Читать книгу Dreizehn. Das Spiegelbild. Band 3: Roman (13. Dark Fantasy, Steampunk) - Carl Wilckens - Страница 14

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End

Ich stieg auf den Stapel Holzkisten am Ende der Gasse und kletterte auf eines der Dächer. Ich wollte nicht mehr hier sein, wenn Damons Gardisten auftauchten. Schüsse zogen sie an wie das Licht die Motten. Ich brachte mich auf das nächsthöhere Dach, sprang auf einen Balkon und schob mich über ein Gesims bis zur nächsten Hausecke. Von dort aus fehlte nur ein Schritt, um auf das angrenzende Dach zu gelangen. So bewegte ich mich vorwärts, bis ich den Hafen erreichte. Ich ließ mich mit Blick zum Meer am Ende eines breiten Dachfirstes nieder und nahm den nächtlichen Frieden in mich auf. Eine Zeit lang beobachtete ich das flackernde, blasse Licht der Gasleuchten. Dann sah ich zur Wasseroberfläche, in der sich zu tausenden die Sterne spiegelten. Ich ließ mich zurücksinken und richtete meinen Blick gen Himmel.

Emily war gestorben, aber vielleicht gab es die Möglichkeit, sie zurückzuholen. Die Bäume hatten mir nicht umsonst den Weg nach Treedsgow gewiesen. Ich fand nicht grundlos die fehlenden Seiten aus Williams Tagebuch. Aliona … Ich musste Roberto finden – er wüsste, wo die Hibridia waren – und wenn es irgendwie möglich war, musste ich noch einmal das Universitätsviertel betreten und mir diesen Raum im Keller ansehen. Wie viel Zeit war seit Emilys Tod vergangen? Ich erinnerte mich nicht mehr an das Datum der Tagebuchseite, wohl aber daran, dass William die Tränen zwei Viertel vor seinem Besuch in Sankt Laplace gefunden hatte. Also war es irgendwann Anfang Blätterfall 1713 geschehen. Vor sieben Monaten. Damals war ich noch auf der Swimming Island gewesen. Wieso hatte ich nichts bemerkt? Hätte nicht eine Erschütterung durch die Welt gehen müssen? Hätte nicht ein Unwetter astronomischen Ausmaßes die neun Weltmeere ins Chaos stürzen müssen?

Eine sommerliche Brise kam auf und betäubte mein Denken. Die Augen fielen mir zu, und ich glitt in einen angenehmen Dämmerschlaf. Ich träumte von Rocío. Wir warfen Steine auf eine Eisskulptur von Damon. Rocío lachte. Die Sorglosigkeit machte sie jünger. Ihre Schönheit glühte. Sie warf die Arme um meinen Hals und küsste mich. Dann lehnte sie ihre Stirn gegen meine und sagte mit ernster Stimme: »Ich denke, du könntest Frieden gebrauchen.« Eine böse Vorahnung beschlich mich. Es war eine solche, wie ich sie auf der Swimming Island verspürt hatte, wenn man versucht hatte, mich im Schlaf zu ermorden. Ich schlug die Augen auf, richtete mich auf und wandte mich um. Hinter mir auf dem Dachfirst stand jemand. Eine kleine Gestalt. Mit einem Satz war ich auf den Beinen. Ich zog eine meiner Pistolen und richtete sie auf den Unbekannten.

Die Gestalt hob die Hände. »Nicht schießen«, flüsterte sie. Es war eine Frau. Mein Blick durchbohrte die Dunkelheit, und ich erkannte sie. Sie hatte bei meiner Ankunft in Treedsgow meinen Mantel gestohlen. Später, als man mich nach meinem Streifzug durch das Universitätsviertel ins Gefängnis gesperrt hatte, hatte sie mir eine Botschaft von Waterstone überbracht. Sie war die Diebin mit den roten Locken und dieser merkwürdigen Fliegerbrille.

»Ich streife seit Tagen auf der Suche nach dir durch dieses Höllenloch, zu dem das Hafenviertel geworden ist. Wenn du mich jetzt erschießt, das schwöre ich dir, komme ich als Untote zurück und bringe dich um.«

Ich ließ die Pistole sinken. »Was willst du?«

»Waterstone will mit dir sprechen«, sagte sie. »Eigentlich schon, seitdem du in sein Labor eingebrochen bist. Ich soll dich zu ihm bringen.« Ich hätte damit rechnen müssen, dass Waterstone irgendwie versuchen würde, mit mir Kontakt aufzunehmen. Er hatte mich bloß deshalb ungeschoren davonkommen lassen, weil ich ihm bei seiner Formel geholfen hatte. Vermutlich auch, damit ich ihm bei anderen Dingen half.

Ich hob die Brauen. »Zu ihm? Ins Universitätsviertel? Und wie willst du an den Wachen vorbeikommen?«

Die Diebin lächelte. »Ich weiß schon, wie«, sagte sie. Gab es eine bessere Gelegenheit, um nach dem Kellerraum zu suchen, in dem William Emily gefunden hatte?

»Geh voraus«, sagte ich und schob meine Pistole zurück ins Holster. Wir kletterten vom Dach und tauchten in das Gewirr dunkler Gassen ein. Zwischen den Hauptstraßen glich Treedsgow einem Labyrinth, doch die Diebin schien sich bestens auszukennen.

»Wie hast du mich gefunden?«, fragte ich.

Die Diebin blies die Wangen auf und bedachte mich mit einem Blick, der zu sagen schien: Das war nicht leicht! »Alles, was ich hatte, waren dein Name und die Erinnerung daran, wie du aussiehst. Dass dein Bart offenbar schneller wächst als Unkraut, machte es nicht gerade leichter.« Sie hatte Recht. Ich hatte dringend eine Rasur nötig. »Um deine Frage zu beantworten: mit viel Geduld.« Wir gelangten in eine Sackgasse, an deren Ende ein Kanaldeckel in den Boden eingelassen war. Ich hob ihn heraus, und sie kletterte die aus der Schachtwand ragenden Eisensprossen hinab. Ich zwang mich, daran zu denken, dass dies nicht der Unterrumpf war, und folgte ihr in die Dunkelheit. Mit Ausnahme des Mondlichts, das durch die Schachtöffnung fiel, war es stockfinster. Es roch nach Fäkalien. Irgendwo vor mir hörte ich das Plätschern eines dahinfließenden Kanals.

»Wo bist du?«, fragte ich leise, während ich mit weit geöffneten Augen darauf wartete, etwas zu erkennen. Das ungute Gefühl, in eine Falle getappt zu sein, beschlich mich.

»Warte«, hörte ich sie in der Dunkelheit vor mir. »Ich habe hier eine Laterne versteckt.« Bald darauf hörte ich ein Klicken und das blasse Licht einer Gasleuchte erwachte zum Leben. Als sie sich zu mir umwandte, trafen sich unsere Blicke. Ihre Augen erinnerten mich an die eines Fuchses: bernsteinfarben mit geschlitzten Pupillen. Ob sie im Dunkeln sehen konnte?

»Was bist du?«, fragte ich unwillkürlich.

Sie bedachte mich mit einem finsteren Blick. »Man hat mir schon charmantere Fragen gestellt«, sagte sie pikiert. »Komm jetzt.«

Die Kanalisation von Treedsgow ähnelte gewissermaßen dem von Hauptstraßen geteilten Gassenlabyrinth an der Oberfläche: Es gab mehrere Hauptkanäle, zwischen denen jeweils ein Geflecht aus kleineren Kanälen, Tunneln und Zisternen gesponnen war. Darunter befand sich der Rattensumpf: ein Komplex aus Gängen, in dem das Etwas lebte.

