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MUTPROBE

Auch im Elternhaus der Freunde hörte Alexander von körperlicher Gewalt und verbalen Erniedrigungen, die an der Tagesordnung waren. Freund Bernd und Erwin bekamen es täglich hautnah von beiden Elternteilen zu spüren. Erwin, ein Draufgänger, mittlerweile auch Raufbold, machte sich durch Prügelattacken auf dem Schulweg einen Namen. Die Mitschüler fürchteten sich vor ihm.

Ausgenommen seine besten Freunde, Alex und Erwin. Körperliche Züchtigung, Ehestreit, Zorn- und Wutausbrüche, Hass und Gewalt waren für viele Kinder tägliche Erlebnisse. Schlagen war gesellschaftsfähig. Es fand zu Hause, in der Schule und während der Ausbildung statt. Einen entsprechenden Leitartikel konnte Alex in der Zeitung lesen. Bernds Eltern arbeiteten ganztags, Bernd war ein Schlüsselkind. Optisch machte er einen verwahrlosten Eindruck. Er war Denker und Tüftler, sportlich, ehrgeizig. Seine Gewaltfantasien lebte er durch enorme Zerstörungswut aus: zerstörte sein Fahrrad. Wenn die Teile nicht zusammenpassten, trat und schlug er aus Wut aufs Rad. Beim Aufbau seiner imaginären Ritterburg übermannte ihn des Öfteren eine plötzliche Welle der Wut. Dabei schleuderte er alle Teile seiner Ritterburg quer durchs Zimmer.

Am frühen Nachmittag klingelte das Telefon im Flur. Ella nahm den Hörer ab, meldete sich: „Ella Behrmann, guten Tag.” Nach einer Weile sagte sie: „Mein Sohn doch nicht! Das kann ich nicht glauben. Herr Stratmann, sind Sie sicher?“ Dann hörte sie eine Weile zu, verabschiedete sich mit den Worten: „Wir werden uns um die Angelegenheit selbstverständlich kümmern. Sie hören von uns, Herr Stratmann!“ Mit hochrotem Kopf legte sie den Hörer auf, platzte in die Küche, stellte Alex zur Rede: „Ich hatte dich heute Mittag gefragt, wieso du so spät aus der Schule gekommen bist. Kannst du dich noch an deine Antwort erinnern?“ Alex, sichtlich nervös, rutschte auf seinem Stuhl hin und her: „Ich habe mit Bernd und Erwin einen Umweg gemacht, wieso?“ Mit drohendem Unterton bemerkte sie: „Deine Antwort kannst du dir bis heute Abend gut überlegen, wenn dein Vater nach Hause kommt.”

Alex verließ die Küche, ging ins Kinderzimmer. Trat wütend gegen den Schreibtischstuhl, der gegen die Schreibtischplatte knallte. Schmiss seinen Schulranzen aufs Bett, nahm sein Geschichtsbuch und Hefte heraus. Begann in Bauchlage, konzentriert zu lesen. Direkt nach dem Wortwechsel mit Alex hatte Ella das Haus mit Cookie verlassen. Sie war auf dem Weg zu Anita. Ich kam aus dem Wohnzimmer in gebeugter Haltung, pirschte über den Flur, schaute mich vorsichtig zu allen Seiten um. Die Luft schien rein zu sein, ich hatte das Gespräch zwischen Alex und Ella belauscht. Auf Zehenspitzen ging ich ins Kinderzimmer und sprach Alex von hinten an: „Sag mal Alex, heißt der Schuldirektor nicht Stratmann? Weißt du, warum er angerufen hat?“ Alex drehte sich um, setzte sich im Bett auf: „Ich habe keinen blassen Schimmer. Kann mir nicht vorstellen, dass der etwas weiß.“

„Was soll er denn wissen?“, fragte ich.

