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2 Notationsformen bis etwa um das Jahr 1200
ОглавлениеÜberblick
Das Notenlesen und -schreiben bildet seit langem einen Teil der Schriftkultur. Dass man Zeichen für das Erklingende finden und festhalten kann, scheint für viele heutzutage selbstverständlich zu sein. Lange schon haben sich die etablierten Schriftformen bewährt. Sie stehen in einer mehr oder weniger kontinuierlichen Tradition, die auf Anfänge im früheren Mittelalter zurückgeführt werden kann. Gerade für den Beginn dieser Tradition ab etwa dem 9. Jahrhundert sind die Verhältnisse aber keineswegs eindeutig und verschiedene Aufzeichnungsweisen von musikalischen Verläufen existieren nebeneinander. Teils sind sie voneinander abhängig, teils bieten sie aber auch Lösungen, die nichts miteinander zu tun zu haben scheinen. Wenn man nach ihren Ursprüngen fragt, bleibt vieles rätselhaft. Bald treten Schriftformen hervor, die sich nicht auf das spezifisch Musikalische richten, sondern beispielsweise die Gliederung im Textvortrag anzeigen, bald werden Zeichen für Musikalisches aus der Musiktheorie zu Vergleichen herangezogen. Wenn man die Differenzen verschiedener Bezeichnungsweisen kennt, kann das Spezifische jener Notationen hervortreten, ohne die das heutige Notenlesen nicht denkbar wäre: die Neumennotationen.
Seit 2. und 1. Jahrtausend v. Chr. | Vereinzelte Musiknotate zumeist mit buchstabenähnlichen Symbolen |
Seit etwa 4. Jahrhundert n.Chr. | Instrumentalnotenschrift des Alypius |
Ab dem 6. Jahrhundert | Verbreitung der Instrumentalnotenschrift des Alypius durch die Musiktheorie von Boethius |
ab 9./10. Jahrhundert | Dasia-Zeichen |
9. Jahrhundert | Früheste Neumennotate |
10. Jahrhundert | Hochdifferenzierte und in diverse Richtungen entwickelte Neumennotationen in verschiedenen Regionen |
ab ll. Jahrhundert | zunehmende Verbreitung von Notenlinien |
Bei vielen Notationsweisen kann man die notierten Zeichen so verstehen, dass man von einem symbolisch hinweisenden und einem abbildenden Zeichengebrauch ausgeht. Die genannten Notationsformen funktionieren zum einen detailliert hinweisend, wenn etwa ein festgelegter Buchstabe für einen Ton steht, zum anderen auf allgemeinere Art hinweisend, wenn sie anzeigen, dass etwas in einem gewissen Rahmen von generellen Möglichkeiten geschehen soll. Davon können die abbildenden Zeichenfunktionen unterschieden werden. Hier sind die Zeichenformen sehr vielfältig. Wenn sie sich auf geringfügige Weise ändern, zeigt dies häufig an, dass sich die Ausführung ebenso ändern soll. Die Unterscheidungen zwischen symbolisch detaillierter und allgemeiner hinweisenden sowie abbildenden Zeichen sind für einen ersten Zugang gedacht. Ein vertieftes zeichentheoretisches Verständnis bietet weitere Möglichkeiten. In der Forschungsliteratur sind hierzu einige Vorschläge präsentiert worden.
In der wissenschaftlichen Kommunikation haben sich für den ersten Zugang Bezeichnungsweisen durchgesetzt, die sich einmal nach der Art der verwendeten Zeichen richten: So werden unter Tonbuchstabennotationen Aufzeichnungsweisen verstanden, in denen Buchstaben für Töne stehen. In der Dasia-Notation stehen spezielle Zeichen, die sogenannten Dasia-Zeichen, für die Töne. Des Weiteren richten sich die Bezeichnungsweisen nach dem Verhältnis zwischen den Zeichen und dem Bezeichneten oder primär nach dem Letzteren wie bei den ekphonetischen Notationen, die bisweilen auch als rudimentäre Notationen, formelhafte Notationen, Paranotationen oder dergleichen bezeichnet werden. Bei Einzelzeichen spricht man in diesem Zusammenhang bisweilen von Kantillationszeichen. Sie bieten aus heutiger Sicht nur ungefähre Hinweise zur musikalischen Ausführung. Anders verhält es sich bei den Neumen, den im früheren Mittelalter am häufigsten benutzten Zeichen für die Melodieverläufe. Sie werden fast immer nach ihrer Herkunftsregion bezeichnet und mit einem entsprechenden Adjektiv oder dergleichen versehen: aquitanische Neumen, englische Neumen, Sankt Galler Neumen etc.