, weil jeder, der sie angesehen hatte, im Rattensumpf verschwunden war. Sie hatte es genossen, sich so zeigen zu können, wie sie es aus ihrem Heimatdorf in Linha kannte, wo die Frauen ihre Brüste unbedeckt lassen konnten, ohne dass den Männern sofort der Schwanz stand.
»Aus dem Weg, Spellcer, oder Damon wird hiervon erfahren.« Spellcer lachte. Er und Mike ließen sie passieren, und Rocío betrat mit rotem Gesicht das Foyer. Damon saß auf dem Thron am anderen Ende des Saals, den er sich eigens hatte schmieden lassen. Er hatte sich schon aufgeführt, als wäre er der König dieses Dreckslochs von einem Hafen, als sie noch in der Zisterne gelebt hatten. Aber das hier war einfach lächerlich. Im Saal verteilt saßen Gardisten an Tischen und aßen, tranken, rauchten und redeten. Leicht bekleidete Frauen – Töchter von Hafenarbeitern, die ihre Kinder in der Nähe der Gardisten sicher vor den Wahnsinnigen glaubten – brachten ihnen Speisen aus der Küche. Der Geruch nach Bier und Braten vermischte sich mit dem säuerlichen Gestank zwei Dutzend ungewaschener Leiber. Nur dann und wann fand eine nächtliche Brise ihren Weg durch ein geöffnetes Fenster.
Damon saß mit geschlossenen Augen da und massierte sich die Schläfen. Rocío trat näher und wartete darauf, dass er sie ansah.
»Was willst du?«, fragte Damon genervt, ohne die Augen zu öffnen. Sofort war Rocío zum Weinen zumute. Sie schluckte, doch der Kloß in ihrer Kehle wollte nicht verschwinden.
»Schon gut«, sagte sie um eine feste Stimme bemüht. »Ist eigentlich nicht so wichtig.« Sie wandte sich ab.
»Warte, Rocío«, sagte Damon, als sie schon auf dem Weg zum Treppenhaus war. Er klang versöhnlich. Rocío wandte sich um und bemerkte, dass Damon die Augen geöffnet hatte. Tiefe Schatten lagen darunter. Das Weiß seiner Augäpfel war gerötet, seine Pupillen so grau wie der Mond bei Tageslicht. Rocío vermisste das Blau, in dem sie früher geleuchtet hatten. »Was wolltest du mir sagen?«
Sie schluckte noch einmal. »Ich habe etwas über die Patienten aus Sankt Laplace herausgefunden«, sagte sie.
»Lass dir nicht jeden Wurm einzeln aus der Nase ziehen«, sagte Damon. »Was hast du herausgefunden?«
»In ihren Köpfen steckt dunkles Mana. Es verändert ihre Persönlichkeit und macht sie stärker.«
»Inwiefern stärker?«
»Ich weiß es nicht genau. Aber sie sterben nicht, wenn man ihnen ins Herz schießt.«
Damons Miene wurde nachdenklich. »Du bist nicht die Erste, die mir davon berichtet. Ich wollte es nicht glauben.« Rocío nickte knapp. Noch immer kämpfte sie mit den Tränen. Sie wollte nur noch allein sein und weinen. Weinen half. »Wie hast du herausgefunden, dass das dunkle Mana der Grund dafür ist?«, wollte Damon wissen.
»Einer von ihnen lag vor mir mit einer Kugel in seiner Stirn.«
»Hast du ihn getötet?«
»Nein.«
»Wer war es dann?«
Rocío hätte lügen können. Aber in diesem Moment schlug ihre Verzweiflung um in den Wunsch, Damon zu provozieren. »Es war der Redscarf Butcher«, sagte sie ein wenig lauter als beabsichtigt. Damon richtete sich von seinem Thron auf. Im Saal kehrte Stille ein. Ausnahmslos jeder hatte ihnen den Blick zugewandt. Nicht wenige Gesichter waren blass. Der Butcher war unter den Gardisten zu einem Mythos geworden. Damons Erkennungszeichen – das rote Halstuch – war zugleich das Signum mortis eines unbesiegbaren Killers. Man erzählte sich, dass Pistolenkugeln ihm nichts anhaben konnten. Er konnte überall dort auftauchen, wo Dunkelheit nistete. Er tötete schnell und lautlos, ließ seinen Opfern nicht einmal die Gelegenheit, um Gnade zu winseln, und pflanzte Furcht in die Herzen der Gardisten.
»Du weißt, wer er ist?«, fragte Damon. Seine Augen leuchteten und einen Moment lang schienen sie ihre einstige Farbe anzunehmen.
»Er ist Godric End«, sagte Rocío. »Derselbe Mann, der dir das halbe Ohr weggeschossen hat.«
»Unmöglich«, entgegnete Damon. »Ich habe ihn in den Rattensumpf geworfen.«
»Du hast ihn offenbar unterschätzt.« Damon sah sie einen Moment lang nachdenklich an.
»Warum warst du mit ihm zusammen?«, fragte er schließlich.
»Was glaubst du?«, fragte Rocío spöttisch. Sie würde es seiner Fantasie überlassen, was sie mit Godric End getrieben hatte. Damons Miene verfinsterte sich.
»Dieser Wichser!«, knurrte er. »Ihr habt sie gehört, Männer. Wir wissen jetzt, mit wem wir es zu tun haben. Bringt alle zu mir, die an dem Abend in der Zisterne sein Gesicht gesehen haben. Und bringt mir einen Zimmermann und einen Schmied«, fügte er hinzu, während Bewegung in die Gardisten kam. »Diesen Wichser zu töten, wäre viel zu freundlich. Ich werde ihm eine kleine Überraschung bereiten.« Rocío wandte sich um und verließ das Foyer. Als sie die Treppen zu ihrem Zimmer hochlief, konnte sie die Tränen nicht länger zurückhalten. Sie dachte an Godric und den Kuss, den sie ihm gestohlen hatte. Hätte sie doch bloß den Mund gehalten!