Anfangs glaubte ich noch zu wissen, dass wir uns Richtung Universitätsviertel bewegten. Doch etwa dreißig Minuten später hatte ich vollkommen die Orientierung verloren. Mehrmals musste ich die in mir aufsteigende Panik niederringen, die der Unterrumpf mir vererbt hatte. Auch war da ein eigentümliches Gefühl, verfolgt zu werden. Des Öfteren kämpfte ich gegen das Verlangen an, mich umzudrehen, bis mir klar wurde, dass ich nicht durch die Spiegelwelt ging, in der ich Jasper verloren hatte.

»Wieso hat Waterstone mich überhaupt aus der Stadt werfen lassen, wenn er mit mir sprechen wollte?«, fragte ich, um mich abzulenken.

»Man hätte ihm niemals erlaubt, dich im Universitätsviertel zu behalten«, sagte die Diebin. »Du hast durch dein unbefugtes Eindringen ganz schön was losgetreten. Der Polizeichef hat die Torwächter verhört, aber keiner will es gewesen sein. Wir mussten warten, bis sich die Wogen glätten.«

»Und haben sie sich geglättet?«

Die Diebin duckte sich unter einem halb herabgesenkten Auffanggitter hindurch und zuckte die Achseln. »Nach dem Massenausbruch aus Sankt Laplace haben sie die Tore endgültig geschlossen. Niemand kann ein- oder ausgehen. Davon sind sie überzeugt.« Wir gelangten vor ein vollständig herabgesenktes Gitter. Die Diebin stellte die Lampe ab, steckte ihren Arm hindurch und las einen langen, dünnen Stab auf. Eine Zeit lang stocherte sie damit an einer Winde herum, die in einigen Schritten Entfernung aus der Kanalwand ragte. Schließlich klickte es, und die Winde fing an, sich zu drehen. Sie ließ den Stab fallen, zog den Arm zurück und das Gitter bewegte sich aufwärts.

»In der Winde ist eine Spiralfeder, die gespannt wird, wenn man das Tor herabzieht«, erklärte die Diebin. »Eines muss ich Waterstone lassen: Er ist schon ein heller Kopf. Sollte sich jemand hierher verirren, wird er gar nicht erst versuchen, den Schließmechanismus zu öffnen.« Wir gingen unter dem Gitter hindurch. Die Diebin trat vor die Winde und forderte mich auf, das Gitter herabzuziehen. Während ich es mit einem Fuß am Boden hielt, schob sie den Bolzen in den Schließmechanismus.

»Wir sind fast da«, verkündete sie nach einer Weile. Hinter der nächsten Biegung ragten rostige Sprossen aus der Wand, die in einen Schacht in der Kanaldecke führten. Die Diebin ließ mir den Vortritt.

»Wie heißt du überhaupt?«, fragte ich, während ich emporkletterte.

»June. Und du?«

»Das weißt du doch.«

»Ich meine deinen richtigen Namen«, entgegnete June.

»Du wirst dich mit Albert zufriedengeben müssen.« Ich schob den Kanaldeckel beiseite und erblickte den Himmel. Erleichterung durchströmte mich so intensiv, dass ich beinahe euphorisch wurde. Ich kletterte ins Freie und sog den Geruch der Nachtluft ein. Wie schon beim letzten Mal, als ich das Universitätsviertel betreten hatte, hatte ich den Eindruck, in einer anderen Stadt zu sein: Die Gebäude waren groß und alt, die Straßen breit und sauber und von elektrischen Straßenlaternen gesäumt.

»Wo sind wir?«, fragte ich, als June hinter mir ins Freie kletterte. Sie hatte ihre Fliegerbrille aufgesetzt und erinnerte an ein übergroßes Insekt.

»Beim Studentendorf Somerville ganz in der Nähe der Universität«, antwortete sie. Ich musterte sie und hob fragend die Brauen. June zog eine Grimasse. »Das elektrische Licht«, erklärte sie und nickte zu einer der Straßenlaternen. »Es schmerzt mir in den Augen. Waterstone hat diese Brille für mich gebaut.« Wir näherten uns dem Studentendorf. »Du wirst die Nacht hier verbringen. Morgen früh hole ich dich ab. Bleib bis dahin auf dem Zimmer. Wenn dich jemand sieht, wird er sofort die Polizei rufen.« Sobald wir den Eingang erreicht hatten, schloss June die Tür auf, führte mich in den ersten Stock und bis ans Ende eines Flurs. Dort öffnete sie eine weitere Tür, und wir betraten ein dunkles Zimmer. Leises Schnarchen wogte durch den Raum.

»Das ist Miel«, sagte June und deutete auf eine massige Gestalt in einem von zwei Betten. Sie trat zu ihm und berührte ihn an der Schulter. »Miel. Du wirst heute Nacht einen Gast haben.«

»Mmmmh«, machte Miel und schnarchte weiter.

»Er sieht fies aus …« (»Auch nicht gerade charmant«, bemerkte ich.) »… aber er ist ein Freund. Du darfst ihn nicht rauslassen, bevor ich wiederkomme.« Miel antwortete nicht. June wandte sich an mich. Sie trug die Brille wieder auf der Stirn und funkelte mich an. »Waterstones Enthusiasmus bezüglich deiner Person mag ihn blind machen für jedwedes Risiko. Aber ich warne dich: Wenn du Miel etwas antust, werde ich dich finden und töten!«

Ich erwiderte ihren Blick mit ungerührter Miene. »Dann bis morgen«, sagte ich. June bohrte ihren zornfunkelnden Blick einige Sekunden länger in meine Augen. Dann wandte sie sich ab und verließ den Raum. Ich zog meine Machete und wollte sie neben dem Bett in den Boden rammen, besann mich aber eines Besseren. Das hier war nicht das Zimmer im Rumpf einer Schiffstaverne. Wenn ich Ärger machte, war diese unverhoffte Gelegenheit, nach dem Kellerraum in der Universität zu suchen, genauso schnell vorbei, wie sie sich geboten hatte. Stattdessen reihte ich meine Waffen – Chemos Machete, zwei Pistolen und diverse Messer, die ich am ganzen Leib versteckt trug – neben dem Bett auf. Ich zog mir Hose und Hemd aus, öffnete ein Fenster und legte mich auf das zweite Bett. Die Matratze war hart, aber verglichen mit meinem Schlafplatz auf der Textilfabrik, wo mich nur wenige Schichten Decken vom Teerdach trennten, lag ich auf einer Wolke. Mir kam der Gedanke, noch in dieser Nacht nach dem Kellerraum in der Universität zu suchen, als mich der Schlaf überraschte.

Am nächsten Morgen weckte mich leises Schnaufen. Ich öffnete die Augen und sah Miel. Er saß auf seinem Bett, das sich unter seinem Gewicht durchbog, und aß einen Honigkuchen. Er sah aus wie eine Kugel mit Kopf, Armen und Beinen. Als ich mich aufrichtete, hob er den Blick. Alarmiert hielt er beim Kauen inne. Er stand auf, watschelte zur Tür und baute sich davor auf, ehe er zögerlich weiterkaute.

Ich stieg aus dem Bett und schlüpfte in meine Kleidung. Die Waffen ließ ich vorerst, wo sie waren. Ich würde auch ohne genug Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Ich trat vor Miel und bedeutete ihm mit einem Kopfnicken, aus dem Weg zu gehen.

