Читать книгу Könnte schreien - Carola Clever - Страница 7
ОглавлениеUND SO WURDE DAS PÄCKCHEN BEFÜLLT
Es war eine himmelschreiende Ungerechtigkeit!
Vielleicht war ich ungefähr sechs Jahre alt. Wir wohnten in einem schmucken Reihenendhaus in einem Stadtteil von Düsseldorf. Mein Vater Martin Behrmann, zu diesem Zeitpunkt 38 Jahre alt, verdiente seine Brötchen als erfolgreicher Handelsvertreter. Bei Hausbesuchen verkaufte er den Leuten Möbel aus dem Katalog, von der Anrichte bis zum Zweiersofa. Für damalige Verhältnisse war sein Vertriebsnetz ungewöhnlich. Studenten liefen in jedem Stadtteil von Tür zu Tür und verteilten seine Hochglanzprospekte in den Briefkästen. Nach dem Lesen der Zeitungsbeilagen forderten potenzielle Kunden seinen Besuch an. Mundpropaganda brachte ihm jedoch den größten Erfolg.
Meine Mutter Ella, nur ein Jahr jünger, war Hausfrau und Mutter. Sie suchte seit geraumer Zeit Arbeit in ihrem Beruf als Krankenschwester, hatte aber bis dato keinen Erfolg. Es wäre für sie schwierig geworden, Beruf, Kinder, Haushalt und Ehemann unter einen Hut zu bekommen. Sie suchte nicht wirklich.
An diesem Samstagnachmittag saßen mein Bruder Alexander und ich in der Küche, spielten „Mensch ärgere dich nicht“. Ella stand auf einer Leiter im Flur und wechselte Glühbirnen in der Flurlampe. Es klingelte Sturm. Gleichzeitig hörten wir den Schlüssel in der Haustür klappern. Schwungvoll flog die Tür auf. Martin kam schnaubend wie ein Stier ins Haus. Stieß mit der Türkante direkt an Ellas Leiter, fluchte und schrie: „Wie immer stehst du mir im Weg.“ Sekunden später: „Trägst du eigentlich dein Gehirn im Schlüpfer, oder was? Wie konntest du mich nur so bloßstellen?“
Ella versuchte, ihr Gewicht auf der Leiter zu balancieren, ruderte mit den Armen und schrie zurück: „Ich bin deine gottverdammten Lügen gewaltig leid.“
Dann folgte ein Schlachtfest der Worte. Wir verstanden keinen Satz. Das beiderseitige Kreischen zerriss alle Worte. Ella, zwischenzeitlich von der Leiter gestiegen, kam zu uns in die Küche. Sie sah aus wie Ente süßsauer, die wir immer beim Chinesen bestellten. Sprachlos, aber mit scheuchender Handbewegung deutete sie aufs Kinderzimmer. Martin, jetzt ebenfalls in der Küche, brüllte: „Haut ab in euer Zimmer, ich hab mit eurer Mutter noch ein Hühnchen zu rupfen.“
Wir sprangen von den Stühlen und rannten aus der Küche. Im Kinderzimmer schlossen wir sofort die Tür. Zitternd saßen wir eng umschlungen direkt hinter der Tür und versuchten zu lauschen. Hörten einen wortgewaltigen Schlagabtausch, wobei Martin definitiv der Lautere war.
Leise begann ich zu weinen. Schniefte in den Pulloverärmel von Alex, meinem geliebten Bruder. Vor lauter Aufregung musste ich wie immer in solchen Situationen Pipi. Aber für nichts auf der Welt wollte ich jetzt das Zimmer verlassen und unterdrückte den Drang meiner Blase. Kniff mir in den Schritt und heulte noch etwas mehr.
Plötzlich trat diese gespenstische Ruhe ein. Kein Ton war zu hören. Irritiert und ungläubig schauten wir einander an. Alex fragte: „Was, meinst du, ist passiert? Haben die sich vielleicht verletzt?“
Ich konnte nicht mehr sprechen und zuckte nur mit den Schultern.
Dann hörten wir Martins lautes Stöhnen. Das Holz vom Bett quietschte. Das Kopfteil schlug rhythmisch gegen die Wand. Sekunden später war es Ella, die in einem stakkatoartigen Grunzen laute Töne von sich gab. Also ich stöhnte nur, wenn ich mir wehgetan hatte.
Nervös flüsterte ich Alex ins Ohr: „Meinst du, die haben sich verletzt?“
Alex’ Lippen waren an mein Ohr gepresst, er flüsterte leise: „Vielleicht ringen sie ja?“ Gleichzeitig kaute er vehement an seinen Fingernägeln. Mit einer unglaublichen Geschwindigkeit nagte er los und spukte mit Wucht Nagelstücke und Hautfetzen aus.
