Читать книгу Könnte schreien - Carola Clever - Страница 22
ОглавлениеGELD MUSS HER
In der Schule kam ich gut voran. Nach der Mittleren Reife legte ich mich noch mal ordentlich ins Zeug. Aber die Aussicht, zukünftig in den Bergen zu wohnen, die ich zwar liebte, aber nur als Winter- oder Sommer-Besucher, lag mir im Magen. Der Gedanke, im eigenen Hotel den Touristen den Hintern hinterherzutragen, brachte mich um den Verstand. Ich erwischte mich, dass ich nachts wach wurde und vom Prinzen träumte, vom perfekten Prinzen, der mich eines Tages durch Liebe erlöste. Das starre Regime zu Hause beengte mich. Diese ewige Bettelei für Friseurbesuche, Schulausflüge, Kino, Konzerte,
Fahrkarten, Pausengetränke, Geburtstagsgeschenke empfand ich als erniedrigend. Oft hieß es:
„Dafür haben wir kein Geld. Du bleibst zu Hause, wir müssen fürs Hotel sparen.”
Geld muss her!
Ertrage es zu Hause nicht mehr. Meine Wünsche bleiben unerfüllt, meine Interessen ignoriert. Die Wertigkeit meiner Person wird belächelt. Ich werde nicht ernst genommen. Mir reicht es, werde mir etwas ausdenken müssen, wo ich ihre hundertprozentige Aufmerksamkeit erhalte. Ich bin nicht Ella.
Ich halte nicht still.
Ich hatte da so eine Idee, erst vage, aber dann kam sie täglich aufs Gehirn-Tablett. Nachts, wenn Ruhe herrschte, holte ich die Puzzlestücke aus der hinteren Hirnrinde, stellte die Verbindung zu den Synapsen her, legte sie fein säuberlich als neue Gedanken aus. Die Lesung dieser Gedanken ergab, dass ich demnächst jegliche Leistung in Geld umsetzen musste. Sparen war angesagt.
Tagebuch 17. Juni . Martin ist eigentlich ein guter Lehrmeister. Er hat Geld und Macht. Er bestimmt immer, wo es langgeht. Das will ich auch. Wie er kann ich dann gelassen den Dingen entgegensehen, bestimmen, was gemacht wird. Diese ständigen Kämpfe sind nervig. Sie meinen wohl, Schuhe an den Füßen und sich satt zu essen, reicht aus, um Kinder zu erziehen. Wirklich? Nehmen die mich überhaupt wahr? Sie scheinen nur mit ihren Problemen beschäftigt zu sein. Ich kann’s nicht mehr hören!
Meine Freundin Carmen scheint ein ähnliches Problem zu haben. Sie sprüht mit grellen Farben Sätze, Namen und Figuren an Hausmauern, Brückenpfeiler und Betonwände. Sie will auch wahrgenommen werden. Wenn schon nicht zu Hause, dann von irgendjemandem, der sie sieht. Ich schreie nicht malend meinen Frust raus, ich schreibe ihn mir von den Fingern.
Weiterer Eintrag im Frustbuch:
Ella hat uns heute beim Abendbrot wieder die Stimmung versaut. Was immer wir machen, nichts ist gut genug oder richtig. Sie kam wieder mit der Meldung, ich hätte exzentrische Züge, weil ich beim Erdbeerkuchen nur die Erdbeeren obendrauf gegessen habe. Den Boden habe ich liegengelassen.
Na und? Sie kann weder kochen noch backen! Ich finde den Teig scheußlich. Er schmeckt wie eingeweichte Pappe. Außerdem ist er nährstoffarmes Füllmaterial und zuckerhaltiger Dickmacher. Ich will so schlank sein wie meine Freundinnen, hasse ihre schulmeisterhaften Belehrungen, die mit dem drohenden Zeigefinger!
