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1.1 Traditionen, Geschichtsbilder und die Verortung des Musikalischen

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Tinctoris

Das Mittelalter ist bis zum heutigen Tage eine Epoche, deren Bild von den Vorurteilen und oftmals zwiespältigen Erwartungen bestimmt wird. Die Vorstellungen gründen in der jeweiligen Gegenwart der Kommentatoren. Noch nicht lange gehört die Beschäftigung mit dem Mittelalter zu den Gegenständen einer hierin unvoreingenommeneren Forschung. Lange war es die dunkle Zeit, von der man sich abgrenzen wollte. Im Bereich der Musik bilden die Äußerungen von Johannes Tinctoris (1435–1511) hierfür ein anschauliches Beispiel aus einer frühen Phase, in der das Mittelalter kaum vergangen war. 1477 berichtet er im Vorwort seines Liber de arte contrapuncli, dass er „einige alte Lieder unbekannter Autoren, sogenannte apocrypha, in den Händen gehabt [habe], die so ungereimt, so geschmacklos komponiert waren, daß sie die Ohren viel eher beleidigten als erfreuten.“ Und nun folgt jener immer wieder zitierte Satz: „Es ist geradezu verwunderlich, daß es unter den Kompositionen, die älter als vierzig Jahre sind, keine gibt, die von den Gebildeten als hörenswert erachtet wird.“

Ambros

Aber auch in einer Zeit, als die Musik früherer Generationen längst ihre ganz eigene Faszination auszuüben begonnen hatte, äußerte sich der Wiener Musikhistoriker August Wilhelm Ambros (1818–1876) wie folgt: „Zunächst muß ich eindringlich warnen! Es wird im Folgenden um die „rohesten,“ ja „abschreckend häßlich[en]“ Anfänge der Musik gehen, um eine Kunst, bei der „von dem Geheul dieser Quinten und Quarten [das Ohr] zerrissen“ wird. Es handelt sich bei der Musikgeschichte des Mittelalters um „ein verkarstetes Land, über dessen versteinertem Antlitz nicht einmal der rettende Geist schwebte“. Warum aber bemüht er sich überhaupt um diese finstere Epoche? Ambros geht es um seine eigene Gegenwart, um das Verständnis der Meisterwerke seiner Zeit: „Ich begreife die entwickelte Kunst nur, wenn ich ihre Vorstufen, ihr allmäliges Herankommen begriffen habe. […] wir wollen die historische Erscheinung in ihrer Berechtigung verstehen lernen, gerade so wie der Naturforscher die höheren Organismen der Schöpfung nur durch gewissenhafte Durchforschung der niederen und niedrigsten begreifen lernt.“ Ambros sieht sich auf dem Höhepunkt einer kulturgeschichtlichen Fortschrittsgläubigkeit, die noch völlig ungebrochen ihre eigene Gegenwart, insbesondere die Musik von Johannes Brahms (1833–1897), als Ziel der Geschichte ausmachen kann.

Romantik

Doch zugleich entdeckte die Romantik ihre ganz eigene Faszination an dieser Vergangenheit. Anton Friedrich Justus Thibaut (1772–1840) beschwört gleich zu Beginn seines Buches Über Reinheit der Tonkunst von 1825 die „Periode der höchsten Begeisterung…, welche nie wiederkehren wird.“ Eindringlich plädiert er fur die „Beibehaltung der großen Urgesänge, welche die Ambrosianischen und Gregorianischen genannt werden, jene (so weit ich sie kenne) wahrhaft himmlischen, erhabenen Gesänge und Intonationen, welche in den schönsten Urzeiten der Kirche vom Genie geschaffen und von der Kunst gepflegt, das Gemüth tiefer ergreifen, als viele unsrer auf den Effekt berechneten neuern Compositionen.“