Miel schluckte den Bissen hinunter. »June hat gesagt, ich darf dich nicht rauslassen«, sagte er. Es überraschte mich, dass er sich daran erinnerte.

»Aus dem Weg, oder ich hau dir aufs Maul«, sagte ich kühl. Aber der Dicke hatte mehr Mut, als ich ihm zugetraut hatte. Er holte einen Schlüssel aus seiner Hosentasche hervor und hielt ihn sich vor das Gesicht.

»Die Tür ist abgeschlossen«, sagte er mit zitternder Stimme. »Wenn du nur einen Schritt näher kommst, verschlucke ich den Schlüssel.« Ich musterte ihn irritiert. Miel musste klar sein, dass ich die Tür auftreten konnte. Ich ging auf ihn zu. Miel riss den Mund auf und hielt den Schlüssel in seine Mundhöhle. Dann verzog er das Gesicht und ließ die Hand sinken.

»Du stinkst«, maulte er. Ich hielt inne, wieder irritiert. Ich hatte mich das letzte Mal gewaschen, als ich noch im Fourier gewohnt hatte. Aber weder das Hafenvolk noch die Piraten auf der Swimming Island hatten sich jemals über meinen Körpergeruch beschwert. Die meisten von ihnen hatten schlimmer gestunken.

»Du kannst unser Bad benutzen«, sagte Miel. »Bis du fertig bist, ist June bestimmt zurück.«

»Einverstanden«, sagte ich mit ungläubiger Miene. Ich erwartete nicht, das Miel den Piratenkodex kannte, aber ihm musste klar sein, dass er ohne einen Handschlag oder Ähnliches nicht viel auf mein Wort geben konnte. Doch er schloss die Tür auf und trat hinaus in den Flur. Kopfschüttelnd folgte ich ihm aus dem Zimmer. Dieser Miel war zu gutgläubig. Aber vielleicht würde mir ein Bad ja ganz guttun. Der dicke Student brachte mich vor eine Tür, an der ein Schild mit dem Symbol einer Badewanne befestigt war. Sie führte in einen Raum mit einer großen, emaillierten Wanne. Daneben ragte ein Becken aus der Wand.

»Hier ist alles, was du brauchst«, sagte Miel. »Handtücher findest du im Schrank.« Ich sah Miel mit hochgezogenen Brauen an, während ich auf eine Erklärung dafür wartete, was offenkundig fehlte. Aber Miel musterte mich mit unschuldiger Miene.

»Was ist mit dem Wasser?«, fragte ich ungeduldig.

»Was meinst du?«, fragte Miel ehrlich überrascht. »Dreh einfach den Hahn auf.« Ich verbarg meine Ratlosigkeit hinter einem knappen Nicken, betrat das Badezimmer und schloss die Tür hinter mir. Dann sah ich, was Miel gemeint hatte. Über dem Becken und der Wanne befanden sich Armaturen: ein gebogenes Rohr mit je zwei Schraubgriffen. Ich trat vor das Becken und drehte an einem der Griffe. Fasziniert beobachtete ich, wie ein Strahl klaren Wassers aus dem Rohr strömte. Ich drehte den Hahn wieder zu und an dem anderen Griff. Zunächst bemerkte ich keinen Unterschied. Dann sah ich, dass Dampf den Wasserstrahl umspielte. Ich hielt meine Hand hinein und zuckte zurück. Das Wasser war kochend heiß. Ich lachte auf. Was für ein Luxus! Wer es sich im Hafen leisten konnte, hatte eine Toilette, die die Scheiße direkt in die Kanalisation und von dort aus ins Meer spülte. Aber eine Wasserversorgung mit heißem Wasser zum Waschen und Baden? Mit Begeisterung drehte ich an den Hähnen der Wanne, bis das Wasser eine angenehme Temperatur hatte. Dann zog ich mich aus und ließ mich langsam in die Wanne gleiten. Ich lehnte mich zurück, schloss die Augen und genoss das Gefühl der Wärme, die bis in mein Innerstes vordrang. Als ich die Augen wieder öffnete, war das Wasser schwarz. Ich zog den Stöpsel heraus, wartete, bis es abgelaufen war, und ließ neues einlaufen. Indessen bediente ich mich eines Stücks Seife und einer Bürste, um mich von oben bis unten abzuschrubben. Als ich die Wanne das dritte Mal füllte, blieb das Wasser klar. Sobald die Hitze unerträglich wurde, stieg ich heraus, trocknete mich ab und blickte an mir herab. Ein anderer Mensch war unter dem Schmutz zum Vorschein gekommen. Meine Haut duftete nach Seife, und ich fühlte mich mehrere Kilo leichter. Ich warf einen Blick auf meine Kleidung – ein Häufchen schmutziger Lumpen in einer Ecke des Raumes – und verspürte keine Lust, sie auch nur mit spitzen Fingern zu berühren. Nackt verließ ich das Bad und ging durch den leeren Flur zurück zu Miels Zimmer. Vielleicht konnten er oder June mir einen frischen Satz Kleider geben. Immerhin war es in Waterstones Interesse, dass ich nicht auffiel. Ich betrat den Raum, doch Miel war nicht mehr dort. Im Kleiderschrank neben dem Fenster fand ich diverse Kleidungsstücke, allerdings für jemanden, der kleiner und deutlich runder war als ich. Nachdem ich mehrere Dinge ausprobiert und hinter mir auf den Boden geworfen hatte, hörte ich Junes Stimme vor der Tür. Sie klang wütend.

»Er ist im Bad? Ich hatte ihm doch gesagt, er soll das Zimmer nicht verlassen!«

»Er wollte mir eine reinhauen«, verteidigte sich Miel. »Er hatte ein Bad ohnehin dringend nötig.«

Die Tür wurde geöffnet. »Es geht darum, dass …« June verstummte, als sie mich sah, und ihre bernsteinfarbenen Augen weiteten sich. Ich erwiderte ihren Blick mit unschuldiger Miene.

»Sind die für mich?«, fragte ich und deutete auf einen Satz frischer Kleidungsstücke und ein paar Schuhe, die sie auf dem Arm trug. June wurde rot. Sie warf die Kleidung auf Miels Bett, offenbar verärgert über sich selbst, und stürmte aus dem Zimmer. Miel hatte den Blick an die Decke geheftet und schien bewegungsunfähig geworden zu sein. Ich ging zu seinem Bett. Erst als ich in die Unterwäsche geschlüpft war, kehrte das Leben in ihn zurück.

»Du … wir wussten nicht, dass du schon …«, stammelte er, ohne mich dabei anzusehen. Ich beachtete ihn nicht, fächerte die Kleidungsstücke auf und betrachtete sie. Es musste sich um die Uniform der Universität handeln, waren es doch, von der Größe abgesehen, die gleichen Stücke, die Miel trug: eine leichte Chinohose, ein helles Baumwollhemd, ein schlichtes dunkles Sakko und eine Krawatte. Letztere ließ ich auf dem Bett liegen. Eine Krawatte konnte leicht als Einladung missverstanden werden, mich zu erwürgen.

Es klopfte an der Tür. Miel bat herein, und June betrat den Raum.

»Das nächste Mal bindest du dir ein Handtuch um!«, fauchte sie.

Ich lächelte spöttisch. »Du hast ja jetzt gelernt anzuklopfen.« June funkelte mich an und wandte sich an Miel, der vor ihrem Blick zurückwich.