Seit Neuestem trug ich nach der Schule alten Damen und Schwangeren die schweren Einkaufstaschen vom Supermarkt nach Hause, wusch unsere Autos. Verkaufte selbstgepflücktes Obst am Straßenrand, in der Schule meine Bücher, Puppen, selbstgemalte Bilder. Gab nachmittags Nachhilfe in Mathe und Englisch für die Kleinen. Die leichteste und lukrativste Einnahmequelle waren die Zigarrenstummel. Oft war Martin so fasziniert vom Fernsehprogramm, dass er nicht bemerkte, dass er die angerauchten Zigarren auf der Drehscheibe im Aschenbecher versenkte. Nachts stand ich auf und holte mir die Stummel aus dem Aschenbecher. Sie wurden gebunkert.
Wenn er dann mal keine Zigarren hatte, drehte er nikotinsüchtig durch. Nervös durchforstete er akribisch seine Bunkerplätze. Verkaufte ihm dann zu Höchstpreisen seine eigenen Stummel. Hatte seine Lektion verinnerlicht, die da lautete: „Im Einkauf liegt der Segen.”
Konnte es kaum glauben: Beim Bunkern kam ganz schön was zusammen. Das mit den Einkauftaschen lief nicht so gut. Das Trinkgeld war mager. Ich beschwerte mich bei Oma Clara. Die meinte, dass die meisten Menschen geizig waren. Das lächerliche Trinkgeld reflektierte ihre Einstellung. Ich sollte es als Lektion verstehen und es selbst bessermachen. Ich hatte mir daraufhin einen Nebenjob gesucht: ein Antiquitätenladen und eine Mode-Boutique in der Poststraße. Herr Metz führte den Antiquitätenladen, seine Frau nebenan die Boutique. Im Fenster hing ein Schild: „Aushilfe gesucht.” Beim Vorstellungsgespräch log ich erst mal und machte mich auf Anraten meiner Freundin Emma zwei Jahre älter, was ich glaubwürdig rüberbrachte, weil ich auf der Fahrt mit der Straßenbahn Ellas Buntstifte im Gesicht kreisen ließ. Abends schmuggelte ich die Buntstifte fein säuberlich zurück in Ellas Kosmetikschrank. Martin nannte es nicht klauen, sondern organisieren. Und der musste es ja wissen.
Ich wurde in beiden Läden als Springer eingesetzt und war superglücklich, weil ich jetzt wirklich Geld verdiente. Auch der Stundenplan passte: zweimal die Woche nach der Schule. Einmal pro Woche half ich mit Begeisterung in der Praxis von Dr. Weltermann aus. Annas Mutter hatte mir diesen Job besorgt. Der Doc war zufrieden. Er steckte mir immer etwas zu, wenn ich besonders fleißig war. Tiere waren liebenswerte Geschöpfe. Voller Zuneigung und Dankbarkeit zeigten sie ihre Gefühle. Ich spürte ihre Angst in der Praxis, auch vor dem Doc. Während der Untersuchungen flüsterte ich ihnen Mut zu. Ich kannte Angst und spürte sie auch bei Tieren. Dieser Einsatz machte mich total glücklich: endlich andere Menschen und Situationen erleben.
Ich hatte keine Zeit mehr, um wütende und enttäuschte Gedanken zu hegen. Keine Zeit, um trübsinnig im heimischen Irrenhaus darüber nachzudenken.
