Читать книгу Dreizehn. Das Spiegelbild. Band 3: Roman (13. Dark Fantasy, Steampunk) - Carl Wilckens - Страница 16
ОглавлениеRoberto
Am Morgen nach dem Massenausbruch aus Sankt Laplace war die Sonne noch nicht aufgegangen, doch der Besitzer der Taverne Zum Sturmveteran hatte die Unterkunft bereits geöffnet. Nachdem Damon und die Gardisten sich im Whitehall Nord einquartiert hatten, glaubte Roberto seinen Spiegel in dieser schlichten Bleibe sicherer als im Whitehall Süd. Der Albenspiegel, den ihm sein Mentor mit auf die Reise gegeben hatte, war so wertvoll, dass man damit vielleicht die dustrische Flotte hätte kaufen können. Die wenigsten wussten um die Existenz dieser Relikte. Auf den ersten Blick wirkten sie wie gewöhnliche Spiegel. Wenn man hinter den Rahmen sah, war da eine Reihe altizzianischer Buchstaben. Sinngemäß stand dort: Sie kommen, um zu sehen und um gesehen zu werden. Es war eine große Ehre, dass man Roberto diesen Spiegel mitgegeben hatte. Die Familie hatte viel Vertrauen in ihn. Aber inzwischen fragten sich wohl alle, wann ihr Günstling seine Mission endlich beenden würde.
Roberto schleppte sich die Stufen hinauf in den ersten Stock und betrat sein Zimmer. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen. Obwohl er nur wenige Stunden fort gewesen war, roch es nach abgestandener Luft. Er warf einen sehnsüchtigen Blick zum Bett. Er hätte nichts lieber getan, als sich auf die Matratze fallen zu lassen, die Augen zu schließen und alles zu vergessen.
Aber zunächst musste er Bericht erstatten.
Er ging zum Fenster, öffnete es und angenehm kühle Luft zog herein. Die Vögel beschworen bereits zwitschernd den Tag herauf. Anschließend trat er vor den Spiegel, der offen an der Wand hing, und legte seine Handfläche auf das kühle Glas. Dieser Spiegel war anders als der, durch den sie nach Sankt Laplace gelangt waren. Etwas Vergleichbares hatte Roberto noch nie zuvor gesehen. Er war mit Dingen vertraut, für die selbst die klügsten Köpfe an der Treedsgow University wohl keine Erklärung finden konnten. Aber ein Spiegel, durch den man in eine Parallelwelt gelangte? Er musste Signore Giosue Fonti, seinem Großonkel zweiten Grades, davon berichten.
Das Abbild eines alten Mannes erschien. Er hatte ein faltiges Gesicht, einen gestutzten grauen Bart und buschige Brauen. Obwohl die Uhr in seinem Heimatland der hiesigen eine Stunde vorausging, trug sein Mentor bereits jetzt die Amtstracht seines Postens als oberster Richter der Provinz Tanto.
»Guten Morgen, mein Junge«, sagte er. Er klang stets freundlich, doch sein Lächeln verlor sich auf dem Weg zu seinen Augen. Der Stolz, der seinen Blick anfänglich gewärmt hatte, war mit der Zeit erkaltet.
»Guten Morgen, Signore.«
»Was hast du zu berichten?«
Roberto schluckte. »Leider nichts Gutes, Signore.« Der Alte hob die Brauen. Roberto holte tief Luft und fing an zu erzählen. Davon, wie er Albert nachspioniert hatte. Wie er überrumpelt worden war. Wie Albert ihm vorgeschlagen hatte, sie nach Sankt Laplace zu begleiten. Wie er den dummen Fehler begangen hatte, sich darauf einzulassen, um nach dem Perlsüchtigen zu suchen. Wie ihr Vorhaben außer Kontrolle geraten war, als sämtliche Patienten aus ihren Zellen befreit worden waren. Stockend berichtete er davon, wie er gezwungen gewesen war, einige von ihnen zu töten. Als er endete, schwieg Giosue Fonti eine lange Zeit. Roberto wagte es nicht, ihm in die Augen zu sehen, und fixierte stattdessen einen Nagel, der links unter dem Spiegel aus der Wand ragte. »Das genügt«, sagte sein Onkel schließlich. Roberto hob den Blick und wartete auf eine Erklärung. »Es ist an der Zeit, dass du heimkehrst.«
»Aber Signore! Die Mission …«
»Töte Albert Walker, und wir erheben dich in den Rang eines Cavaliere ad Gloria.« Roberto schwieg verblüfft. War das ein Test? Sein Onkel wusste, dass er den Kodex der Familie in- und auswendig kannte.
