Читать книгу Könnte schreien - Carola Clever - Страница 16
ОглавлениеCOOKIE
Sechs Wochen später, an einem Samstag, kochte Ella Markknochen für die Rindfleischsuppe aus. Cookie, unser Cocker, war sehr anhänglich seit ihrem Sturz. Er spürte, dass etwas nicht in Ordnung war, und wich Ella nicht von der Seite. Beim Kochen stand er dicht neben ihrem rechten Fuß. Plötzlich hob sich der Deckel vom überkochenden Topf. Die Suppe spritzte und sprudelte über den Topfrand, über den Herd, nach allen Seiten. Die tänzelnden Fettbläschen hüpften auf der glühenden Herdplatte. Blitzschnell und erstaunlich flink zog Ella den Topf von der Kochstelle, rutschte mit dem Gummiabsatz, der unten am Gipsstiefel befestigt war, auf den Fettspritzern am Boden aus. Während sie, den Topf in den Händen, im Balanceakt versuchte, den Topf ins Waschbecken zu heben, schwappte die kochende Brühe nochmals über den Rand und prasselte auf Cookie nieder. Mit einem markerschütternden, quiekenden Schrei ging Cookie zu Boden, wälzte sich gekrümmt hin und her. Ella humpelte zum Telefon, rief hektisch ihre Freundin Anita an, die nur fünf Straßen weiter wohnte. Völlig aufgelöst schrie sie ins Telefon. „Anita, Anita, kannst du mit dem Auto kommen? Cookie muss sofort zum Arzt. Er schreit und winselt unaufhörlich, habe ihn mit kochender Brühe verbrannt!“
„Wie, verbrannt?“, fragte Anita. Ella erklärte ihr die Umstände.
„Ach du liebe Zeit, ich glaub es ja nicht. Warte zwei Minuten, ziehe mir nur schnell etwas über.“
Cookie verlor seine komplette Rückenbehaarung in der Praxis von Dr. Weltermann. Es waren Verbrennungen dritten Grades. Unter unsäglichen Schmerzen und schreiend lag Cookie mit nässendem Verband winselnd in seinem Körbchen. Ella machte sich herbe Vorwürfe, fühlte sich schuldig an seiner Situation. Wenn ihr Blick zu Cookies Körbchen wanderte, musste sie unweigerlich weinen.
Wochenlang lagen wir Kinder nach der Schule auf den Knien vor seinem Körbchen, streichelten ihn abwechselnd. Fütterten ihn mit Leckerlies. Säuberten und cremten seine jetzt krustig gewordenen Wunden. Legten neue Verbände an, aber Cookie wirkte weiterhin apathisch. Es dauerte Monate, bis er fröhlicher wurde. Seit dem Unfall schlief er nachts bei uns Kindern im Zimmer. Alex hielt seinen Arm ins Körbchen. Ich streichelte sein Köpfchen und sang ein Lied vor. Das beruhigte Cookie.
Obwohl er mehrmals täglich von uns ausgeführt wurde, begann Cookie nach Wochen, auf Teppiche im Flur, Esszimmer und Wohnzimmer zu pieseln. Ella war wütend über die zusätzliche Arbeit, die sichtbaren Urinflecken. Mittlerweile wuchs ihr alles über den Kopf. Sie traf eine Entscheidung, band ab diesem Tag Cookie mit einer längeren Leine am Küchenheizkörper fest. Wir kamen aus der Schule, sahen Cookie am Heizkörper angebunden und waren entsetzt.
Alex bat: „Mama, könnten wir ihn nicht in unserem Zimmer laufen lassen? Wir passen auch auf ihn auf.“ Ich unterbrach ihn: „Och, bitte, Mama, bei uns macht er nichts.“
Aber Ella ließ nicht mit sich reden. „Cookie bleibt, wo er ist.”
Wir Kinder schliefen in dieser Zeit nachts zusammen in einem Bett. So wie wir es immer taten, wenn uns eine Situation belastete. Immer wieder schreckten wir nachts mit Albträumen auf, sahen Cookies hässlich verkrustete Wunden und weinten bitterlich. In diesen Nächten machte Alex das Licht an und las mir mein Lieblingsmärchen vom Froschkönig vor. Immer wieder, bis ich einschlief und den Kuckuck, nein, das Käuzchen, hörte.
Im Oktober feierte ich meinen zehnten Geburtstag. Oma Clara meinte: „Du bist ein Glückskind der Luft, im sogenannten goldenen Monat geboren. Es gibt eine Münze, den Franc, geprägt mit deinem Symbol. Jedes Land mit einem Rechtssystem symbolisiert durch Madame de la Balance, die Justitia. Wirklich Kleines, wer kann das schon von seinem Sternzeichen sagen!“ Ich verstand ihre Worte nicht, aber es musste etwas Nettes gewesen sein, denn Clara sagte nie etwas Unschönes.
Alex hatte mir eine große Spardose aus weißem Porzellan im Stil des Froschkönigs geschenkt. Mein Lieblingsgeschenk! Von den Eltern gab es Rollschuhe und ein neues rotes Kleid. Die Nachbarskinder, Freunde der Eltern, die Tanten mit Familie, Großeltern kamen zu Besuch. Es war ein unvergesslicher Tag. Abends vor dem Einschlafen kroch ich meist zu Alexander ins Bett, kuschelte mit ihm und meinte: „Danke, danke für den Froschkönig. Werde ihn über mein Bett auf das Regal stellen, dann kann ich ihn immer sehen. Alex küsste mich: „Schön, dass er dir gefällt.“ Dann schliefen wir friedlich zusammen ein.