Das Rotlicht-Milieu kaufte in der schrillen Boutique von Frau Metz ein. Es war die reinste Showeinlage, wenn die Mädels im Pulk zum Shopping einliefen. Sie waren herrlich erfrischend und meistens gut drauf. Blubberten und witzelten über Männer, Kleidung und Musik. Kauften Berge von Klamotten und edlen Pumps. Stiefel mit schwindelerregenden Absätzen. Plateausohlen machten aus kleinen Püppchen giraffenartige, langbeinige Mädels. Meist hatten sie einen langhaarigen, muskulösen Schlepper dabei, der ihnen die Tüten und Taschen schleppte. Was für ein Luxus! In der Umkleide plauderten sie untereinander von Kabine zu Kabine. Ich war fasziniert, wie locker sie mit dem Thema Sex umgingen. Sie sprachen von den blöden Frauen, die klaglos funktionierenden Routinesex über sich ergehen ließen, die glaubten, dass ihre Männer auf Reisen oder in Terminen waren. Meist sprachen die Mädels über die absonderlichen Praktiken und Wünsche ihrer Kunden, während sie sich umzogen. Ich hörte von Situationen, die mich geradezu erschreckten oder neugierig machten, und fiel bald in Ohnmacht, als ich hörte, wie viel sie verdienten. Dagegen bekam ich ja einen Hungerlohn!
Frau Metz, die Chefin, war eine äußerst attraktive elegante Brünette. Sie hatte eine beneidenswerte filigrane Figur. Auf ihrem Po konnte man Läuse knacken, so strotzte er dem Himmel entgegen. Traumbeine, die bis zu den Unterarmen reichten. Eine passende Oberweite, ein makelloser Teint und ein Mona-Lisa-Lächeln. Ihr Mann raste vor Eifersucht. Ständig kontrollierte er sie, beobachtete jeden männlichen Besucher, der den Laden betrat. Oft stürmte er, an seinem Ziegenbärtchen zupfend, schon samstagsvormittags in unseren Laden. Schob sie fordernd küssend rückwärts ins Lager. Schloss die Tür hinter sich zu. Im Laden drehten wir die Musik lauter, damit wir und die Kunden das Stöhnen und Quieken nicht hören mussten. Aber wenn Frau Metz beim Friseur oder Einkaufen war, konnte Herr Metz seine Finger nicht von meinen ebenfalls gutaussehenden Kolleginnen lassen. Er streichelte ihnen über den Rücken und Po, manchmal auch woanders. Er machte ihnen zweideutige Komplimente, die sie kichernd registrierten. Mit manchen ging er Kaffeetrinken. So nannte er es jedenfalls.
Tagebucheintrag: 21. September. Metz, der Wüstling, mich verschont er. Wahrscheinlich bin ich ihm zu hässlich. Oder soll ich lieber dankbar sein? Keine Ahnung, aber seine roten Haare stören mich, sein siegessicheres, süffisantes Lächeln auch. Fest-
stellung! Ich dachte immer, Martin in seiner männlich dominanten Präsenz sei ein einmaliges Beispiel, sozusagen eine Laune der Natur. Aber nein, Herr Metz fährt auch mehrgleisig. Ich komme mir dumm und unwissend vor. Frustrierend. Rita, meine Kollegin, meinte: Gewöhn dich dran, so sind sie, die Götter der Schöpfung. Sie schöpfen gern ihre Möglichkeiten voll aus! Entweder bist du dabei oder du läufst hinterher! Sie haben das penetrierende Organ. Wenn sie Lust haben, holen sie es sich, zur Not auch mit Gewalt. Einen Mann kann man nicht vergewaltigen. Die Frau hat doch die doppelte Ar…karte gezogen. Er besorgt sich, was er braucht. Wenn er nicht will, guckt sie doppelt in die Röhre. Erstens lässt er die Frau seine Macht spüren, körperlich, finanziell, manchmal auch emotional. Zweitens entscheidet er ebenfalls, ob sie auch noch unbefriedigt, sexuell frustriert rumläuft.
Kollegin Petra meinte: Wieso, wenn Frau gesunde Hände und Finger hat, kann sie es sich selbst besorgen! Sie muss nicht auf ihn warten! Verstehe diese Aussagen nicht!
Fragebuch: Wie viele sind so? Lieber Gott, hilf mir. Suche wohl ein Sonderexemplar, einen, der durch Respekt, Liebe und Aufmerksamkeit brilliert.
Schaute bei diesem Eintrag auf den Froschkönig, wie er da erhöht mit seiner Krone thronte.