»Er hat mir das Leben gerettet«, sagte Roberto. »Ich kann ihn nicht töten.«
»Es ist seine Schuld, dass dein Leben überhaupt in Gefahr war.«
»Das ist so nicht ganz richtig«, widersprach Roberto gequält. »Er hat mich nicht gezwungen, ihn in die Nervenheilanstalt zu begleiten. Und soweit ich weiß, hat dieser Uther die Tore geöffnet.«
»Darüber lässt sich streiten«, erwiderte sein Onkel. »Nichtsdestotrotz ist es fast sicher, dass er der ist, den wir suchen.«
»Fast sicher genügt nicht, Signore. Wenn ich ihn töte, beleidige ich die Ehre unserer Familie.«
»Du warst dir sicher, dass er es ist«, entgegnete Giosue. »Hast du dich jemals geirrt? Ist das nicht Beweis genug?« Roberto konnte nicht glauben, diese Worte aus dem Mund seines Onkels zu hören. Der Giosue Fonti, den er kannte, befolgte mit nahezu fanatischer Hingabe den Kodex der Familie. Das musste ein Test sein!
»Bitte verzeiht, Signore, aber ich verlasse mich in dieser Sache nicht auf mein Gefühl«, sagte Roberto, »sondern einzig auf Tatsachen. Meine Sicht könnte getrübt sein vom Wunsch, die Mission abzuschließen.«
»Ist es nicht eine Tatsache, dass dieser Mann, der sich Albert Walker nennt, ein Gesetzesbrecher ist?«, entgegnete Giosue. »Während meines Aufstiegs zum obersten Richter von Tanto bin ich Dutzenden seiner Sorte begegnet, mein Junge. Den Fehler, einen Verbrecher wie ihn ziehen zu lassen, werde ich kein zweites Mal begehen.«
»Meine Aufgabe als Bewahrer der Ehre ist es, jene zur Verantwortung zu ziehen, die die Ehre der Familie beleidigt haben«, entgegnete Roberto überrascht ob seiner Kühnheit. Den eigenen Mentor zu belehren, das ziemte sich nicht für einen Prüfling. Eine steile Falte bildete sich zwischen den Brauen seines Onkels. Roberto verspürte einen Kloß im Hals, doch seine Stimme war fest, als er fortfuhr: »Albert Walker mag ein Verbrecher oder gar Mörder sein. Aber solange er nicht das Wissen unserer Familie missbraucht, ist es nicht meine Aufgabe, ihn zu stellen, sondern die der Polizei.«
»Es ist ein Befehl«, sagte sein Onkel kalt. Kurz sagte niemand etwas, während sie einander mit Blicken maßen. Dann bahnte sich eine erschreckende Erkenntnis in Robertos Bewusstsein. Wollte Giosue am Ende, dass er einen Fehler beging, um einen Vorwand zu haben, ihn aus der Familie zu verbannen? Hatte sein jüngster Patzer den Geduldsfaden seines Onkels endgültig reißen lassen?
»Bitte verzeiht mir, Onkel«, sagte Roberto, »aber der Kodex der Familie steht über Eurem Befehl.« Giosue erwiderte seinen Blick finster.
»Verweigerung hat zur Folge, dass die Mission abgebrochen wird. Du wirst die Chance verlieren, zum Cavaliere ad Gloria aufzusteigen, und Gabrielle nicht heiraten.« Der Kloß in Robertos Kehle wurde noch größer. Das war kein Test. Sein Onkel wollte, dass diese Mission endete. Entweder verstieß Roberto gegen den Kodex, oder er verweigerte den Befehl seines Mentors. So oder so drohte ihm die Verbannung. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken, damit Giosue nicht sah, dass sie zitterten.
»So sei es«, sagte er darum bemüht, eine feste Stimme zu wahren. Sein Onkel wartete eine Weile mit düsterer Miene. Dann wischte er mit der Hand durch die Luft und sein Bild verblasste.