»Hast du noch einen Hut für ihn?«, fragte sie schroff. Miel ging zu seinem Schrank und holte einen Filzhut mit breiter Krempe daraus hervor.

»Das ist ein Dorfles«, sagte er und reichte ihn mir. »Mein Vater hat ihn früher getragen, als er in Getana in Mode war.« Ich setzte ihn mir auf, und June musterte mich kritisch.

»Jetzt siehst du zwar aus wie ein Vaquero, aber so sieht man deine Ohren wenigstens nicht«, meinte sie. »Komm jetzt. Wir gehen in die Mensa und danach gleich zu Waterstone.«

»Frühstück«, sagte Miel erschrocken. Er watschelte zur Tür und war im nächsten Moment verschwunden. June blickte ihm kopfschüttelnd nach.

»Werden die Zimmer kontrolliert?«, fragte ich und nickte zu dem Arsenal an Waffen neben meinem Bett. June verneinte. Ich schob die Klingen und die beiden Pistolen mit dem Fuß unter das Bett. Nach kurzem Zögern fischte ich eines der Messer wieder hervor und band es mir um den Knöchel. June nahm es kommentarlos zur Kenntnis. Wir verließen das Studentendorf und begaben uns auf direktem Weg zur Mensa: einem quaderförmigen Gebäude mit mehreren Anbauten am Rande des Netzwerkes aus Werkstätten und Laboren hinter der Universität. Drinnen war es laut. Dutzende Studenten saßen an langen Tischen oder standen in der Schlange vor der Essensausgabe. Wir reihten uns ein und ließen uns anschließend mit einem Tablett an einem der Tische nieder. Keiner schien sich über Junes Aussehen zu wundern. Mir allerdings warf man neugierige Blicke zu. Ich aß mit großem Appetit und war fertig, bevor June die Hälfte ihrer Portion gegessen hatte.

»Mehr?«, fragte sie belustigt und schob mir ihren Teller zu. Ihr schien nicht entgangen zu sein, dass ich seit Längerem keine gewöhnliche Mahlzeit mehr zu mir genommen hatte. Ich fegte auch ihren Teller leer, dann erhoben wir uns vom Tisch.

»Siehst du Miel irgendwo?«, fragte June. Sie war mindestens einen Kopf kleiner als jeder andere im Saal und etwa zwei Köpfe kleiner als ich. Als sie sich auf die Zehenspitzen stellte, war das wohl eher eine symbolische Geste. »Waterstone wollte auch ihn sprechen.« Ich ließ den Blick schweifen und entdeckte den dicken Studenten am anderen Ende des Saals. Fast hätte ich ihn übersehen. Er stand mit dem Rücken zur Wand. Ein Student bohrte ihm den Finger in die Brust, zwei andere waren wie zufällig davor positioniert und verdeckten den Blick auf ihn.

»Ich hole ihn«, sagte ich, ließ mein Tablett stehen und durchquerte den Saal.

»W… Waterstone hat ziemlich klare Regeln«, stammelte Miel in dem Moment, als ich sie erreichte. »Wer sich zuerst anmeldet, bekommt einen Platz im Seminar.«

»Wir wissen, wie das läuft«, sagte der Student. »Ich mache dieselbe Arbeit für Hicks. Du kannst uns einfach oben auf die Liste setzen, Fettsack. Wenn du es nicht tust, streichen wir dich eben von der Liste für Hicks’ Seminar. So einfach ist das.«

»Aber ich habe mich schon vor Vierteln eingetragen«, rief Miel empört. Als ich zu ihm gehen wollte, versperrte mir einer der Studenten den Weg.

»Wir unterhalten uns gerade mit ihm«, sagte er. Ich musterte ihn. Er hatte sauber zur Seite gekämmtes Haar, abstehende Ohren und Pickel im Gesicht. Er konnte nicht viel jünger als Malcolm oder Clive sein – die beiden Chemiestudenten, die stets für gute Unterhaltung sorgten –, aber er wirkte wie ein unreifes Bürschchen. Sein Gesichtsausdruck, von dem er wohl glaubte, dass er lässig sei, tat sein Übriges.

Ich nahm den Dorfles vom Kopf und das Licht, das durch die Fenster hereinfiel, brachte die Narben zum Vorschein, die nicht von einem struppigen Bart verdeckt wurden.

»Aus dem Weg«, sagte ich kühl. Der Blick des Studenten wanderte von meinem rattenzerfressenen Ohr die blassen Linien quer in meinem Gesicht hinab bis zur Kerbe in meiner Unterlippe. Dann traf er den seines Kumpanen, ehe sie zur Seite traten. Ich ging zu Miel, ohne den Studenten, der ihn bedrohte, auch nur eines Blickes zu würdigen, und fasste ihn am Oberarm.

»Mitkommen«, sagte ich und zog ihn aus der Mangel. »Waterstone will dich sehen.«

»Das ist nicht gut«, stöhnte Miel, während wir uns auf der Suche nach June durch die Mensa drängten. »Das ist gar nicht gut.«

»Wovon redest du?«

»Thomas weiß jetzt, dass du für Waterstone arbeitest, und er wird Hicks davon berichten.«

»Und?«

»Hicks kann Waterstone nicht ausstehen«, erklärte Miel. »Er hält seine Arbeit für eine Verschwendung von Zeit und Geldern und verbreitet seine Meinung im Kollegium. Er hat beim Rektorat Beschwerde eingelegt, weil June für ihn arbeitet. Er meint, eine Lutin habe im Universitätsviertel nichts zu suchen.«

»Lutin?«

»So nennt man Menschen, die aussehen wie sie«, sagte Miel achselzuckend. »Jedenfalls durfte sie nur deshalb bleiben, weil sich die Lage im Hafenviertel drastisch verschlimmerte. Als die Mauer gebaut wurde, argumentierte Waterstone, dass er jemanden bräuchte, der für ihn außerhalb des Viertels Besorgungen macht.«

June war noch dort, wo ich sie zurückgelassen hatte. Während wir die Mensa verließen, berichtete Miel ihr von Thomas.

June sog scharf die Luft ein. »Ich dachte, Thomas und seine beiden Spießgesellen hätten heute Spätschicht in der Bibliothek«, sagte sie. »Wieso sind sie überhaupt schon auf?«

»Wahrscheinlich, um mir aufzulauern«, klagte Miel.

»Wir sollten uns beeilen. Sie sind vielleicht schon auf dem Weg zu Hicks.« Auf den Straßen zwischen den Laboren und Werkstätten herrschte bereits reges Treiben. Studenten auf dem Weg zum Schloss hasteten an uns vorbei. Hammerschläge und das Kratzen von Sägen und Feilen tönten über unsere Köpfe hinweg. Wir passierten eine Werkstatt, hinter deren Fenstern blaue Blitze flackerten – ich fühlte mich unweigerlich an Schwarzbergs Turm erinnert – und bogen in die Chemiestraße ein, wie ein kleines Schild an der Straßenecke verkündete. Gebäude mit meterhohen Schornsteinen reihten sich auf beiden Seiten aneinander. Grauweißer, brauner bis schwarzer Rauch vereinte sich über uns zu einer Wolke. Wir erreichten das Ende der Straße und bogen nach links ab. Nun kam mir die Gegend bekannt vor. Wir gelangten vor ein würfelförmiges Gebäude – Waterstones Labor –, und June klopfte an. Sekunden später öffnete Waterstone die Tür. Seine Augen funkelten, als er mich sah, und ein kaum sichtbares Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

»Irgendwelche Komplikationen?«, fragte er und trat beiseite, um uns einzulassen. Waterstones Labor war ein kleiner Raum, vollgestopft mit Werkbänken und Regalen. Sie waren überladen mit Messapparaturen, Werkzeugen, technischen Zeichnungen und Büchern. Eine riesige Tafel nahm eine ganze Wand für sich ein. Sie war ein Spiegelbild des Chaos, das in Waterstones Labor herrschte. Bei meinem ersten Besuch hier in tiefster Nacht war es mir nicht aufgefallen. Nun aber wunderte ich mich wie jemand, der solchen Wert auf einen mit der Wasserwaage gestutzten Schnurrbart legte, einen derart unaufgeräumten Arbeitsplatz haben konnte.

