Читать книгу Könnte schreien - Carola Clever - Страница 8
ОглавлениеMEINE ELTERN, MEINE WURZELN
Wahrheit ist nicht immer Realität, und Realität ist nicht immer Wahrheit. Die menschliche Wahrnehmung, geprägt durch das soziale Umfeld, den Glauben, Intellekt, Bewusstseinszustand und Lebenseinstellung, kreiert eine für uns schlüssige Wahrheit. Diese Wahrheit ist dann für uns unsere Realität. Die Realität kann jedoch für andere eine völlig andere sein. Die Brille unserer Wahrnehmung ist verfärbt und wir sehen uns außerstande, eine andere Haltung und Perspektive zu akzeptieren! Aus Erzählungen wusste ich, dass nach 1945 die Menschen mit dem Aufbau ihres Lebens beschäftigt waren. Jeder versuchte – mehr schlecht als recht –, gemäß den ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ein neues Leben aufzubauen. Einigen war jedes Mittel recht, um sich einen gesellschaftlichen Aufstieg zu sichern. So auch Ella und Martin.
In den fünfziger Jahren hatte Martin mit Schokolade und Kaffee gehandelt, die aus dem Bestand eines ehemaligen Internierungslagers stammten. Seine Kontaktleute hatten die Ware entwendet und boten sie zum Verkauf an. Martin verkaufte sie weiter an die örtlichen Bäckereien. Die Besitzer schätzten seine Ware, da es zu diesem Zeitpunkt schwierig war, die dringend benötigten Zutaten zu bekommen. Sie mochten seine zuverlässige, charmante Art, seinen witzigen Verkaufsstil und die herkunftsbedingte, ungewöhnliche Ausdrucksweise. Eine Mischung aus fröhlich rheinischer Mundart, gespickt mit Berliner Redewendungen: „Wat, ick mer Sefe kofen?
Nee, lieber wasch ick mer nich.“ Zwei Jahre florierte das Geschäft.
Eines Tages, auf dem Nachhauseweg etwa Mitte Mai an einem lauen Dienstagabend gegen zehn Uhr, wurde Martin in einer kleinen Seitenstraße kurz vor seinem Haus durch die Polizei angehalten: eine Straßenkontrolle und Überprüfung der Papiere. Nach einem längeren Gespräch und der Durchsuchung seines Wagens konfiszierten die Beamten seine Ware. Martin war verwundert über die Vorgehensweise bei der Beschlagnahmung. Hatten sie einen Tipp Dritter erhalten? Wer hatte ihn verpfiffen?, fragte er sich.
Trotz der offiziellen, korrekten Uniform und der von ihnen vorgehaltenen Ausweise, der bestimmenden Tonlage stimmte etwas nicht. Nur was? Niedergeschlagen fuhr er nach Hause, ließ sich nichts anmerken. Nachts ging ihm die Situation nicht aus dem Kopf. Immer wieder dachte er an den Vorfall. Etwas war eigentümlich an der Sache. Eigentlich konnte er sich auf sein Gefühl verlassen, aber etwas stimmte hier wirklich nicht.
Zwei Tage später, der Vorfall ließ ihm keine Ruhe, fuhr er zu einer nahegelegenen Polizeidienststelle, erklärte dem wachhabenden Beamten seine Situation und Bedenken. Dieser konsultierte seine Unterlagen.
Unter Kopfschütteln des Beamten erfuhr Martin, dass es an diesem besagten Abend einen derartigen Einsatz an besagter Stelle nicht gegeben hatte. Frustriert und verärgert musste er akzeptieren, dass fiktive Beamte seine Schmuggelware entwendet hatten. Jemand hatte ihn verraten, getäuscht und bestohlen! Wutentbrannt schlug er immer wieder auf sein Lenkrad ein. Der weitere Amtsweg war dann kurz, aber nachhaltig. Martin wurde zu drei Monaten Haft und achtzig Tagen Arbeit im Tagebau verurteilt.
Ella war außer sich. Was für eine Blamage! Sie hatte sich so gefreut, dass Martin endlich gutes Geld verdiente, das ihren Lebensstil sicherte und verbesserte – zumal sie keine Arbeit in ihrem Beruf als Krankenschwester fand. Das frustrierte sie sehr, da sie dadurch finanziell völlig abhängig war.
Während der Haft fühlte sich Martin ungerecht bestraft und gedemütigt. Abends in seiner Zelle trat er gegen die Kloschüssel, brüllte vulgäre Ausdrücke und schlug dabei mit den Fäusten auf die für ihn zu kurze Matratze. Er hatte doch lediglich versucht zu überleben! Es sollte ein finanzielles Sprungbrett für die Zukunft sein. In diesen Monaten hatte er viel Zeit, über sein bisheriges Leben nachzudenken. Fetzen der Erinnerungen kamen aus der Vergangenheit hoch. Sein Vater Paul war früh an seiner Kriegsverletzung verstorben. Seine Mutter Frieda, völlig überfordert, musste sich allein um die drei Kinder kümmern.