Wir setzten uns aufs Bett. Ich fror, kraterförmige Gänsehaut kroch unaufhaltsam über meinen ganzen Körper.
Nach gefühlten Stunden flog die Tür auf. Martin sah aus, als wenn er rückwärts durch ein Hühnerloch gekrochen wäre. Die Haare zerzaust, sein gestärktes Hemd an der Brust zerknüllt, stand er strahlend im Türrahmen und meinte: „Wir wollen jetzt zu Abend essen, ihr könnt rauskommen.“
Dabei hielt er die Tür weit auf und pfiff den Kaiserwalzer. Ella wuselte geschäftig in der Küche, summte und sang das Lied von Hildegard Knef: „Für mich soll’s rote Rosen regnen, mir sollten sämtliche Wunder begegnen …“ Dabei balancierte sie zittrig und etwas unsicher das Tablett mit Geschirr und Besteck, deckte den Tisch im angrenzenden Esszimmer.
Es gab eine strenge Tischordnung. Am rechteckigen Tisch war mein Platz vor Kopf! Eigentlich die Position des Entscheidungsträgers. Bei uns nicht. Martin hatte ihn mir zugewiesen. Ella stimmte stillschweigend zu.
Zu meiner Rechten saß Martin, zu meiner Linken hatte Ella ihren Platz. Alex saß neben ihr.
Später wurde mir diese wundersame Sitzfolge aufschlussreich und professionell erklärt! Die Ordnungen der Liebe gehen bekanntlich von oben nach unten. Am Tisch: erst Vater, dann Mutter, dann Erstgeborener, Zweitgeborener und so weiter. Mir wurde von den Eltern eine Position zugedacht, die mir so nicht zustand. Ich saß wahrlich zwischen zwei Stühlen. Beide benutzten mich für ihre Bedürfnisse. Natürlich geschah das unbewusst. Mal diente ich als Mittler, mal als heiß begehrtes Objekt der Zuneigung. Als Schiedsrichter oder Bindeglied in ihrer Partnerschaft. Wie beim Schach manövrierten sie mich und uns zwischen den Figuren. Um diese Last zu tragen, brauchte ich Schultern wie ein Wasserbüffel. Gott sei Dank war die Last gleichmäßig auf beiden Schultern verteilt, damit ich nicht aus dem Gleichgewicht kam. Körperlich stark, dafür geistig verbohrt, trug ich über Jahre die mit Wut, Hass und Enttäuschung gefüllten Eimer, beidseitig. Eine himmelschreiende Ungerechtigkeit!
Bei Tisch blieb mir jeder Bissen im Hals stecken. Martin und Ella schienen guter Dinge zu sein, von Zank und Streit war nichts mehr zu spüren. Im Hintergrund konnten wir den Schneewalzer hören. Alex saß in gebeugter Haltung am Tisch. Sein Blick war starr auf seinen Teller gerichtet. Mein Bauch krampfte sich zusammen.
Ich wollte die Würgeanfälle unbedingt unterdrücken, denn Ella achtete streng auf gute Tischmanieren. Eigentlich war ich bei Tisch eher eine Plaudertasche, aber heute wollte ich auf keinen Fall auffallen, wer wusste schon, was noch passierte, und so stocherte ich weiter lustlos in meinem Essen.
Am nächsten Tag, als wir aus der Schule kamen, schenkte mir Ella ein Steiff-Tier. Es war ein braunes Stoffhäschen und als Trostpflaster gedacht. Alex bekam den langersehnten Waggon für seine Eisenbahn. Sicher, wir freuten uns, aber diese Geschenke lagen uns auch wie Klumpen im Magen.
