Читать книгу Könnte schreien - Carola Clever - Страница 19
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Das Jahr, das diese schrecklichen Veränderungen gebracht hatte, war vorbei. Alexander kam wieder nach Hause. Gott sei Dank! Martin hatte seinen geliebten Führerschein wieder. Ella hielt in gewohnter Form den Haushalt und die Familie aufrecht. Aber dann nahte die nächste größere Veränderung.
Die Eltern hatten ein neues freistehendes Einfamilienhaus gekauft. Martin war jetzt im gesamten Bundesgebiet erfolgreich tätig. Sie zogen um, von Düsseldorf nach Bonn, an den Fuß des Venusbergs, ein Ortsteil und bewaldeter Hügel. Martin lachte innerlich, fand den Namen Venusberg treffend und ganz nach seinem Geschmack. Ella bestand beim Umzug auf einigen Pflanzen aus dem Garten. Natürlich auch auf den Mönchspfeffer, der bereits eine beträchtliche Höhe hatte, was bei Martin auf völliges Unverständnis stieß. Ella wollte, dass die gewohnte tägliche Müsli-Fütterung blieb. Martins Libido musste gestutzt werden, wusste sie doch, dass bei Naturheilmitteln die Wirkung etwas länger dauerte als bei Chemiekeulen. Ella war traurig, wir Kinder auch. Unsere liebgewonnenen Freunde, das Umfeld, das Haus und die Familie zu verlassen, belegte die Aufbruchsstimmung mit einer körperlich fühlbaren depressiven Schwerfälligkeit. Gleichzeitig spürten wir auch diese innere Neugier: eine gewisse Erwartung auf all das Neue. Nur Martin schien bester Dinge zu sein. Ich wechselte von der Grundschule zum Gymnasium. Unter meinen neuen Mitschülerinnen waren Carmen und Anna, die meine engsten Freundinnen wurden. Zusammen mit Gabi und Emma, die ebenfalls zum Gymnasium wechselten, wurden wir ein genialer Club. Die Mütter hatten sich ebenfalls angefreundet. Wir legten mit unserem täglichen Beisammensein die Basis einer langjährigen fruchtbaren Freundschaft.
Viele Jahre hatte ich Angst vor Dunkelheit, aber seit Alex im Internat war, musste ich das unangenehme Gefühl allein bekämpfen. Auch beim Umzug ins neue eigene Zimmer unterdrückte ich diese aufsteigende beklemmende Enge im Hals und in der Brust. Nur mit Licht schlief ich ein. Meine körperlichen Ausdehnungen wurden ab dem fünfzehnten Lebensjahr sichtbar. Das Schamhaar wuchs. Es offenbarte sich ein aprikosenförmiger und ebenso großer Brustumfang. Die schwerwiegende Oberweite von Ella sollte mir erspart bleiben. Die Periode hatte ebenfalls eingesetzt. Entsetzt kam ich eines Nachmittags mit blutverschmiertem Rock aus der Schule. Schon auf dem Heimweg wunderte es mich, wieso einige Leute tuschelten, verstohlenen Blickes mit dem Finger auf mich zeigten. Ich hatte ungewohnte Bauchschmerzen, bemerkte ein Ziehen im Unterbauch, das sich wie ein angespanntes Gummiband in Richtung Erde zog. Ellas sexuelle Aufklärung beschränkte sich auf wenige Worte und Minuten. In der Küche meinte sie beim Mittagessen: „Nun, meine Kleine, jetzt wirst du langsam erwachsen. Jeden Monat wirst du jetzt bluten. Du kannst jetzt auch Kinder bekommen. Sei bloß vorsichtig, wen du in deine Muschi lässt. Halte sie sauber. Wenn du achtsam und enthaltsam bist, ein jungfräuliches Verhalten an den Tag legst, kannst du Kaiser und Könige haben. Sonst erlebst du, wenn Männer die Reihenfolge verändern. Dann kommen Kamele vor den Frauen.“
Stumm wie eine Mumie saß ich am Tisch, hörte zu, verstand nichts. In meinem Zimmer schlug ich die Bravo auf. Hier gab es Wichtiges zu diesem Thema zu lesen. Anschließend ließ ich mich an meinem Frust- und Fragebuch aus.