Das war eine harte Zeit für alle gewesen. Da blieben Streicheleinheiten, Verständnis und Unterstützung auf der Strecke. Oft hatten sie tagelang Hunger, aber Schuhe an den Füßen, Gott sei Dank. Keine Selbstverständlichkeit, denn manche seiner Schulkameraden hatten noch nicht einmal das. Um die Familie zu unterstützen, ging Martin nach der Schule in feine Clubs. Sammelte dort Tennisbälle ein. Half alten Damen beim Tragen der Einkaufstaschen. Suchte Pfandflaschen in Parkanlagen, Straßen und Mülleimern. Setzte diese in Geld um und gab es seiner Mutter. Darum bewarb er sich auch, als er achtzehn wurde, bei der SS. Seine Kumpels taten dasselbe. Er wollte nicht außen vor stehen. Außerdem würde er dort mit Essen versorgt, bekam Kleidung und Stiefel. Frieda, die Geschwister und er hatten dann ein Problem weniger. So glaubte er. Frieda hatte zuerst so ihre Bedenken, war aber letztlich einverstanden. Martin wurde ausgewählt, weil er dem Erscheinungsbild der SS, über einsachtzig groß, dunkelblond, blaue Augen, gesund, kräftig und muskulös, entsprach. Er wurde als Fallschirmspringer ausgebildet.
Später war er beim Tito-Einsatz in Jugoslawien, organisierte nebenbei Essbares für seine Einheit, was immer er in den umliegenden Dörfern bei einheimischen Bauern, finden konnte, war zusätzlich für die Fahrzeugpflege und die technische Bereitschaft eingeteilt. Bei einer Schießerei erwischte ihn eine Kugel am Kopf und rasierte sein rechtes Ohr im oberen Drittel ab. Ein doppelter Schädelbasisbruch streckte ihn nieder. Er verbrachte einige Monate im Lazarett. Während er auf der Pritsche verletzt vor sich hindöste, dachte er an sein Zuhause, an seine Freunde, die er verloren hatte, und an die Sache mit den Juden. Das ließ ihn damals nicht völlig kalt. In Berlin waren manche seiner Freunde jüdischer Herkunft. Er mochte sie. Aber später, zwischen Einsatzbefehl, Gehorsam und Ausübung seiner Pflichten, fühlte er sich oft hilflos und zerrissen. Mittlerweile hatte er viel Elend gesehen und Ungerechtigkeiten erlebt, das prägte ihn. Wer war er schon, dass er den Lauf der Dinge hätte ändern können! Ein unwichtiges kleines Glied in einer langen Kette von Befehlsempfängern. Nein, er wollte nur überleben und heil nach Berlin zurückkehren. Sein neues Motto: „Wer sich raushält, kriegt auch keine rein.“
Ja, es war feige! Aber manch Mutiger, den er kannte, lag jetzt zwei Meter tief unter der Erde. Für ihn war seine Zeit noch nicht abgelaufen, deshalb blieb er lieber feige. Sein größter militärischer Erfolg war, dass er überlebte!
Während der Zeit, als Martin im Gefängnis saß und grübelte, lag Ella nachts ebenfalls viele Stunden wach. Auch ihre Erinnerungen und Emotionen überschlugen sich. Sie dachte ebenfalls an ihre Vergangenheit, an die Zeit, als sie sich beide kennengelernt hatten.