»Thomas Sellar und seine beiden Spießbrüder Boyd und Baldwin haben uns gesehen«, sagte June zähneknirschend. Waterstone schien deshalb nicht beunruhigt. Im Gegenteil: Das Funkeln in seinem Blick sowie das Lächeln unter seinem perfekt geraden Schnurrbart wurden noch deutlicher.

»Das ist kein Problem«, sagte er. Offenbar hatte er irgendein Ass gegen Hicks im Ärmel. Er ging zu seinem Schreibtisch, nahm einen Stapel Dokumente und reichte ihn Miel. »Du weißt, was zu tun ist.«

»Ja, Sir«, murmelte Miel. Während er das Labor verließ, wandte Waterstone sich mir zu. »Ich habe ziemlich lange da­rauf gewartet, mit dir zu sprechen.« Ich schwieg. »Zuallererst eine Frage: Wer hat dich damals geschickt, als du in mein Labor eingebrochen bist?«

»Niemand«, sagte ich wahrheitsgemäß.

Waterstone hob die Brauen. »Und was hattest du dann hier zu suchen?«

»Du hast etwas, das mir gehört«, sagte ich.

»Was soll das sein?«

»Eine kleine, schwarze Perle.«

Waterstone musterte mich scharf. »Woher weißt du davon?«

»Der Perlsüchtige …«

»Wer?«

»Der Mann, der die Tür eingetreten hat. Er ist ein Perlsüchtiger. Du besitzt irgendwo eine kleine, schwarze Kugel, habe ich Recht? Der Süchtige hat mich zu diesem Labor geführt.«

Waterstone strich sich über den Schnurrbart. »Interessant. Man hat ihn erschossen, als er vor einigen Vierteln wieder versuchte, ins Universitätsviertel zu gelangen. Aber woher wusste er, dass ich die Perle besitze?«

»Sie können sie spüren«, erwiderte ich.

»Du meinst, sie riechen sie?«, fragte Waterstone skeptisch.

Ich schüttelte den Kopf. »Sie können sie sehen.«

»Haben Sie nie die Geschichten von der Swimming Island gehört?«, mischte sich June in das Gespräch ein.

Waterstone warf ihr einen tadelnden Blick zu. »Ich befasse mich mit Wissenschaften, June, nicht mit Märchen. Wie dem auch sei«, fuhr er fort und wandte sich wieder mir zu. »An welcher Universität hast du gelernt?«

»An keiner«, sagte ich. Waterstone schwieg, als wartete er darauf, dass ich mit der Wahrheit herausrückte.

»Du willst mir doch nicht sagen, du hättest diese Berechnungen angestellt, ohne studiert zu haben«, sagte er schließlich. »Wie alt bist du?«

»Ähm … achtzehn … vielleicht?« Waterstone wechselte einen Blick mit June. »Ich wurde von einem Privatlehrer ausgebildet«, fügte ich hinzu. »Das ist aber schon ziemlich lange her.«

»Dir ist offenbar nicht klar, welcher Durchbruch mir dank deiner Hilfe gelungen ist«, sagte Waterstone. »Lass mich dir etwas zeigen.« Er durchquerte das Labor und enthüllte ein Objekt, das bislang unter einem Tuch verborgen gewesen war. Es ähnelte einer schwer gepanzerten Rüstung aus Messing mit einem Kopf, der geradewegs aus der Brust zu wachsen schien. Was der Gestalt an Beinlänge fehlte, machte sie mit Armen wett, die fast den Boden berührten. Ihre Schultern waren breit, die Hüfte schlank, sodass sein Torso an ein umgedrehtes Dreieck erinnerte. Ich trat näher. Rohrfedermanometer steckten an seiner Außenhülle. Mehrere Ablassventile ragten aus seinem Kopf.

»Es ist ein Golem«, erklärte Waterstone. »Ein mechanischer Arbeiter aus der Antike. Die Technologie der Segovia war der unseren um Längen voraus. Die Konstruktionselemente im Innern des Golems bestehen aus mikroskopisch kleinen Teilen. Es ist ein bislang ungelöstes Rätsel, wie die Segovia derart präzise fertigen konnten.« Ich ging einmal um den Golem herum und betrachtete ihn von allen Seiten. Er war etwa einen halben Kopf kleiner als ich. Zwischen den Panzerplatten aus Messing an seinen stämmigen Armen und Beinen entdeckte ich ein komplexes System aus Zahnrädern. An manchen Stellen ragten Rohre aus dem Panzer, die woanders wieder darin verschwanden. Entlang der Ränder waren Runen ins Metall graviert.

»Kannst du ihn einschalten?«

»Lass es mich dir zeigen«, sagte Waterstone. Er öffnete einen Schrank und holte eine kleine Aluminiumschachtel daraus hervor. Als er sie aufklappte, war mir, als fülle sich der Raum mit knisternder Energie. In meinem Innern kribbelte es. Die Aura schien auch Waterstone einige Herzschläge lang zu bannen. Er räusperte sich.

»Man hat bislang nur wenige Relikte der Segovia gefunden«, sagte er, »und niemandem ist es gelungen, sie zu reaktivieren. Es scheint, dass ihnen die Energiequelle fehlt. Man hat viel mit elektrischer Energie experimentiert. Erfolglos. Dann erhielt ich von einem der Banditen diesen Balitstein. Sollte sein ehemaliger Besitzer je erfahren, was er mir da für fünf Liberty verkauft hat, wird er mir vermutlich die Pest an den Hals wünschen. Denn wie sich herausstellte, ist der Stein die Quelle einer bislang unbekannten Form von Energie. Ich vermute, dass es sich um dieselbe Energie handelt, die in einigen Schriften der Segovia erwähnt wird. Sie nennen sie frei übersetzt Energie des Wesens. In Anlehnung an die Elektrizität nenne ich sie deshalb Entrizität– von entitas, das Wesen. Sie ähnelt der elektrischen Energie und ist doch ganz anders.« Er zog eine Schublade unter einer seiner Werkbänke hervor und nahm eine Glühbirne he­raus. Dann führte er sie und den Stein zusammen. Als sie nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren, erwachte das Glühlicht flimmernd zum Leben. Zunächst schien es, als flackere es willkürlich. Dann erkannte ich, dass sie stets dasselbe, wenngleich höchstkomplizierte Muster zeigte. »Du siehst: Die Energie kann ohne Leiter übertragen werden. Aber noch viel interessanter ist der zeitliche und sehr komplexe Spannungsverlauf, den der Stein liefert. Die Elektrotechnik behandelt Sachverhalte wie Dreiphasenwechselspannungen, die uns die Drehstromgeneratoren liefern. Aber ein derart merkwürdiges und unerklärliches Phänomen ist mir in meiner ganzen wissenschaftlichen Laufbahn nicht untergekommen. Als die Arbeiter in Minersfort in einem verschütteten Gebäude aus dem antiken Dustrien den Golem fanden, war ich mir sicher, dass ich ihn mit der Energie des Steins in Betrieb nehmen könnte. Aber ich irrte mich. Die entrische Energie, wie der Balitstein sie zur Verfügung stellt, kann nicht von dem Golem genutzt werden. Er benötigt eine gleichmäßige Stromzufuhr. Es scheint fast so, als hätte sich die Entrizität im Laufe der Jahrtausende verändert. Nach weiteren Experimenten fand ich heraus, dass entrischer Strom zwar über kurze Distanzen kontaktlos übertragen werden kann, aber noch besser von einer ganz bestimmten Legierung geleitet wird: Messing. Ich fing an, eine Schaltung zu konzipieren, um den Strom zu wandeln, stand jedoch vor einem mathematischen Ding der Unmöglichkeit. Und dann kommst du daher und schreibst die Lösung auf meine Tafel. Dank deiner Hilfe ist es mir gelungen, ein Modul zu bauen, das die Energie des Steins brauchbar macht.« Er ging zum Golem, öffnete eine Klappe in der Stirn und legte den Stein in eine dafür vorgesehene Halterung. In dem Moment, da er die Klappe zuschlug, erwachte die Maschine zum Leben. Die Zahnräder hinter der Brust des mechanischen Arbeiters begannen zu rotieren, die Nadeln der Manometer schlugen aus und Dampf zischte aus den Ablassventilen an seinem Kopf. Ich beobachtete den Golem gebannt.

