Читать книгу Könnte schreien - Carola Clever - Страница 18
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Man hatte Martin wegen Trunkenheit am Steuer für sechs Monate den Führerschein entzogen. Abends nach der Arbeit trank er in letzter Zeit öfter Wein oder Bier. Die randvoll gefüllten Gläser leerte er mit dem Spruch: „Prost, Kehle, jetzt kommt ein Platzregen.“ Die heimlichen Treffen mit Renate, die häusliche Situation und sein Arbeitspensum belasteten ihn. Der Sonntag nach dem Frühschoppen wurde ihm zum Verhängnis. Mit 1,5 Atü auf dem Kessel hatte man ihn erwischt. Der Führerscheinentzug hatte weitreichende Folgen. Martin und Ella waren sich einig. Ein Internat für Alexander schien die beste Lösung zu sein. Abends im Bett flüsterte mir Alex ins Ohr: „Scheiße, das ist bestimmt ein Straflager, Martin hat es ausgesucht.”
„Wieso Straflager? Dachte, das ist eine Schule, wo man auch schläft und …“
„Ja, schon, aber bestimmt sehr streng und weit weg.” Er verstummte.
Freitagmorgen, als ich noch in der Schule war, holte Martin Alex früher ab und fuhr mit ihm ins Internat nach Bad Honnef. Ich konnte mich nicht mal verabschieden. Ella war zu Hause geblieben. Jetzt, wo alles entschieden war, bekam sie Gewissensbisse und fühlte sich krank. Im Bett nagten Zweifel an ihrer Entscheidung. Wieder fühlte sie sich zerrissen. So gut sie es vermochte, hatte sie es den Kindern erklärt, dass sie ihre Zeit jetzt anders einteilen musste. Martin brauchte ihre Unterstützung. Sie musste ihn jetzt begleiten, ihn zu den Kunden fahren. Ihre Kopfschmerzen meldeten sich zu Wort. Wie bei einer Stechpalme schienen die speerartigen Spitzen sich ins Gehirn zu bohren. Sie hielt es kaum aus. Stand auf und ging ins Wohnzimmer. Öffnete im Wohnzimmerschrank die Klappe zur Bar. Genehmigte sich ein Schlückchen Marillen-Likör, den Martin aus Österreich mitgebracht hatte. Mit dem sie ihre Nerven und Gedanken beruhigte. Das hatte schon ein paarmal geholfen. Den sich ständig wiederholenden Vorgang relativierte sie für sich mit Martins Worten: „Dummheit frisst und Intelligenz säuft!“ Frechheit, für sie war es Medizin. Martins Mutter Frieda wurde angefordert. Sie sollte mich die nächsten Monate versorgen. Uns beide ins Internat zu stecken, war Martin zu teuer. Deshalb schien Frieda die bestmögliche Lösung. Sie zog vorübergehend ins Haus ein, schlief bei Alex im Bett. Frieda war gnadenlos streng, predigte Zucht und Ordnung. Nach vier Wochen abends beim Abendbrot, verlangte ich nach Butter fürs Brot. Butter stand nicht auf dem Tisch.
Frieda meinte: „Es ist nicht mehr viel da. Das, was da ist, ist nur für meinen Sohn, weil der arbeitet.“
„Wie bitte?“, rutschte es empört aus mir heraus. „Aber ohne Butter schmeckt es nicht, und die Wurst hält nicht auf dem Brot!“
„Das macht nichts, das geht auch ohne Butter.“
Wütend nahm ich die belegten Wurstbrote ohne Butter in die Hand, holte weit aus und schleuderte sie quer durch die Küche. Am Küchenschrank schmierte die Wurst an der Außenfläche entlang. Die Brote lagen am Boden. „Du bist eine blöde Oma!“ Bei diesen Worten sprang Frieda auf, schnaubte „Freche Göre, dir werde ich helfen,” holte aus und – paff – gab mir eine schallende Ohrfeige. Schickte mich stehenden Fußes ins Bett. Seit Alex im Internat war und Frieda bei ihm im Zimmer schlief, betete ich nachts wütend unter der Bettdecke. „Lieber Gott, schick diesen feuerspeienden Drachen von Oma nach Hause. Ich bin jetzt schon groß und kann auf mich selbst aufpassen.”