Roberto ging zum Bett und ließ sich auf die Matratze sinken. Er stützte die Ellbogen auf die Knie und vergrub die Hände in seinem Haar. Sein Kopf schmerzte. Vielleicht würde ein wenig Schlaf Klarheit in seine Gedanken bringen. Er legte sich vollständig eingekleidet auf die Matratze, schloss die Augen und versuchte, alle Geräusche von draußen auszublenden. Nach einer Weile glitt er in einen unruhigen Dämmerschlaf, nur um kurz darauf vom Peitschenknall eines Fuhrmanns geweckt zu werden. Roberto riss die Augen auf. Entnervt stieg er aus dem Bett und verließ die Taverne. Es war immer noch sehr früh. Wie von selbst trugen seine Füße ihn zum Fourier. Es war noch geschlossen. Er ging zur Rückwand des Gebäudes und zählte die Fenster ab. Dann hob er einen kleinen Stein auf und warf ihn gegen das zweite Fenster von links im dritten Stock. Vermutlich schlief sie noch. Erst nach dem fünften Wurf öffnete Maria das Fenster.
»Roberto?« Ihr goldenes Haar brannte im Licht der aufgehenden Sonne.
»Können wir reden?«
Die Perle des Fourier blinzelte. »Natürlich. Ich mach dir auf.« Wenig später betrat Roberto hinter Maria ihr Zimmer. Sie trug einen goldgelben Morgenmantel aus flauschigem Stoff und sah trotz ihres zerzausten Haars und des Kissenabdrucks auf ihrer Wange atemberaubend schön aus.
»Setz dich«, sagte sie und wies auf den einzigen Stuhl im Zimmer. Roberto konnte nicht. Als Maria seinen Gesichtsausdruck sah, schlug ihre Miene in Besorgnis um. »Bist du in Ordnung?« Roberto schüttelte den Kopf. Er konnte es ihr nicht sagen. Die Mission war geheim. Wenn er jetzt redete, bedeutete das, dass sie endgültig gescheitert war.
»Es tut mir leid«, sagte er leise und senkte den Blick. »Ich möchte reden, aber ich darf nicht.«
»Ist es ein Geheimnis?«, fragte Maria. Roberto nickte. »Vielleicht kann ich helfen, ohne dass du etwas sagst.« Sie blickte mit vielsagender Miene zu ihm auf, und Roberto verstand es als Einladung, sie zu küssen. Er beugte sich zu ihr herab und seine Lippen fanden ihre. Ihr Haar roch nach Rosen. Ein warmes Gefühl strömte über ihre Zunge in seinen Mund, in seinen Bauch und breitete sich von dort in seinem ganzen Körper aus. Er strich mit der Rechten über ihren Rücken, die Linke vergrub er in ihrem Haaransatz. Als sie sich voneinander lösten, sah Maria ihn mit rehbraunen Augen an.
»War das hilfreich?«
Aller Umstände zum Trotz lächelte Roberto. Er zuckte mit den Achseln und sagte: »Ich bin mir noch nicht sicher …« Sie küssten sich wieder, und als sie die Bänder ihres Morgenmantels löste, wusste er, dass sie mehr wollte. Er streifte das Kleidungsstück von ihren Schultern und es fiel zu Boden. Darunter trug sie bloß ein seidenes Nachthemd. Sie küssten sich. Stürmischer. Er drängte sie zurück, bis sie gegen ihre Bettkante stieß und darauf niedersank. Er beugte sich über sie und küsste ihren schlanken Hals. Als sie ihn durch die Hose hindurch zwischen ihren Schenkeln spürte, entfuhr ihr ein überraschtes Stöhnen. Mit geschickten Fingern öffnete sie seinen Gürtel. Er streifte sein Hemd ab und warf es achtlos in den Raum. In seiner Hast, Hose, Schuhe und Socken gleichzeitig auszuziehen, blieb sein rechter Fuß in einem Knäuel aus Kleidungsstücken hängen. Maria kicherte, halb belustigt, halb ungeduldig, während er darum kämpfte, seinen Fuß zu befreien. Als er schließlich wieder über ihr war, strich sie andächtig über die Muskeln seines Oberkörpers. Sie richtete sich auf. Er zog das Nachthemd über ihren Kopf und warf es fort. Er wollte sie spüren. Maria seufzte, als Roberto mit dem Liebesspiel begann. Sie hatte alle Gedanken, alle Sorgen aus seinem Kopf vertrieben. Er war ein Medium der Leidenschaft, ein Draht, von elektrischer Energie durchströmt. Er wurde heißer, küsste ihren Hals, ihre Wange, ihren Mund, fing an zu glühen, während er immer schneller zustieß; verbrannte, während ihre Fingernägel sich in seinen Rücken gruben.