Ein paar Tage danach hörten wir Ella im Büro telefonieren. Das war nichts Außergewöhnliches. Kunden riefen ständig an und Ella machte Termine oder klärte Absprachen. Sie führte das Kassenbuch, machte die Buchhaltung oder fertigte dreidimensionale Zeichnungen für Küchen an. Aber bei diesem Gespräch war sie sehr aufgebracht, hielt den Atem an, wurde rot im Gesicht, drehte die lockigen Nackenhaare mit dem rechten Zeigefinger, immer wieder im Kreis. Nach dem Gespräch lief sie hektisch durchs Haus und suchte ihre Handtasche, obwohl sie da stand, wo sie hingehörte, schminkte sich im Bad, bürstete und toupierte die Haare, zog ihre neuen, totschicken blauroten Pumps an, dazu das passende Kleid mit Mantel. Sie hatte einen erlesenen Geschmack und verließ das Haus nie, ohne dass sie wie aus dem Modejournal perfekt gestylt aussah. Etwas, was sich auf uns übertrug. Morgens reihten wir uns vor Ella auf. Sie unterzog uns einer genauesten Prüfung, achtete auf Frisur, Fingernägel, ausgewählte jahreszeitlich korrekte Kleidung. Sie überprüfte die Farbkombination. Die Schuhe wurden entsprechend Anlass und Wetter gewählt. Unsicher und nervös, ob wir auch das für sie Richtige selektiert hatten, empfanden wir das Anziehen als Qual der Wahl.
Wir waren kurz zuvor aus der Schule gekommen, wollten gerade die Schularbeiten beginnen, da rief Ella uns aus dem Bad zu: „Zieht euch schnell an, wir müssen sofort raus.“ Dann setzte sie noch nach: „Wir machen einen Ausflug und Besuch!“
„Aber wir haben doch noch gar nicht zu Mittag gegessen“, rief ich hungrig und entrüstet. Alex unterstützte mich. Ella war kurz angebunden und genervt: „Wir holen etwas unterwegs.“
Aus dem Haus und auf der Straße hatte Ella trotz Pumps einen forschen Schritt drauf und ermahnte uns ständig zur Eile. Leichter Nieselregen hatte eingesetzt. Wir waren beide an ihrer Hand, flankierten sie. Aber um mit ihr Schritt zu halten, mussten wir rennen. Am Bahnhof angekommen, sahen wir schon den Zug auf seinem Gleis einfahren. Ella zog ihren linken Pumps aus, stützte sich auf der Schulter von Alex auf und massierte ihren Hallux valgus – den schräggestellten großen Zeh, dessen Ballen bei ihr seitlich austrat. Eilig stiegen wir ein. Ella, noch völlig aus der Puste, kaufte beim Schaffner die Fahrkarten und saß dann mit geschlossenen Augen im Abteil. Sie wirkte nervös. Ich durfte am Fenster sitzen. Die ganze Zeit hatten wir nicht gesprochen.
Dann fragte Alex plötzlich: „Mama, fahren wir zum Zoo?“
„Au ja, zum Zoo“, gluckste ich sofort. Ella sagte ironisch: „Ja so was Ähnliches.”
Die Fahrt war aufregend für mich, weil die Landschaft so schnell vorbeiflog. Auch die Schiffe auf dem Rhein flogen auf dem Wasser. Die Bäume trugen ein helles Grün.
In Königswinter stiegen wir aus. In einem Blumenladen kaufte Ella einen kleinen roten Blumenstrauß. Entlang der Hauptstraße schaute sie sich jede einmündende Straße an und las das Straßenschild laut vor.
Bei der fünften Querstraße sagte Ella: „Drachenfelsstraße, hm … hier ist es.”
Wir bogen rechts zum Rhein runter, als Ella vor einem großen Hotel plötzlich wie angenagelt stehen blieb, staunte und meinte: „Aha, also hier ist es!“
Alex bemerkte wie nebenbei: „Mama, ich dachte, wir fahren zum Zoo?“
Ella antwortete genervt: „Auf diese Frage hatte ich bereits geantwortet, erinnerst du dich? Sei jetzt still und warte ab, hier kannst du etwas lernen.”
Wir sahen sie fragend an, aber sie gab keine Erklärung. Ihr Blick war auf den Eingang vom Hotel Loreley geheftet. Wir stolzierten zum Empfang. Beim Portier angekommen, sprach Ella mit gedämpfter, freundlicher Stimme.
„Hallo, guten Tag, ich möchte meinen Bruder Martin Behrmann zum Geburtstag überraschen, er muss hier mit seiner Frau übernachten!“ Sie legte den Blumenstrauß auf dem Tresen ab. Während sie noch sprachen, schauten wir uns neugierig im Foyer um. Ich sah ein Aquarium.
„Hat Ella eben von einem Bruder gesprochen?“, fragte mich Alex flüsternd.
„Ich weiß nicht, ich habe nicht zugehört. Guck mal die Fische da im Becken, sind die nicht toll?“, entgegnete ich begeistert. Solche Fische hatte ich mal bei einem unserer Zoobesuche gesehen. Der Anblick einer Schatzkiste mit Perlen und Goldstücken auf dem Boden des Aquariums faszinierte mich.
