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2. Jakob Baldes Chor: Lieder nach dem Vorbild Senecas

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Generell bietet der Chor im neulateinischen Drama der Frühen Neuzeit kein einheitliches Bild. Die Verwendungsformen sind je nach Stück und Autor verschieden. Besonders im Laufe des 17. Jahrhunderts wird er weniger systematisch eingesetzt, kommt seltener zu Wort oder wird schließlich ganz weggelassen. Insofern ist allein die Verwendung eines dramatischen Chores bei Balde nicht selbstverständlich.1

Einen ersten Schritt zur Erschließung des Chores im neulateinischen Drama hat Volker Janning in einer umfassenden Monographie unternommen. In der Arbeit sammelt er im Wesentlichen Leitmotive der Chorlieder und erstellt eine thematische Kategorisierung, die Aufschluss über zeitgenössische Diskussionsthemen gibt. Anhand ausgewählter Autoren untersucht er die Integration des Chores in die Dramen. Seine Funktion umschreibt er allgemein als eine relativ technische: „Die neulateinischen Dramatiker nutzten […] die durch den Chor eröffneten Möglichkeiten zur Darbietung von Ruhepunkten in der Handlung und zur künstlerischen Gestaltung der Aufführungen durch Musik, Tanz, und den Vortrag bzw. Gesang chorlyrischer Partien.“2 Insgesamt seien vor allem zwei Nutzungsmöglichkeiten des Chores in der Frühen Neuzeit hervorzuheben: Erstens werde ihm ein starker Unterhaltungswert zugewiesen, der bisweilen ein pompöses Ausmaß annehme und als Vorstufe zur Oper gesehen werden könne. Neben diesem „Prozess der Veroperung“3 sei eine zweite Funktion besonders relevant: So leiste „der Chor einen wichtigen Beitrag zur Sozialisierungs- und Belehrungsfunktion des neulateinischen Dramas, das vielfach als Medium der Moraldidaxe fungiert und zur Propagierung der jeweiligen […] Wertvorstellungen instrumentalisiert“ werde.4 Dass in Bezug auf Balde weder die eine noch die andere Deutung des Einsatzes des Chores ausreicht, wird bei der Betrachtung seiner Chorpartien schnell deutlich: Sie übersteigen eine solche funktionale Ausrichtung in vielerlei Hinsicht.5

Um die Rolle des Chores bei Balde adäquat einzuordnen, muss das Vorbild beachtet werden, das für die JephtiasJephtias Pate gestanden hat: Im Vorwort bekennt sich Balde explizit zu Senecas Tragödien als Inspirationsquelle, die ihm als Richtschnur für sein eigenes Schaffen gedient hätten.6 Es ist also zu erwarten, dass sich Balde auch bei der Konzeption seiner Chorlieder an Seneca orientiert hat. Dass sich ein barocker Autor wie Balde Seneca als Vorbild wählte, ist wenig erstaunlich. Das 17. Jahrhundert hielt Seneca tragicus stets in großen Ehren.7 Fanden sich im 16. Jahrhundert noch eher Komödien, in denen vor allem auf PlautusPlautus und TerenzTerenz Bezug genommen wurde, kamen im 17. Jahrhundert zunehmend Tragödien hinzu.8 Hier berief man sich auf Seneca, den einzig erhaltenen römischen Tragiker.9 Praktisch gesehen waren Lateinkenntnisse besser etabliert als Griechischkenntnisse, selbst wenn die griechischen Tragiker erschlossen waren.10 Lefèvre weist außerdem darauf hin, dass das Christentum bei Senecas Bevorzugung eine wichtige Rolle spielte: „Denn so wie das Christentum in vielen Punkten große Verwandtschaft zur stoischen Philosophie zeigt, waren es gerade die christlich geprägten Epochen vom ausgehenden Mittelalter bis zum Barock, die sich von Senecas Weltanschauung angesprochen fühlten.“11 Der Einfluss von Senecas Chorliedern auf das neulateinische Drama ist bei Janning allerdings nur kurz angesprochen und auf relativ mechanische Aspekte (Metrik, Themenwahl etc.) beschränkt. Meist handle es sich bei Seneca, nach Friedrich Leos veralteter These, um „Zwischenaktlieder“ mit rein überbrückender Funktion. Der Zusammenhang zwischen Lied und Handlung sei allenfalls über lose philosophische Verbindungen herzustellen, wenn stoisches Gedankengut vermittelt werde.12