Später lagen sie aneinandergeschmiegt in Marias Bett. Roberto streichelte gedankenverloren ihr Haar und lauschte ihrem Atem. Er dachte an Gabrielle. In der Familie Fonti war es Brauch, Männer, die zu einem Cavaliere ad Gloria wurden, mit einer Frau zu verheiraten, die würdig war, in die Familie aufgenommen zu werden. Nicht immer waren die Paare glücklich mit ihrem Los. Roberto und Gabrielle allerdings waren wie füreinander geschaffen gewesen. Bevor er zu seiner Mission aufgebrochen war, hatten sie sich mehrmals heimlich getroffen und geliebt. Als er Izzian verlassen hatte, hatte er ihr versprochen, dass er sehr bald zurückkehren würde. Seither waren knapp drei Jahre vergangen. Sein Onkel hatte ihm verweigert, mit ihr über den Albenspiegel Kontakt aufzunehmen. Er war regelrecht in Rage geraten, als er ihn darum gebeten hatte. Der Spiegel sei kein Spielzeug für verliebte Narren, sondern diene einem höheren Zweck. Inzwischen war die Erinnerung an Gabrielles Antlitz verblasst. Von seiner Liebe zu ihr war nur das Wissen geblieben, dass sie wunderbar gewesen war.
Maria seufzte im Halbschlaf und schmiegte sich an seine Brust. Er hatte ihr nichts gesagt, aber was er getan hatte, war ein ebenso schwerwiegender Verrat an seiner Familie gewesen. Er fühlte sich schuldig und zugleich befreit. Die Perle des Fourier erwachte, und Roberto erzählte ihr ohne Umschweife von seiner Mission. Als er ihr mitteilte, dass er Albert verdächtigte, Godric End zu sein, hatte das nicht die erwarteten Einwände zur Folge. Sie sagte schlicht, dass sie von selbst nie auf den Gedanken gekommen wäre, es ihm aber durchaus zuzutrauen sei.
Während der folgenden Viertel, in denen Roberto darauf wartete, dass sein Onkel ihm das Urteil des hohen Rates verkündete, suchte er fast täglich Marias Gesellschaft. Er stellte ihr viele Fragen. Anfangs kehrte er jeden Abend zu seiner Unterkunft im Sturmveteran zurück, um nachzusehen, ob sein Mentor eine Nachricht auf dem Spiegel hinterlassen hatte. Als er zwei Viertel später immer noch nichts von ihm gehört hatte, verbrachte er die ein oder andere Nacht bei Maria. Die Angst vor dem Urteil und die Zuneigung zu der Sängerin füllten seinen Kopf aus. Die Ereignisse nach dem Massenausbruch aus Sankt Laplace schienen in einer anderen Welt zu passieren. Als Damon verkündete, dass niemand mehr Waffen bei sich tragen durfte, stand für Roberto fest, dass er sein Faschinenmesser behalten würde. Er klemmte es zwischen Matratze und Lattenrost seines Bettes.
Roberto wartete zwei weitere Viertel auf eine Nachricht, während derer er jeden Versuch seiner Spione, mit ihm Kontakt aufzunehmen, ignorierte. Dann fasste er einen Entschluss. Auf ein Blatt Papier schrieb er:
Geehrter Onkel. Ich sage mich von der Familie und der Mission los. Ich werde nicht nach Izzian zurückkehren. Ich werde den Albenspiegel sicher verwahren, bis ihn ein Familienmitglied bei mir abholt. Gehabt Euch wohl.
Roberto
Roberto heftete das Papier vor den Spiegel, wie er es zu tun pflegte, wenn er mit seinem Onkel eine Uhrzeit zum Berichterstatten vereinbarte. Dann steckte er den Spiegel in einen Sack und räumte seine Kleidertruhe aus, legte das Relikt auf den Boden der Truhe und häufte seine Kleidungsstücke darauf.
»Entschuldige, Mutter«, flüsterte er traurig und berührte dabei den versteinerten Seeigel, den er um seinen Hals trug. Als er im Anschluss die Taverne verließ, um Maria davon zu berichten, verspürte er Frieden.
»Du!«, rief in diesem Moment jemand auf der Promenade. Roberto wandte den Kopf und sah drei von Damons Gardisten. Einer von ihnen kam ihm vage bekannt vor. »Dich kenne ich!« Jetzt erkannte Roberto ihn auch. Es war der Mann, der ihm damals in der Taverne Zum Meeresgrund den Seeigel abgenommen hatte. Albert hatte ihm das Erinnerungsstück zurückgegeben. »Du hast etwas, das mir gehört.«