Aus heiterem Himmel brach dann die totale Hektik aus. Wir nahmen nicht den Aufzug, der gegenüber vom Empfang lag, sondern Ella sauste in Richtung Treppenhaus und rief: „Schnell, beeilt euch, wir müssen in den dritten Stock.” Sie nahm gleich zwei Stufen auf einmal. Wir hatten Mühe, ihr zu folgen. Es war ein sehr langer Flur. Vor Zimmer 313 blieben wir stehen. Alex und ich sahen uns fragend an. Ella holte tief Luft, hielt den Atem an, während ihr gekrümmter Finger morseartig an der Tür klopfte. Mit verstellter Stimme rief sie: „Zimmer-Service.“
„Was wollen Sie, wir haben nichts bestellt!“, hörten wir zu unserem Erstaunen Martins Stimme aus dem Zimmer rufen.
Dann ging alles furchtbar schnell. Ella klopfte erneut. Die Tür wurde plötzlich von einer Frau in Dessous aufgerissen. Schwungvoll schob Ella sie mit der Tür zur Seite und stürzte ins Zimmer mit den Worten: „Ach so sieht dein Geschäftstermin aus! Du Schwein!“
Wir folgten ihr ins Zimmer. Martin lag auf dem Bett und hatte den Mund weit aufgerissen, aber kein Laut war zu hören. Sechs Augen fixierten ihn. Ungläubig starrte er auf uns drei, die wir wie die Orgelpfeifen aufgereiht vor seinem Bett standen. Alex und ich gingen gleich in Deckung auf dem Boden. Wie ein Knäuel hielten wir uns aneinander fest. Nur für Bruchteile einer Sekunde waren alle sprachlos. Die stickige Luft im abgedunkelten Zimmer ließ mich husten. Mein Blick heftete sich an die Tür. Die wunderschöne Frau sah aus wie meine Schokoladenpuppe Kitty. Wie angewurzelt und die Tür als Schutz vor ihren Körper gezogen, schrie sie gellend: „Ach du Scheiße!“
Martin, jetzt mit hochrotem Kopf, kochte vor Wut. In seinen Mundwinkeln hatte sich etwas Schaum gebildet. Er sprang vom Bett auf, holte aus und gab Ella, die nichts sagte, aber schon weinte, eine schallende Ohrfeige.
Wie gelähmt blickte ich Alex an.
Ella schluchzte und schrie wieder: „Mistkerl, elender Lügner!“ Sie drehte sich um und scheuchte uns mit schwingender Handbewegung hoch. Eilig liefen wir zur Tür, an Schokopuppe Kitty vorbei, den langen Flur entlang. Aus dem Aufzug stieg der Mann vom Empfang mit dem Strauß Blumen in der Hand. Sein Mund war aufgerissen, als wenn er etwas sagen wollte, doch Ella winkte mit entsprechender Handbewegung ab. Er blieb stumm. Wir liefen weiter in Richtung Treppenhaus. Ich spürte diesen Drang im Bauch, musste schon wieder Pipi. In meiner Not zwickte ich mir zwischen die Beine, um das Gefühl zu unterdrücken. In brenzligen Situationen sollte mich dieser Harndrang zehn Jahre begleiten.
Im Treppenhaus stützte sich Ella am Geländer ab, nahm wieder zwei Stufen auf einmal und rannte zum Ausgang. Draußen auf der Straße humpelte sie in Richtung Bahnhof, während sie uns an der Hand hielt.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht weinte sie immer noch. Alex presste die Lippen aufeinander und hatte den Blick zur Straße gerichtet. Ellas Ellbogen und Hand waren angewinkelt und hochgezogen. Mein Arm war nicht lang genug, um ihrer Hand zu folgen, deshalb ging ich den ganzen Weg, ohne aufzumucken, auf Zehenspitzen. Keuchend erreichten wir wieder den Bahnhof. An der Bahnsteigkante warteten wir nur kurz. Ella führte leise Selbstgespräche und verzog dabei das Gesicht.
Im Zug fielen wir völlig erschöpft in die Sitze. Ich legte mich über den Schoß von Ella und vergrub mein Gesicht in ihrem Mantel. Mir taten die Schulter und die Füße weh und Hunger hatte ich auch, traute mich aber nicht zu sprechen. Alex regte sich nicht, stattdessen starrte er wie elektrisiert auf den Boden. Drei Tage später im Krankenhaus hat man mir die Schulter wieder eingerenkt. Das tat höllisch weh. Martin hatte mir vorher als Geschenk eine Puppe versprochen. In dieser Erwartung konnte ich den Schmerz ertragen.