»Was kann er?«, fragte ich.

»Nichts«, entgegnete Waterstone. »Er steht einfach im Leerlauf da. Aber irgendwie muss es möglich sein, ihm Befehle zu erteilen. Ich sollte vielleicht noch erwähnen, was mit den anderen Relikten passiert, sobald der Golem eingeschaltet ist.«

»Du hast noch andere Relikte?«

Waterstone nickte. »Ich legte meine Erkenntnisse dem Stadt­oberhaupt von Gravesend vor, und er ließ mir einige Relikte aus dem städtischen Museum zukommen.« Er führte mich zu einem Tisch, auf dem drei Kapseln in der Größe eines Fingerglieds lagen. An einem Ende blinkte eine gelbe Glühbirne, aus dem anderen wogte eine Wolke silberner Haare, als befänden sie sich unter Wasser. Eine der Kapseln war geöffnet und in ihrem Innern sah ich eine Konstruktion winziger, rasend schnell rotierender Zahnräder, Federn und Rohrleitungen.

»Sie schalten sich ein, sobald der Golem erwacht«, sagte Waterstone. Ich streckte eine Hand danach aus. Kaum, dass ich in die Reichweite der Haare kam, tasteten sie über meine Haut wie die Fühler eines außerirdischen Wesens. Offenbar fanden sie nicht, wonach sie suchten, denn schon nach wenigen Sekunden ließen sie von mir ab und trieben wieder ziellos durch die Luft.

»Was sind sie?«, fragte ich.

Waterstone zuckte die Achseln. »Es ist schwer zu sagen. Die wenigen Aufzeichnungen über die Technologie der Segovia, die es gibt, sind in Runenschrift verfasst. Ich konnte aus meinen dürftigen Übersetzungen und einigen Abbildungen schließen, dass diese Kapsel an der Außenseite des menschlichen Herzens angebracht wird. Was sie dort bewirken, weiß ich nicht. Aber angeblich erfolgt der Eingriff, indem man dem Patienten die Brust öffnet und die Kapsel danebenlegt. Den Rest erledigt sie selbst.«

»Probier es an einem Schwein«, schlug ich vor.

Waterstone schüttelte den Kopf. »Diese Technologie ist zu unerforscht. Die Segovia haben Dinge vollbracht, die sich unserem Verständnis entziehen. Wer weiß, was die Kapseln mit dem Schwein anstellen. Es könnte gefährlich werden.« June lachte.

»Nun, ich kann dir mit den Runen der Segovia nicht helfen«, sagte ich. Waterstone hatte mich wohl kaum hierher beordert, bloß um sich zu bedanken.

»Das habe ich auch nicht erwartet«, sagte der Professor. »Lass es mich dir kurz erklären. Ich habe zwar noch nicht einmal den Hauch einer Idee, wie man dem Golem Befehle erteilt. Doch es gibt genug andere Rätsel, die es zu lösen gilt. Ich habe das Innere des Golems untersucht und bin zu der Erkenntnis gelangt, dass sein Aufbau dem des menschlichen Körpers ähnelt. Er hat eine Stützstruktur aus Aluminium vergleichbar mit einem Skelett. Stahldrähte führen wie Sehnen von den Knochen zu helixförmigen Gebilden, die, wie ich vermute, als Muskeln fungieren. Die Frage ist nur, wie? Es scheint sich um nichts weiter als ein Konstrukt aus Kupfer-, Messing- und Zinkdrähten zu handeln. Aber irgendwie muss es sich kontrahieren können.« Eine Lektion aus meiner Kindheit in Sachen Anatomie blitzte in meiner Erinnerung auf. Jede noch so einfache Bewegung, und sei es nur ein Blinzeln, wurde durch einen Muskel generiert, der sich zusammenzog. Soweit konnte ich Water­stones Gedankengang folgen.

»Weißt du, wie ein Generator funktioniert?«, fragte Waterstone unvermittelt. Ich schüttelte den Kopf und horchte auf. Seit ich den Riemen eines der Generatoren im Whitehall Nord angeschnitten hatte, um dort einen Stromausfall herbeizuführen, fragte ich mich, wie sie arbeiteten. »Ich erkläre es mal ganz von vorne: Es sind Energiewandler. Sie machen aus mechanischer Energie, in diesem Falle einer Drehbewegung, elektrischen Strom. Ein Verbrennungsmotor zum Beispiel versetzt einen auf seiner Antriebswelle befindlichen Magneten in Drehung. Er rotiert zwischen Kupferspulen, die um ihn herum angeordnet sind, und generiert ein magnetisches Feld, das einen elektronischen Fluss in den Kupferdrähten erzeugt. So kann man von den Spulen elektrischen Strom abgreifen. Das Ganze funktioniert natürlich auch in umgekehrter Richtung: Fließt elektrische Energie durch die Kupferspulen, fängt der Magnet an zu rotieren.«

»Aber die Kontraktion der Muskeln des Golems ist keine Drehbewegung«, wandte ich ein.