Alex runzelte die Stirn. „Na, von unserem Ausflug über die Bahnschienen, den Feldern und so.“

„Wieso, was habt ihr da gemacht?“

„Das war eine Mutprobe. Bernd meinte, ich traue mich nicht, über die Bahnschienen zu laufen, um den Feldweg nach Hause zu nehmen. Wollte es beweisen. Wir sind zu dritt, Erwin war auch dabei, über mehrere Schienen gelaufen. Rechts war ganz nah der Zug zu sehen. Erwin stolperte an einer Schwelle, konnte sich aber noch fangen. Der Zug gab mehrfach Signal. Sind dann die Böschung mit dem Schotter runtergelaufen bis zum Feldweg. Bei der Apfelplantage haben wir uns ausgeruht. Erwin schlug vor, Äpfel zu klauen. Schlugen die Äpfel mit Stöcken vom Baum. Sammelten sie auf. Manche haben wir direkt gegessen. Andere haben wir nur angebissen und Weitspucken gemacht. Das war toll. Ich habe am weitesten gespuckt.“

Bewundernd säuselte ich: „Kann ich mir denken. Wenn wir Kirschkerne spucken, gewinnst du auch immer. Du bist einfach der Beste.“

Alex wurde zusehend nervöser. „Es war keiner zu sehen. Wieso konnte der Direktor davon wissen?“

„Keine Ahnung, vielleicht meinte er etwas anderes. Komm, lass uns was spielen.“

Beim Aufbau der Klötze vom „Mensch ärgere dich nicht“ schrie Alex plötzlich. Er warf die Würfel quer durchs Zimmer. „So eine Scheiße, hoffentlich kommt das nicht raus.“ Beim Spiel mogelte er. Ich merkte es sofort, sagte aber nichts. Der Gewinner wurde mit Gummibärchen bezahlt. Beim Auszählen war sein Haufen Bärchen sichtbar größer als meiner.

Alex zählte: „Ich ein, du kein. Ich zwei, du ein.” Das hörte sich melodisch richtig an!

Abends fuhr Martin in die Garage. Ella lief aus der Tür, fing ihn an der Garage ab. Überschüttete ihn wie die Niagarafälle mit prasselnden Worten. Erzählte ihm vom Anruf des Direktors und meinte: „Ich erwarte, dass du ihn dir ordentlich zur Brust nimmst. Was sollen die Leute von uns denken? Der Bauer hat eine Anzeige gemacht!“

Martin war müde und genervt. „Der kann was erleben, der wird nie wieder klauen. Ich sorge dafür.” Erschrocken sah ich, wie Martin mit hochrotem Kopf wie ein Löwe „Wo ist er?“ brüllte und den Flur betrat.

Schaum hatte sich an seinen Mundwinkeln gebildet. Alex stand stocksteif, verschüchtert in der Garderobenecke. An den Haaren zerrte Martin ihn in den Keller, riss ihm seine Kleidung vom Leib, sodass er nackt und zitternd vor ihm stand. Martin holte mit tosendem Geräusch aus, das die alte ausgefranzte Bügelschnur machte, und schlug blind vor Wut auf Alex ein. Die nackten Metalldrähte zerrissen die Oberfläche seiner Haut auf dem Rücken, am Po und über den Oberschenkeln.

Ich saß wie gelähmt im Kinderzimmer und hörte seine verzweifelten Schreie, sein Flehen, durch den Fußboden. Ich bangte um ihn, bohrte mir in der Aufregung in der Nase. Kratzte mich am Hals, der hektisch rote Flecken bekam wie immer, wenn ich aufgeregt war. Aus Angst kaute ich nervös an den Nägeln. Streichelte über meinen gluckernden, schmerzenden Bauch. Hielt mir abwechselnd die Ohren zu, denn diese gequälten Schreie wollten einfach nicht aufhören. Der Keller lag unterhalb meines Zimmers. Auf dem Bett sitzend hörte ich weitere herzzerreißende Schreie. Mit jedem Schlag litt ich mit, hielt mir weiter die Hände über die Ohren. Blutend und winselnd musste Alex zwei Tage im Keller ohne Essen verbringen. Ich wollte schon früher in den Keller gehen, traute mich aber nicht. Dort waren überall diese ekligen langbeinigen großen Spinnen. Wahrscheinlich gab es auch Mäuse dort. Außerdem war es trotz Lichteinfall unglaublich dunkel im Keller.

