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4.1.6. Oedipus: Einsicht in die existentielle Absurdität
ОглавлениеTragödienOedipusDas fünfte Chorlied ist das Resultat einer langen Reflexionskette, die über das ganze Stück hinweg geflochten wurde.1 Alle Kerngedanken, die in den vorigen Chorpartien zur Sprache gekommen waren, werden durch die Conclusio zu einem abschließenden Ergebnis geführt. Seneca schafft hier einen synthetisierenden Schlusschor, der die Interpretation der Tragödie auf den Punkt bringt. Im ersten Lied hatte der Chor eine Exposition der desolaten Situation gegeben und somit die Frage nach dem Leid definiert. Im zweiten Lied hatte er eine göttliche Strafe vermutet, die für einen vorsätzlichen Frevel erfolgt sei. Im dritten Lied wurde dieser Gedanke dahingehend weitergesponnen, dass das Strafmaß für unabsichtlichen Frevel das gleiche sei. Das vierte Lied stellt einen Gegenentwurf dar, das Bild eines Menschen, der nach eigenem Gutdünken sein Leben völlig frei gestalten kann. Im Rahmen einer solchen utopischen Konzeption ist allerdings jeder Frevel das Resultat einer freien Gewissensentscheidung und damit zu verurteilen. Doch der Chor wird unterbrochen und kann diesen Gedanken gar nicht zu Ende bringen, da diese Konzeption der Welt nicht der Realität entspricht. Deswegen versucht er auch gar nicht, im letzten Lied noch einmal darauf einzugehen, sondern stellt abschließend fest, nach welchem Gesetz die Welt seiner Meinung nach funktioniert: Der Mensch ist vollkommen determiniert. Alles wird durch die Macht des fatum regiert.TragödienOedipus2 Daraus ergibt sich die Frage nach der Schuld des einzelnen und welche Eigenverantwortung bleibt, wenn jede Handlung determiniert ist. Diese Fragestellungen entsprechen dem Konflikt, in dem sich OedipusTragödienOedipus befindet und an dem er verzweifelt. Der Mensch hat auf das Schicksal keinen Einfluss und ist ihm hilflos ausgeliefert. Die Konsequenzen für sein bewusstes oder unbewusstes Fehlverhalten muss er ertragen. Das Rechtssystem der stoischen Ethik, das Schuldlosigkeit bei fehlendem Vorsatz proklamiert, wird somit wirkungslos. OedipusTragödienOedipus ist das Negativbeispiel für einen Menschen, der an der stoischen Schuldkonzeption zerbricht und keinen Ausweg aus der unlösbaren Absurdität des Seins findet.TragödienOedipusTragödienOedipusTragödienOedipus3 Dieser Verstehensprozess eines Menschen, der am Ende erkennen muss, dass die eigene Existenz absurd ist, ist minutiös in den Chorliedern abgebildet. In der Form einer mise-en-abyme verdichten sie die Aussagen der einzelnen Akte und legen so in chronologischer Reihenfolge die Problemstellung des gesamten Dramas dar.
Ist das dabei gewonnene, resignierende Ergebnis nun aber als Aporie oder gar Absage an die stoische Philosophie zu verstehen? Sicherlich nicht. Seneca geht es zunächst darum, den status quo aufzuzeigen und anhand einer Extremsituation zu illustrieren, dass das fatum nicht immer nur Angenehmes für das Individuum bereithält.4 Der OedipusTragödienOedipus bietet hierfür noch keinen idealen Lösungsansatz: OedipusTragödienOedipus ist maßlos in seiner Art zu strafen, getrieben wird er dabei von den Affekten der Furcht und des Zorns, nicht von vernünftiger Überlegung.5 Ferner bringt seine Bestrafung nur bedingt Hilfe. Zwar befreit er sein Volk von der Seuche, für ihn selbst gibt es jedoch keine Rettung.TragödienOedipus6 Doch das Stück verbleibt nicht völlig ohne Lösung: OedipusTragödienOedipus gibt einen Hinweis auf das richtige Verhalten, indem das seinige als eindeutig falsch gezeichnet wird. Er dient als überzeichnete negative Kontrastfolie, von der es sich abzusetzen gilt. Daraus lassen sich bereits einige Maximen für das richtige Handeln ableiten. So erscheint beispielsweise Iocastes Selbstmord als wesentlich würdevollere Methode. Dieser geht jedoch der Aspekt der Bestrafung ab, da er eine Erlösung aus dem Leiden der Welt darstellt. Ausführlicher wägt OedipusTragödienOedipus die Frage nach dem Selbstmord in den PhoenissenTragödienPhoenissae ab. Dort kommt er letztlich zu dem Schluss, nicht der Tod, sondern das Weiterleben in einem absurden Weltsystem sei die schlimmste Strafe.TragödienPhoenissae7 Diese Überlegung sowie die Reflexion darüber, wie ein angemessener Umgang mit einem ungnädigen fatum konkret aussehen kann, kommen eingehender in den TroadesTragödienTroades zur Sprache.