»Ganz richtig«, sagte Waterstone. »Es handelt sich aber definitiv um einen Energiewandler. Auch der Muskel eines Lebewesens wandelt die im Körper gespeicherte chemische Energie in Bewegung um. Die Muskeln des Golems hingegen wandeln entrische Energie in mechanische um. Sie sind also meiner Theorie nach eine Kombination aus Generator und organischem Muskel. Nur wie ist das möglich? Wie kann etwas derart Komplexes aus einem simplen Konstrukt aus Kupfer-, Messing- und Zinkdrähten entstehen?« Waterstone machte eine Pause, wie um sich durch mein Schweigen bestätigen zu lassen, dass es sich um eine komplizierte Fragestellung handelte. »Meine Versuche mit entrischer Energie haben ergeben, dass sie die physikalischen Eigenschaften von Metallen und Legierungen verändern, solange sie sie durchströmen. Jedes auf andere Weise. Ich vermute, dass, wenn die Muskeln des Golems mit Entrizität versorgt werden, verschiedene Kraftfelder zwischen den Drähten entstehen und das Konstrukt sich schraubartig zusammenzieht.« Er deutete auf ein Plakat an der Wand, auf der die Handskizze einer Helixstruktur abgebildet war. Vektorpfeile spickten die Linien. »Wie du siehst, habe ich mir viele Gedanken gemacht über die möglichen Kombinationen aus entromagnetischen Kraftfeldern. Zunächst habe ich geglaubt, sie müssten symmetrisch sein. Aber inzwischen halte ich auch asymmetrische Anordnungen für möglich, was bedeuten würde, dass der Kraftfluss im Inneren des Golems den im Menschen an Komplexität um Längen übertrifft. Stell dir das einmal vor! Ein von Menschen geschaffener Android verspottet die Schöpfung Zuris, indem seine Anatomie die ihres eigenen Schöpfers in den Schatten stellt.« In seinen Augen funkelte der Schalk. »Ich habe versucht, die möglichen Kombinationen aus Kraftfeldern mathematisch zu beschreiben.« Waterstone deutete auf ein weiteres Plakat, das neben dem ersten hing. Es war von oben bis unten mit Formeln gefüllt. »Leider komme ich zu keinem sinnvollen Ergebnis.« Er sah zu mir. »Jetzt du.« Ich starrte auf die Plakate. Mehrere Minuten schlichen in absoluter Stille dahin, während derer ich nur eines ganz deutlich verstand: Nämlich, dass ich nichts von dem begriff, was Waterstone aufgeschrieben hatte.

In diesem Moment klopfte es an der Tür. »Das ist gewiss Hicks«, sagte Waterstone alarmiert. »Versteck den Golem, June. Wenn er erfährt, vor welch weltbewegendem Durchbruch ich stehe, wird er versuchen, mir die Arbeit wegzunehmen.« June öffnete die Stirnklappe des Golems und nahm den Stein heraus, legte ihn zurück in die Aluminiumschachtel und verbarg sie in einem der Schränke. Anschließend warf sie die Decke über den mechanischen Arbeiter und öffnete die Tür. Auf der anderen Seite stand ein Mann mit dickem Bauch und Halbglatze. Seine Wangen hingen herab und waren durchzogen von einem Netz feiner Äderchen. Zwei Polizisten stärkten seinen Rücken.

»Waterstone«, sagte er und betrat das Labor, ohne June auch nur eines Blickes zu würdigen. Er sah zu mir und in seiner Miene spiegelte sich Triumph.

»Guten Morgen, Professor Hicks«, sagte Waterstone freundlich und fügte in sarkastischem Tonfall hinzu: »Kommen Sie doch herein.«

»Ich nehme an, das ist der Schläger, den Sie engagiert haben?«, fragte Hicks und nickte zu mir.

»Ja und nein«, sagte Waterstone unverwandt lächelnd. »Er ist mein neuer Assistent.«

»Verzeihen Sie, Mister Waterstone«, sagte einer der Polizisten, die hinter Hicks das Labor betraten, »aber ohne Aufenthaltsgenehmigung muss dieser Mann das Universitätsviertel umgehend verlassen.«

»Er hat das Recht, hier zu sein«, sagte Waterstone, »und ich bin mir sicher, mein werter Kollege wird Ihnen das gleich bestätigen. Dieser Schläger …« Waterstone setzte das Wort mit seinen Fingern in Anführungszeichen. »… ist ein mathematisches Genie.«

»Der da?«, fragte Hicks ungläubig. »Der hat doch nie eine Universität von innen gesehen.«

»Sie werden überrascht sein.« Watersone nickte mir zu, als wolle er mir das Zeichen geben loszulegen.

Ich räusperte mich. »Ich … ähm, habe keine Ahnung.« Plötzlich fühlte ich mich an jene seltenen Male erinnert, da mein ehemaliger Lehrer Rico Fonti mir eine Frage gestellt hatte, auf die ich keine Antwort wusste.

Waterstone sah mich entgeistert an. »Du hast beim letzten Mal binnen weniger Minuten ein Problem gelöst, an dem ich viertellang verzweifelt bin«, sagte er. »Hast du nicht einmal einen Ansatz?«

»Es … war ein Geistesblitz«, sagte ich schulterzuckend. »Es ist Jahre her, dass ich mich tiefgehend mit Mathematik beschäftigt habe. Vielleicht, wenn ich mehr Zeit hätte …«

»Genug von dem Unfug!« Hicks wirkte erbost, doch wieder sah ich das Funkeln in seinen Augen. Er war weniger empört, als daran interessiert, Waterstone eine Lektion zu erteilen. »Schafft ihn raus!«

»Ich kann selber gehen«, knurrte ich, als die Polizisten mich bei den Oberarmen fassen wollten. Ich sah zu June. »Meine Werkzeuge«, sagte ich bloß. Die Lutin nickte. Sie hatte offenbar begriffen, dass ich damit meine Waffen meinte.

Die Polizisten brachten mich zum Tor und durch eine Seitentür auf die andere Seite der Mauer, durch die ich vor etwa einem Monat das Universitätsviertel zum ersten Mal betreten hatte. Der Wachmann namens Abe, der mir und Malcolm damals gestattet hatte, Clive nach Hause zu tragen, stand dort. Hatte ich erwähnt, dass er eine riesige Nase hat? Er hatte mich passieren lassen unter der Bedingung, dass ich das Universitätsviertel auf schnellstem Wege wieder verließ. Noch in derselben Nacht hatte man mich in Waterstones Labor verhaftet, gleich nachdem ich sein mathematisches Problem gelöst hatte.

Als Abe mich sah, weiteten sich seine Augen. Dann presste er die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und öffnete kommentarlos die Tür zur anderen Seite der Mauer. Vermutlich hätte er mich am liebsten beschimpft. Doch dann wäre jedem, der ihn hörte, klar gewesen, dass er mein Eindringen zu verschulden gehabt hatte. Die Polizisten verlangten von mir, mich auf zehn Schritte von der Mauer zu entfernen, und verschlossen die Tür hinter mir. Ich setzte mich in einen Hauseingang und wartete mit nervös zuckendem Bein darauf, dass June mit meinen Waffen käme. Sie ließ nicht lange auf sich warten, trat wenig später durch die Tür und reichte mir einen Beutel.

»Waterstone wird auf offiziellem Wege versuchen, dir Zutritt zu verschaffen«, sagte sie. »Hicks war nicht gerade erfreut, dass Waterstone dich durch die Kanalisation hat einschleusen lassen.«

»Wussten sie, dass es einen Weg hinein gibt?«

June nickte. »Sie haben es bislang toleriert, nicht zuletzt, weil ich nicht nur für Waterstone Besorgungen mache. Aber noch einmal dürfen wir uns das nicht erlauben. Wie dem auch sei. Falls man dir Zutritt gewährt, werde ich dich finden. Ich mache mir allerdings keine großen Hoffnungen.« Wir verabschiedeten uns, und ich machte mich auf den Weg zum Hafen. Hinter mir hörte ich June fauchen: »Soll das ein Witz sein, Abe? Du weißt genau, dass ich einen Passierschein habe.«

Ich holte die Waffen aus dem Beutel und versteckte sie an meinem Leib. Ich hätte wohl auch mein Gesicht verbergen sollen, lief ich doch Gefahr, erkannt zu werden. Doch war die Begegnung mit Damon und seinen Gardisten knapp zwei Monate her. Ich bezweifelte, dass sie mich wiedererkennen würden, zumal sie mich für tot hielten. Die Einzige, die wusste, dass ich lebte, war Rocío, und wie es schien, hatte Damon es sich mit ihr verscherzt. Sie würde mich nicht verraten. Ich dachte an den Kuss, den sie mir gegeben hatte. Sie musste tatsächlich mehr gesehen haben als meine bloße Erscheinung, überlegte ich, während ich mir über den Bart strich. Er war fast doppelt so lang und mindestens ebenso struppig wie bei meiner Ankunft in Treedsgow. Außerdem musste sie über einen gestörten Geruchssinn verfügen.