Wie verliebt sie damals doch gewesen war, als sie Martin traf. Sie dachte an die Zeit während ihres Pflichtjahrs bei der Marine in Kiel. Schmunzelnd auch an die Zeit danach, während der Anstellung als Kindermädchen und Haushaltshilfe bei einem in Berlin stationierten amerikanischen Oberst und seiner Familie. Fühlte sich damals als Glückskind, weil sie endlich Arbeit hatte. Es war ein ehrwürdiges, traumhaft schönes Anwesen, direkt am angrenzenden Grunewald gelegen. Die Arbeit machte ihr Spaß, denn die Kinder waren freundlich und wohlerzogen. Die Hausarbeit war gut zu bewältigen. Roy und E-mily Johnston waren liebenswerte, großzügige Menschen. Offiziell fungierte Martin damals beim Oberst als persönlicher Chauffeur und Dolmetscher, bewohnte wie andere Hausangestellte, Gärtner und Köchin einen Raum im Nebenhaus des Anwesens. Ella spürte noch heute die Schmetterlinge im Bauch, wenn sie nur an Martin dachte. Sofort hatte sie damals einen tiefen Blick auf Martin geworfen. Er war eine tolle Erscheinung in seiner blauen Fahreruniform. Eine Kreuzung aus Curd Jürgens und Sinatra. Das Timbre seiner sonoren Bassbariton-Stimme hatte sie sofort verzaubert. Die charmante, teilweise schleimige, tänzelnde Art, andere Menschen zu überzeugen, wirkte auf sie noch immer erotisch. Bei Begegnungen bemerkte sie Martins Begeisterung über ihre körperliche Erscheinung. Oft schnalzte er mit der Zunge, wenn er auf ihre Oberweite blickte. Es war noch nie Martins Ding gewesen, ausschließlich mit sprachlicher Begabung einen Partner zu erobern. Aber die Mischung aus lässigem Auftreten, gepaart mit Humor und Zielstrebigkeit, machte ihn für sie unwiderstehlich. Emily Johnston hatte Kleidung ausrangiert und Ella einige Teile davon geschenkt, die sie leicht veränderte, um ihre körperlichen Formen besser zur Geltung zu bringen und um Martin zu gefallen. Sie wusste, Kleider machten Leute und Bienen schwirrten nun mal gern zu schönen Blüten. Sie wollte blühen. Es dauerte nicht lange. Bald führte Martin einen regelrechten Balztanz auf, um ihre Aufmerksamkeit und Zuneigung zu erlangen. Diese Erinnerungen zauberten ein versonnenes Lächeln auf ihr Gesicht.
Rein optisch hätten Martin und Ella auch Geschwister sein können. Auch Ella war blauäugig, groß und schlank. Ihre lockigen, langen hellblonden Haare konnten nur mit einer Spange als Pferdeschwanz gebändigt werden. Ihre Zähne waren wie eine Perlenschnur aneinandergereiht. Nur das kleine Blutschwämmchen oben am Haaransatz verdeckte sie mit ihrem Pony. Den kleinen Leberfleck auf der linken Wange, akzentuierte sie mit einem Augenbrauenstift.
Bei Oberst Johnston lernte Martin das sexuelle Doppelleben und das organisierte Tauschen kennen! Im Kellergeschoss des Hauses war ein riesiges Warendepot angelegt. Eine Auswahl an Tafelsilber, Geschirr, Kaffee, Zucker, Schokolade, gepökeltem Dosenfleisch und französischem Champagner rundete den Bestand ab. Der Tauschhandel florierte.
Bei offiziellen Fahrten waren beide tagelang unterwegs. Bei diesen Anlässen konnten sie unter anderem ihren Bestand vergrößern oder gegen exklusivere Artikel tauschen. Die Nachfrage nach diesen begehrten Artikeln war bei den Kunden groß. Dazu gehörten Besuche in einschlägigen Nachtclubs, die beide schätzten, was das Band der Vertrautheit zwischen ihnen verstärkte. Mit der Zeit genoss Martin das uneingeschränkte Vertrauen seines Vorgesetzten. Nie würde er ihn enttäuschen, das Erlernte war für ihn Gold wert. Oft belohnte der Oberst Martins außergewöhnlichen Einsatz im Verkauf und Handel mit zusätzlichen Geschenken wie den begehrten Nylonstrümpfen. So legte sich Martin in kürzester Zeit selbst ein Depot von beträchtlichem Ausmaß an. Ella profitierte ebenfalls. Nach Rückkehr des Oberst und seiner Familie in die Staaten starteten beide in das eigene Leben mit einem guten Warensortiment als Fundament. Nach einer Schreinerlehre im Möbelbau entdeckte Martin seine Liebe zu hochwertigen Einrichtungsgegenständen. Ella fand einen Ausbildungsplatz als Krankenschwester, was ihrem Helfersyndrom entgegenkam. Drei Jahre später, schwer verliebt und materiell gut ausgestattet, wurde im kleinen Rahmen mit der ganzen Familie in Berlin die Hochzeit gefeiert.
Dann an einem eisigen Januarmorgen erblickte Alexander, ihr Prinz und Herzenswunsch, strahlend das Licht der Welt. Er war ein strammer blondgelockter Engel mit leuchtend blauen, neugierigen Augen. Ellas Sonnenschein. In ihrer Familie war sie die Älteste von drei Mädels und hatte als Erste dann gleich einem Stammhalter das Leben geschenkt. Stolz und mit großer Erwartung an ihn präsentierten sie Alexander Christopher.