Nach dem Vaterunser sprach ich in Gedanken mit Alex: „Hallo Alex, wünschte, du wärst bei mir. Ohne dich und Cookie ist es hier so einsam. Oma Frieda ist saublöd. Eigentlich sind alle blöd. Hast du neue Freunde gefunden? Hast du ein schönes Zimmer? Wann kommst du zu Besuch?“ Müdigkeit überfiel mich. Kurz vor dem Einschlafen hörte ich wieder das Käuzchen rufen. Opa Eugen hatte mir in dem großen Vogelbuch erklärt, dass ein Kuckuck nur tagsüber ruft, niemals nachts. Diese Erklärung beruhigte mich. Ich vermisste Alex und seufzte. Käuzchen oder Kuckuck, der Ruf war mir unheimlich. Noch verstand ich nicht den Zusammenhang.
In den nächsten Tagen und Wochen rasselten Frieda und ich immer wieder aneinander. Ich wurde immer aufmüpfiger. Frieda erklärte Ella und Martin, dass sie das renitente Kind nicht weiter versorgen oder beaufsichtigen könne, und kündigte ihre Abreise an. Ich war erleichtert, spürte unbewusst meine Macht, Situationen durch Aufgebehren zu verändern. Die Eltern versuchten mit diversen außerplanmäßigen Geschenken, mich zu besänftigen. Ich lehnte jedoch die verlockenden Geschenke ab. Frieda konnten sie ebenfalls nicht umstimmen und sahen sich vor einem Problem. Oder vielleicht doch nicht? Der Klassenlehrer hatte am Elternsprechtag darauf hingewiesen, dass ich in der Unterrichtsstunde öfter abwesend aus dem Fenster starrte. Ich schien in eine Traumwelt abzutauchen. Die Deutschlehrerin bemerkte etwas anderes. Neulich sollte ich meinem Aufsatz meine schönsten Ferienerlebnisse vortragen. Ich hatte fünfzehn Seiten abgegeben. Das war bemerkenswert. Ich las und las. Alle waren begeistert und forderten mich auf, die Geschichte noch mal vorzutragen. Beim zweiten Durchgang las ich, ohne umzublättern, eine völlig neue ellenlange Geschichte vor.
„Das ist doch entzückend!“, sagte Ella.
„Mag ja sein. Es zeugt von Kreativität. Aber auch ich sehe die Flucht in eine Scheinwelt“, sagte die Lehrerin.
Ich wurde zu Ellas Eltern, Clara und Eugen, gebracht. Die hatten sich schon vorher angeboten. Aber Martin wollte unbedingt, dass seine Mutter kam. Ihr Besuch war überfällig. Er hatte beides kombinieren wollen. Opa Eugen lag seit Wochen mit schwerer Grippe und beginnender Lungenentzündung im Bett. Seit zwei Tagen war er auf dem Weg der Besserung. Clara war rüstig und guter Dinge.
Beide freuten sich auf meinen Besuch. Sie hatten ein kleines Auto. Clara fuhr mich täglich zur Schule. Wir fanden die Ausflüge herrlich, denn Clara machte auf dem Rückweg immer einen Abstecher zum Kiosk. Dort kaufte sie mir Bonbons und ein großes Schokoladeneis. Ich liebte Oma und Opa, auch weil sie mir abwechselnd aus Der kleine Prinz vorlasen, mein neuestes Lieblingsbuch. Ich selbst las sehr gut, aber Oma Clara war unschlagbar. Sie konnte so herrlich spannend die Geschichten vortragen und brachte mir das Kreuzworträtseln, bei. Außerdem machten wir Ausflüge und viele Besuche in Museen. Oma erklärte mir die Künstler und Bilder. Auguste Renoir war in Büchern eindeutig mein Lieblingsmaler. Versunken starrte ich dann die Bilder an, nahm die Szenen in mich auf. Jeden Abend vor dem Schlafengehen wurde das Vaterunser gebetet. Ich wurde geküsst und gedrückt. Für Alex gab es auch immer ein nettes Wort. Sein Froschkönig wurde auf dem Nachttisch platziert. Alex war bei mir.