Innerlich zwiegespalten spürte ich wieder Angst den Nacken hochkriechen, wollte aber Alex unbedingt sehen. Ella wuselte auf dem Dachboden umher. Martin war nicht im Haus. In diesem unbeobachteten Moment schlich ich vorsichtig auf Zehenspitzen die Kellertreppe runter. Dort sah ich Alex gekrümmt und zusammengerollt auf Putztüchern über ölverschmierten Lappen auf dem Betonboden liegen. Seine verweinten Augen waren erschreckend weit aufgerissen. Ich hatte vom Frühstück eine Banane und einen Apfel unter meinem Bademantel versteckt. Reichte Alex die Früchte. Begutachtete erschrocken seine tiefen Wunden, die sich wie blutunterlaufene wulstige Luftschlangen auf seiner Haut wanden. Bei diesem grauenhaften Anblick liefen mir Tränen übers Gesicht. Ohne Worte streichelte ich über die blutunterlaufenen blauroten Striemen, die sich über seinen gesamten Körper zogen. Tiefe Narben hinterließen diese Wunden in meinem Herzen. Eine Welle unglaublicher Wut gegen beide Elternteile breitete sich aus.

Wütend flüsterte ich Alex ins Ohr: „So ein Arschloch, warum hat Ella das zugelassen und dich nicht beschützt!“

Alex noch leiser: „Sie hat uns doch noch nie vor seinen Wutausbrüchen und Schlägen geschützt. Ich hasse beide.”

„Ich auch.“ Dann legte ich mich zu Alex auf die Lappen, küsste und umarmte ihn.

Monate nach diesem Vorfall kam ich gemeinsam mit Alex aus der Schule. Zu Hause angekommen schloss Alex die Tür auf. Normalerweise begrüßte Cookie uns direkt an der Tür mit lautem freudigem Quietschen und Bellen.

Verwundert fragte Alex: „Wo ist Cookie?“

„Vielleicht hinten im Garten?“, fügte ich fragend hinzu.

Ella kam zur Haustür. „Hallöchen, na, wie war die Schule? Kommt rein und macht die Tür zu.”

Im Flur nahm sie uns die Jacken ab. Beiläufig erklärte sie: „Stellt euch vor, Cookie hat ein neues Zuhause gefunden. Er lebt jetzt auf einem schönen Bauernhof auf dem Land!“

Ich verzog mein Gesicht zu einer gequälten Fratze und begann zu heulen. „Aber Mama, er lebt doch hier bei uns …“ Tränen erstickten meine Stimme.

Alex rief aufgebracht unter Tränen: „Ihr müsst uns auch wirklich alles nehmen. Wieso werden wir nicht vorher gefragt?“

Ella hob ihren ausgestreckten Zeigefinger: „Vergreif dich nicht im Ton, ja? Wir entscheiden hier, was geschieht. Ich kann mich nicht um alles kümmern. Er braucht Pflege und mehr Auslauf, das können wir ihm nicht mehr bieten. Da hat er es gut und viele tierische Freunde.” Damit war das Thema Cookie für sie beendet.

Stur versuchte Alex es noch mal: „Aber er gehört doch zur Familie und wir lieben ihn!“ Dann fügte er schreiend hinzu: „Wie konntet ihr nur so herzlos sein!“

Zustimmend schluchzte ich: „Ja genau. Außerdem hat er Narben, ist krank und liebt mein Bett. Ist mein Freund und …“

Dann brach ich abrupt das Vorgebrachte ab. Ich merkte, Betteln war zwecklos. Ella hatte sich entschieden. Die Schultern hängend, den Blick gesenkt, gingen wir in unser Zimmer. Alex knallte die Tür hinter sich zu. Ella schrie uns nach: „Hier werden keine Türen geknallt. Wenn hier einer Türen knallt, dann bin ich das, ja!“ Wir antworteten ihr nicht. Aus Wut und Enttäuschung schlugen wir heulend ins Kopfkissen.

Könnte schreien

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