Ellas Gedanken schweiften zum Umzug von Berlin nach Düsseldorf ab. Martin hatte damals eine neue Anstellung als selbstständiger Handelsvertreter für hochwertige Möbel bekommen. Außerdem lebte hier Ellas Familie. Erst wohnten sie in einer kleineren Wohnung in einem Außenbezirk von Düsseldorf. Aber bald schon hatte Martin andere Pläne für sich und seine Familie.
Sonntags beim Frühstück erzählte er ihr: „Nachts träume ich von riesigen Wolkenkratzern. Ja, ich will hoch hinaus.“ Seine Wunschliste beinhaltete: finanziellen Erfolg, Unabhängigkeit, geliebt, geachtet und respektiert werden. Ella war begeistert. Zu lange hatte Martin das Elend der Nachkriegsjahre gesehen und erlebt. Das sollte sich ab sofort für ihn ändern. In diversen Gesprächen versprach er Ella, alles dafür zu tun, dass es ihnen gut ging.
Ja, das war die Zeit, in der es noch wilden Sex, glühende Schwüre und einen regen verbalen Austausch miteinander gab. Ihre Welt war damals für sie beide in Ordnung. Seine Wünsche und Pläne waren ihr nur recht. Auch sie kannte Entbehrungen diverser Art. Ihr Traum von romantisch zärtlicher Liebe, Glück, Zufriedenheit und finanziellem Wohlstand war ihr Motor für Ehe und Zukunft.
Aber irgendwie hatte sich dann alles anders entwickelt. Wenn sie heute so darüber nachdachte, konnte sie nicht wirklich den genauen Zeitpunkt der Veränderung bestimmen, ab wann sich alles veränderte. Sie vermutete, dass es etwas mit der neuen Karriere von Martin und der gesellschaftlichen Veränderung zu tun hatte. Diese Veränderung war ein schleichender, zähflüssiger Prozess. Der Wandel war kaum zu spüren, aber doch wahrnehmbar. Bei diesen Erinnerungen liefen ihr noch heute Tränen über die Wangen. Sie saß zwar jetzt in diesem schnuckeligen Haus mit weiß umzäuntem, blühendem Garten und einem kleinen Auto vor der Tür. Aber glücklich war sie nicht. Materieller Reichtum sei eben kein Garant für seelische Zufriedenheit, meinte ihre Mutter. Manchmal hätte sie innerlich platzen können. Schamgefühle kamen hoch. Traurig und enttäuscht musste sie sich eingestehen, dass das Kartenhaus ihrer Träume und Wünsche in sich zusammengefallen war.
Oft kam Martin abends erschöpft, schlecht gelaunt, mit blauen Flecken oder Kratzspuren am Rücken nach Hause. Die Erklärungen waren vielseitig. Die körperliche Erschöpfung wegen der vielen schwierigen Kundentermine. Die schlechte Laune, weil es geschäftlich nicht immer so erfolgreich lief. Die blauen Flecken, die aussahen wie Knutschflecken an Hals oder Brust, weil er sich gestoßen hatte. Die Kratzspuren auf dem Rücken erklärte er mit der Metallleiter, die er kurz zuvor mit nacktem Oberkörper aus der Garage getragen hatte. Aber es gab noch andere, diffuse, eigentümliche Umstände, die ihrer Wahrnehmung nicht entgingen. Auch sein Ton und die Haltung ihr gegenüber hatten sich verändert. Körperlich deutlich aggressiver, verbal immer unverschämter gestaltete sich das tägliche Zusammenleben. Wenn sie es so recht bedachte, war sie vorher sehr viel selbstbewusster und fröhlicher gewesen.
Sie schrumpfte wie eine alte Kartoffel seelisch zusammen. Seine Kränkungen hinterließen deutliche Spuren in ihrem Herzen. Ihre gelegentlichen Hass- und Rachegefühle breiteten sich wie ein riesiges Spinnennetz aus. Erschrocken versuchte sie, so gut es ging, diese Gefühle zu verstecken.
Bei wem konnte sie wirklich ihr Herz ausschütten, ohne das Gesicht zu verlieren?, fragte sie sich oft. Diese Scharade, diese Täuschung, wurde für sie und andere schon zu lange aufrechtgehalten. Ihrer Mutter Clara und anderen war es wahrscheinlich auch schon aufgefallen. Jedoch versteckten sie ihre Ansichten vorsichtig hinter einem Schleier von Andeutungen. Ella kommentierte das nicht, nahm es aber innerlich zur Kenntnis.
Neulich bei einem Besuch hatte ihre Mutter ihr ganz beiläufig einen Zettel zugeschoben, auf dem sie vermerkt hatte: „Die Sonne ist wie die Wahrheit, ihr Nutzen hängt ganz davon ab, wie weit sie entfernt ist!“ Kommentarlos hatte Ella den Zettel in ihre Tasche gesteckt.