Im Hafen kaufte ich bei einer Straßenbude Tabak und Papier, zündete mir eine Zigarette an und ließ mich an der Kaimauer nieder, die Füße über dem Wasser baumelnd. Ich fing an, mich mit der Machete zu rasieren. Wurde Zeit, dass ich den Mann zurückließ, zu dem ich während der letzten Viertel geworden war. Vielleicht würde es mir ganz gut tun, mich mal wieder unter Menschen zu mischen, überlegte ich, während ich an meiner Zigarette zog, den Rauch ausstieß und auf meinen Schoß aschte, ohne den Stängel aus dem Mund zu nehmen. Wenn Amrei immer noch im Fourier spielte, konnte ich vielleicht wieder mein Zimmer beziehen.

Als ich die Gaststätte betrat, musterte Haakon, ihr Besitzer, mich, als wäre ich ein Geist.

»Ich hatte dich mittlerweile für tot gehalten«, sagte er und reichte mir die Hand. »Es tut gut, dich wiederzusehen.«

»Ich bin eine Zeit lang in Minersfort untergekommen«, log ich. »Ich hatte gehofft, die Lage hätte sich in der Zwischenzeit beruhigt.«

»Es ist eher noch schlimmer geworden«, sagte Haakon. »Irgendwelche Neuigkeiten von Amrei?«

»Was meinst du?«

Haakon machte ein finsteres Gesicht. »Sie ist verschwunden. Schon vor einigen Vierteln.« Ich erinnerte mich, dass ihr Hund Dexter mir nach Dereks Hinrichtung über den Weg gelaufen war. War Amrei mit ihm unterwegs gewesen? Aber Dexter hatte mich zur Taverne geführt. Er hatte mir etwas zeigen wollen.

»Ich wusste nichts davon«, sagte ich. Ehrliches Bedauern lag in meinen Worten.

Haakon ballte die Hände zu Fäusten. »Es ist eine Schande!« Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, wie um die Bitterkeit aus seinen Zügen zu wischen, und fügte hinzu: »Ich habe außerdem eine Nachricht von einem Freund von dir.«

»Ein Freund?« Wer konnte das sein? Ich hatte keine Freunde.

»Ein Izzianer.«

»War sein Name Roberto?«

Haakon schüttelte den Kopf. »Er stellte sich als Jasper vor.« Bei der Erwähnung des Namens kehrten schmerzhafte Erinnerungen zu mir zurück. Jasper, der in den magischen Spiegel trat, um mich zu retten. Wie er zwischen den Reihen der Schattengestalten verschwand. Warum hatte Roberto sich ausgerechnet unter seinem Namen vorgestellt? Ich bewahrte eine unbewegte Miene. »Er sagte, er wolle dich treffen. Er würde in der Taverne Zum Haifischzahn auf dich warten. Das ist allerdings schon eine Weile her.«

»Wo ist diese Taverne?« Haakon beschrieb mit knappen Worten den Weg. Ich verließ das Fourier und machte mich als erstes auf zum Schiff von Amreis Vater. Vielleicht fand ich einen Hinweis auf ihren Verbleib. Als ich den Bootssteg erreichte, trat Dexter aus einer schmalen Gasse auf die Promenade. Ich hätte ihn fast nicht wiedererkannt. Sein Fell war schmutzig und verfilzt, sein Leib abgemagert. Offenbar lebte er nun auf der Straße, blieb aber in der Nähe seines früheren Zuhauses. Er blieb einige Schritt von mir entfernt stehen. Schnüffelte. Dann bellte er und eilte voraus auf den Steg Richtung Taverne. Ich folgte ihm und stieg auf das Deck der Fleute, ohne mich darum zu scheren, ob mich jemand sah. Dexter folgte mir über einen Stapel Kisten. Ich betrat das Schiffsinnere mithilfe meiner Dietriche. In Amreis Kammer angelangt eilte Dexter an mir vorbei und rannte zur Tür, die ins Zimmer mit dem Spiegelschrank führte. Er fing an zu winseln und daran zu kratzen. Ich machte mir erst gar nicht die Mühe, nach dem Schlüssel zu suchen, und setzte abermals meine Dietriche ein. Ein mulmiges Gefühl beschlich mich. War Amrei dort drin? Und falls ja, lebte sie noch? Das Schloss klickte. Ich ließ die Dietriche wieder in meiner Tasche verschwinden und drückte die Klinke herunter. Kaum hatte ich die Tür einen Spalt breit geöffnet, steckte Dexter seine Schnauze hinein und zwängte sich hindurch. Ich ließ den Blick durch den Raum schweifen. Zuerst bemerkte ich ein Buch, das aufgeschlagen auf dem mottenzerfressenen Teppich lag. Daneben stand das mit Wasser gefüllte Glas, in dem drei goldene Kugeln schwebten. Es sah so aus, als hätte Amrei in den letzten Minuten ihrer Existenz gelesen, und sich dann einfach in Luft aufgelöst. Ich hob das Glas auf und betrachtete die biolumineszierenden Gebilde. Sie hatten eine geradezu hypnotische Wirkung. Dexter winselte erneut. Ich hob den Blick und ließ das Glas in meine Hosentasche gleiten. Der Hund hockte mit angelegten Ohren vor dem Schrank. War Amrei darin? Oder war das eine Falle?

»Du verarschst mich doch nicht, Junge«, sagte ich. Dexter sah zu mir auf. In seinen Augen spiegelten sich Verzweiflung und Unschuld. Ich schloss die Finger um den Knauf. Würde ich nun Amreis halb verweste Leiche finden? Aber nein, kein Verwesungsgeruch lag in der Luft, und mein Herzschlag beruhigte sich. Ich zog die Schranktür auf und sah …

Nichts.

Nur mich und Dexter im Spiegel. Dexter fing an zu bellen. Mein Spiegelbild hingegen schien sich ausnahmsweise normal zu verhalten. Dann bemerkte ich, dass das Abbild des Hundes sich nicht rührte. Während der echte Hund immer lauter und schneller bellte, saß sein Abbild ruhig da und beobachtete sein Gegenüber aus klugen Augen. Jäh wandte es den Kopf und sah zu mir. Seine Pupillen erglühten in dämonischem Violett. Ich schlug die Schranktür zu. Eilte aus dem Zimmer, Dexter mir dicht auf den Fersen, und verkeilte die Tür mit einem Stuhl. Als ich vor der Tür zum Deck stand, hörte ich die Stimme von Amreis Vater Alen.

»Wer hat dich denn hier reingelassen?«, lallte er. Offenbar war er betrunken. »Hau ab, du Köter. Einen so miesen Wachhund wie dich brauch ich nich.« Ich trat durch die Tür hinaus aufs Deck.

Dreizehn. Das Spiegelbild. Band 3: Roman (13. Dark Fantasy, Steampunk)

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