14. September. Ich hätte ja noch so viele Fragen zu diesem Thema, aber ich kann mit Ella nicht darüber sprechen. Spüre, sie ist nicht zugänglich für das Thema. Vielleicht ist es ihr unangenehm?
Warum ist sie so distanziert? Nicht nur bei diesem Thema. Sind Männer denn wirklich alle so schlecht, kommunikationsunfähig, limitiert witzig, machtbesessen, blind, taub, gewalttätig. Ich meine, wenn das alles stimmt, was sie sagt, dann wird mir himmelangst. Wie soll ich da meinen Prinzen finden?
Ich könnte schreien!
Fand ja heute den Spruch von Anita heiß. Die ist ja derart eloquent, witzig, unglaublich spritzig. Sie kann Martin und einige andere männliche Exemplare leiden wie Leprapocken. Liebe ihre Vergleiche.
Ich kaute am Bleistift, schloss die Augen und überlegte, was Anita genau gesagt hatte. Dann notierte ich: Also, Ella, dir ist doch wohl klar, dass Martin oder die anderen Typen ebenso wenig kommunikationsfähig oder witzig sein können, wie man beim Aufkleber einer Shampoo-Flasche die hohe Kunst der Weltliteratur erwarten kann. Ich fand Anita klasse. Wie eine Bohnenstange hatte ich einen ordentlichen Schuss getan, in wenigen Monaten gleich mehrere Zentimeter zugelegt. Im Verhältnis zur Körpergröße schienen meine Füße doppelt so schnell zu wachsen. Morgens fragte ich meinen Spiegel: „Bin ich Fisch oder Fleisch? Könnte ich beides sein?“ Ich musterte mich kritisch: „Schrecklich, finde mich körperlich wirklich abstoßend.“ Mit der Zeit wurde es schlimmer. An der Bushaltestelle auf dem Heimweg presste ich mit aller Kraft meine speckigen Lippen zusammen. Sie sollten verdammt noch mal nach innen wachsen. Ich wollte unter keinen Umständen aussehen wie Martin, ekelte mich vor seinen überhandnehmenden, schwammigen Küssen. Wenn ich mir irgendetwas wünschte – Lackschuhe, Schultasche, neuer Füller –, kaufte er es nur unter der Prämisse, dass die Rückzahlung in Form von Küssen geschah. Die Anzahl der Küsse legte er vorher je nach Preis des Artikels fest.
Könnte kotzen und schreien!
Außerdem beunruhigte mich die steigende Zahl der Männer in meinem Umfeld, jung wie alt, die mir beim Sprechen ausschließlich auf den Mund schauten. Als wenn der Rest meiner Person nicht existierte. Eine für mich beunruhigende Wahrnehmung.
Eine traurige Nachricht erreichte die Familie. Otto war an Lungenkrebs gestorben! Keiner aus der Familie nahm an der Beerdigung in Kalifornien teil. Martin und Frieda hatten Angst vorm Fliegen.
Sie fanden das Element Luft, die störenden Luftlöcher während des Fluges, unerträglich. Beide verkündeten:
„Fliegen ist für den Menschen gefährlich und schädlich, auch wegen der unablässigen Strahlung.“ Ella meinte: „Außerdem hätte uns der liebe Gott Flügel und Federn gegeben, wenn das unser Element wäre.“ Aus Angst waren sich alle einig. Außerdem lief es gerade für Martin wirtschaftlich hervorragend. Diese Geschäfte wollte er sich nicht entgehen lassen, auch, weil er gerade bei seinen Kollegen mit den Verkaufszahlen auf der Überholspur war. Eine Gelegenheit, auf die er schon lange gewartet hatte. Da passte eine Beerdigung nun gar nicht rein. Beim ersten Telefonat mit Irena, die wissen wollte, wann alle kämen, druckste er herum. Beim zweiten Anruf entschied er plötzlich, dass es für Frieda zu anstrengend sei. Dann fügte er noch Ellas Flugangst hinzu. Um die Ausrede zu perfektionieren, informierte er sie, dass ich in der Schule mitten in Prüfungen war, Alexander gerade seine Ausbildung begonnen hatte. Er sagte für alle die Teilnahme an der Trauerfeier ab. Seine Entscheidung nahmen Irena und Schwägerin Barbara Martin sehr übel. Die Beisetzung erfolgte im kleinsten Kreis.