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GLÜCKLICHE TAGE

Sonntags, während Ella das Mittagessen vorbereitete, gingen wir oft schon früh morgens im Wald spazieren. Nach einem üppigen Mahl folgte meist die Genuss-Zigarre. Martin liebte die Klassiker. Opa hatte sie ihm nähergebracht. Er legte eine Schallplatte, Friedrich Smetanas Die Moldau, für uns auf. Martin saß mit geschlossenen Augen im Sessel. Kaum sichtbar, war er eingehüllt in Rauchschwaden seiner dominikanischen Tabakwolke. Er dirigierte voller Inbrunst mit imaginärem Taktstock à la Karajan die Melodie, erklärte uns seine Vorstellung, wie aus einem kleinen plätschernden Rinnsal, das durch Täler mäandert, ein reißender, wilder Fluss wurde. Ella saß dann zufrieden lächelnd, die Melodie summend, auf seiner Sessellehne, hatte ihren Arm um seinen Hals geschlungen und wirkte glücklich.

Wir taten es ihnen gleich, saßen dicht nebeneinander händehaltend auf der Couch und stiegen in die musikalische Vorstellung gedanklich ein. Durch dieses Ritual wurde uns die klassische Musik immer vertrauter. Wir machten dann eine Art Wunschkonzert. Jeder durfte sich zwei Stücke wünschen.

Alexander liebte Mozart und den Bolero von Ravel. Ich begeisterte mich für die Klaviersonate No. 1 von Tschaikowski. Ella liebte den Rosenkavalier. Alle zusammen liebten wir den Papageno aus der Zauberflöte. Und so variierte unser Repertoire im Laufe der Zeit.

Aber wenn dann abends Paulchen Kuhn oder James Last die Bretter der Fernsehbühne betraten, war Martin nicht mehr zu bremsen. Schnell wurden die Möbel gerückt, um einer Tanzfläche zu weichen.

Martin, körperlich wie elektrisiert, eilte zum Fernseher und sprudelte: „Paul, leg noch mal den Riemen auf die Orgel“, stellte die Lautstärke höher, dass die Tassen in der Vitrine hüpften, und forderte Ella zum Tanz auf: „Komm, Häschen, wir legen noch mal ‘ne flotte Sohle aufs Parkett!“

Und dann ging die Party erst richtig los. Ausgelassen kickten wir Kinder die Schuhe durch die Luft und tanzten barfuß bis zur Erschöpfung. Wir wurden süchtig nach diesen Einlagen der Ausgelassenheit. Kichernd machten wir uns zum Schlafen fertig.

Freizügig und nackt ging es bei uns zu. Martin begann sein allabendliches Zu-Bettgeh-Ritual. Samstags war es besonders bemerkenswert. Er zog seinen Anzug, Krawatte und Hemd aus und legte alles fein säuberlich in genau dieser Reihenfolge über einen Stuhl, löste die elastischen Strumpfbandhalter von den Kniestrümpfen und stellte seine hochglanzpolierten Schuhe fein säuberlich daneben. Nackt lief er tänzelnd ins Schlafzimmer. Er holte seinen dunkelblau gestreiften Pyjama unterm Kopfkissen hervor und kam zurück ins Wohnzimmer. Die endorphingeschwängerte Atmosphäre stieg steil wie eine Fieberkurve nach oben. Wir beobachteten, wie sich Martin strahlend und grinsend vor Ella aufstellte. Schwungvoll drehte er seine Hüfte von links nach rechts, schlenkerte mit seinem Schniedelwutz hin und her. Während der Schniedel auf seinen Oberschenkeln klatschte, meinte er lachend: „Jetzt geht der kleine Bösewicht Heia machen oder sollte er noch eine Runde drehen?“

Ella lachte empört. „Deine Showeinlagen sind unmöglich, weißt du das?“ Sie ging verschämt aus dem Wohnzimmer, um ihrerseits die entsprechend schwarzrot berüschte Garnitur rauszuholen. Ella liebte diese Aufmerksamkeit. Hoffnung stellte sich wieder ein.

Wir haben sie nie live und in Farbe in diesem Aufzug gesehen, aber wundersam kam es uns schon vor, wenn sie die Sachen im Wohnzimmer drapierten. Die Garnitur bestand aus hochhackigen roten Pumps, sie nannte sie Bettschuhe, und einem Hauch von zarttülligem schwarzem Nichts, es diente wohl als Nachthemd. Einmal bemerkten wir bei einer unserer heimlichen Betrachtungen dieser Wäsche in Ellas Abwesenheit, dass der dazu passende Slip auch noch einen Schlitz hatte. Wir rätselten! Wahrscheinlich war der zum bequemen Pipimachen! Wir versuchten, uns Ella in diesem Aufzug vorzustellen. Dabei kugelten wir uns vor Lachen, beschlossen, dass es ein Karnevalskostüm sein musste. Wir fanden diese Artikel urkomisch, hätten uns vor Lachen wegschmeißen können.

Oft legte Martin sein schwarzes Haarnetz über die Haare, zog das Gummiband straff am Hinterkopf zusammen. Im Zeitlupentempo und mit wackelndem Po streifte er seinen Pyjama über. Für uns sah er aus wie ein gestrandeter Pirat in Nadelstreifen. An diesen Abenden wurden wir von beiden ins Bett gebracht, geküsst und geherzt. Nach dem Gute-Nacht-Gebet mit Ella machte mir auch der Ruf des Kuckucks, oder war es eine Eule, nichts mehr aus. Alles war gut.

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