Die Großeltern hatten einen herrlich blühenden Schrebergarten. Eugen erklärte mir Pflanzen und wann man die Früchte erntete. Es gab einen Kaninchenstall mit süßen gefleckten Mümmlern. In dieser Idylle erzählten beide dann aus ihrer Kindheit in Russland und Polen. Oma schrieb Briefe in Sütterlinschrift und Opa spielte Schach mit mir. Er liebte die Philosophie, zitierte und kommentierte für mich seine Lieblinge Seneca, Aristoteles und viele andere, deren Schriften er, nach Größen und Farben sortiert, in einer ganz speziellen Ecke in der Bibliothek aufbewahrte. Nur bei Familientreffen, wenn Eugen ein Kaninchen zur Feier des Tages schlachtete, war ich völlig außer mir und schrie aufgebracht: „Wie könnt ihr nur alle so herzlos sein. Ich könnte Freddie niemals essen!” Es roch ekelhaft im Haus. Nach dem Essen leckten sich alle die Finger und schwärmten von Omas Kochkünsten. Verstört, aber stur blieb ich kopfschüttelnd bei Salat und Kartoffeln.
Am darauffolgenden Wochenende holten Martin und Ella mich bei den Großeltern ab. Sie wollten Alex im Internat besuchen und gleichzeitig das neue Auto ausprobieren. Strahlend nahmen sie mich in Empfang. Martin nahm mich auf den Arm, zeigte mit ausgestrecktem Finger auf das neue Auto: „Schau mal, Hummel, hast du schon mal so ein tolles Auto gesehen? Das ist ein Mercedes! Ist der nicht totschick?“
„Und wirklich bequem, komm, steig mal ein!“, sagte Ella. Ich sah die schwarze Karosserie, stieg ein, strich mit den Händen über die cremefarbenen Polster. Es roch leicht chemisch und sehr neu. Traurig verabschiedete ich mich von den Großeltern.
Im Internat war Alex kreuzunglücklich. Der Schulleiter hatte die Eltern informiert, dass er ins Bett nässte, seine Fingernägel immer blutiger wurden und er zu keiner Kontaktaufnahme mit anderen Kindern fähig war. Ständig würde er sich absondern, wurde einsilbig. Im Unterricht war er ebenfalls unbeteiligt und seine schulischen Leistungen ließen nach. Der Aufenthalt kostete Martin viel Geld. Er war ungehalten. Ella verstand das, doch versuchte sie durch Einwände, ihn gnädig zu stimmen. Martin erklärte ihr, für die Zukunft und um im Leben zu bestehen, brauche Alex mehr Strenge und Disziplin.
Ella lenkte ein. „Du hast recht.” Freudestrahlend begrüßten wir uns. Alexander war erstaunt: „Och, bist du aber gewachsen, was isst du denn zum Frühstück? Steaks?“
Ich lachte: „Nein, Obst, denn ich will wie du auch groß und stark werden.” Beim Spaziergang durch nahegelegene Wälder und Wiesen erhöhten die Eltern den Druck auf Alexander, sprachen Drohungen aus: „Wenn du so weitermachst, gibt es kein Taschengeld mehr, und du darfst in den Ferien nicht nach Hause kommen. Unsere Besuche schränken wir auch ein.”
Die Stimmung war gedrückt. Alex ließ die Worte über sich ergehen. Nachdem ich mich verabschiedet hatte, pinkelte er nachts einhändig mit erhobener Faust im Black-Power-Gruß ins Waschbecken.