Tatsächlich besteht beim senecanischen Chor Erklärungsbedarf: Rituell-kultische Elemente, die dem Chor in der griechischen Tragödie noch zu eigen sind,13 gehen ihm bei Seneca bis auf wenige Ausnahmen ab.14 Ferner ist seine Persönlichkeit nicht einheitlich gezeichnet, sodass seine Rolle auf der Bühne nicht konsistent zu definieren und in Hinblick auf eine etwaige Aufführung schwer zu besetzen scheint.15 Diese Auffälligkeiten sind jedoch nur als problematisch zu bezeichnen, wenn man den senecanischen Chor als direkte Replik auf den griechischen Chor versteht.16 Dies erscheint jedoch nicht überzeugend: Vielmehr ist anzunehmen, dass Seneca die Chorlieder – wie auch insgesamt seine Tragödien – mitnichten als reine Rezeptionsprodukte der griechischen Stücke verstanden hat. Die Chorlieder haben bei Seneca einen stücktragenden, literarischen Wert, der ihre Eignung als Modell ausmacht: Der Chor wird zu einer maßgeblichen Erklärinstanz des Stückes, die dessen Interpretation verdichtet darlegt.

Im ersten Teil der folgenden Untersuchung wird deshalb eine Neubestimmung des senecanischen Chores vorgenommen. Nach einer Darstellung grundlegender Forschungsprämissen sowie einer theoretischen Beschreibung des senecanischen Chorkonzeptes soll dieses anhand von Fallbeispielen verdeutlicht werden. Die Untersuchung bleibt aus Gründen der Übersichtlichkeit exemplarisch auf zwei Stücke beschränkt.17 Für die detaillierte Analyse bieten sich der OedipusTragödienOedipus und die TroadesTragödienTroades an, da die Stücke bezüglich der Thematik, die besonders in den Chorliedern zu Tage tritt, verwandt sind. Beide behandeln im weiteren Sinne die Frage des Determinationsprinzips und der Theodizee.18 Dieser Themenkreis ist für Baldes JephtiasJephtias von grundsätzlicher Bedeutung, da die Fragestellung hier aus Drama Georgicumchristlicher Perspektive beleuchtet wird und zahlreiche Motivübernahmen erkennbar sind.19 Durch die ausführliche Behandlung des senecanischen Chores leistet die vorliegende Arbeit einen Beitrag zum Verständnis der Seneca-Tragödien.

Im zweiten Teil der Arbeit wird sodann gezeigt, dass Jakob Balde die Funktion des senecanischen Chores, einen Schlüssel zur Interpretation des Stückes zu liefern, erkannt, in sein dramatisches Werk aufgenommen und weiterentwickelt hat. Da explizite Aussagen, in denen Balde sich über sein Verständnis des Chores äußert, nicht vorliegen, ist es geboten, sein Chorverständnis aus allen seinen Werken dramatischen Charakters herauszuarbeiten. Nur in dieser Gesamtschau ist es möglich einzuordnen, wie Balde die Funktionen des Chores definiert und als wesentliches Element in seiner Dramatik verankert. Hierzu soll ein Blick auf den Chor des Iocus seriusIocus serius, des TillyTilly, der PhilomelaPhilomela und des Arion ScaldicusArion Scaldicus geworfen werden. Weiterhin erfolgt eine knappe Besprechung des Drama Georgicum, bei dem gerade das Fehlen eines dramatischen Chores aufschlussreich ist. Für Baldes Auffassung der Chorlieder Senecas und die Konzeption eines tragischen Chores ist außerdem die Untersuchung des Seneca aus dem Regnum poetarumRegnum poetarum unabkömmlich. Dieser steht der JephtiasJephtias sehr nahe, auf der das Hauptaugenmerk liegen wird, da es sich um die einzige komplette Drama GeorgicumTragödie im eigentlichen Sinne handelt. Mittels der Analyse der Chorpartien können entscheidende Erkenntnisse für die Interpretation und Struktur der Stücke insgesamt und damit über den Dramatiker Balde erlangt werden.

Der Schlüssel zur Tragödie

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