Fin de Siècle

Einstellungen wie diese ziehen sich durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch und hatten noch auf die Kunstströmungen der Décadence und des Fin de Siècle eingewirkt, als in den Romanen von Joris Karl Huysmans (1848–1907) oder den frühen Dramen Maurice Maeterlincks (1862–1949) und im Anschluss daran nicht zuletzt in Claude Debussys (1862–1918) Musikdrama Pelléas et Mélisande ein ganz eigenes Mittelalterbild entstand, das sich von jenem in den zunehmend sich verbreitenden Werken Richard Wagners (1813–83) unterschied, in denen das Mittelalter wieder auf eigene Art zugegen ist und popularisiert werden konnte. Zur Anziehungskraft, die von den Kunstwerken, den Architekturmonumenten wie den Kathedralen, den Bildnissen, den literarischen Texten und nicht zuletzt auch den musikalischen Dokumenten des Mittelalters ausging, kam allmählich ein vertieftes Verständnis hinzu, wie die Menschen der damaligen Zeit ihr Wissen und ihre Fähigkeiten entwickelten, organisierten und weitergaben. Die unterschiedlichen Zugangsweisen prägen heute in der Wissenschaft, aber auch in der Alltagswelt die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Mittelalter.

Epoche

Die oben genannte Aussage Tinctoris’ passte in der Betonung des Neuen zu den historiographischen Bemühungen, die Geschichte und auch die Musikgeschichte in klar voneinander abgegrenzte Epochen zu unterteilen. Die Dreiteilung der Epochen geht auf die Humanisten zurück, das heißt jene Gelehrten der Renaissance, die ihre Wiederentdeckung der antiken Kultur von der finsteren Zeit des Mittelalters abzugrenzen suchten. Als ein allgemeiner historischer Begriff wurde die Bezeichnung jedoch erst später etabliert. Ein so verstandenes „Mittelalter“ finden wir zum ersten Mal in der Historia universalis, die Christoph Cellarius (1638–1707) im Jahr 1685 in Halle herausgab, wo die Geschichte „in Antiquam et Medii Aevi ac Novam“ eingeteilt wurde.

So allgemein diese Begriffe klingen, allein die Zusammenstellung weist schon auf den wertenden Charakter hin, der mit ihnen von Anfang an verbunden wird. Die Erfindung einer solchen Epocheneinteilung geht auf die Aufklärung zurück und ist untrennbar mit dem Bemühen verbunden, die neue Zeit, die Moderne zu bestimmen. Der Historiker Reinhard Koselleck (1923–2006) spricht dabei umgekehrt von der „Folgelast“, seit der Bildung des Begriffs ‚Mittelalter‘ „eine neue Zeit bezeichnen zu müssen“.

Von Anfang an war „Mittelalter“ also ein Gegenbegriff, der immer sowohl mit positiven wie auch negativen Konnotationen aufgeladen werden kann. Es scheint kaum möglich zu sein, ihn quasi wertneutral zum festen Topos der historischen Periodisierung werden zu lassen. Das betrifft auch das Verständnis vom Anfang und Ende des Mittelalters. Mehrere Möglichkeiten kommen in Betracht. Wenn man von der Rolle der christlichen Kirchen ausgeht, können das konstantinische Toleranzedikt von 313 und der Beginn der Reformation 1517 den Beginn und den Abschluss kennzeichnen. Man kann die von Europa ausgehende Sichtweise geographisch und politisch noch stärker hervorheben. Demgemäß steht nach dem Einflussgebiet des antiken Roms, das um das Mittelmeer herum lag, im Mittelalter eher Kontinentaleuropa und davon der westlichere Teil im Zentrum, zu dem der vom Islam geprägte südliche Mittelmeerraum dann im 7. Jahrhundert als Bestandteil einer neu angebrochenen Epoche hinzukommt. Die Antike endet so gesehen mit dem Sturz des weströmischen Kaisers 476. Die Neuzeit beginnt nach geographisch ausgerichteten Kriterien konsequenterweise mit der Entdeckung Amerikas 1492.

Im Bereich der Musik hat die dreiteilige Epochenkonstruktion aus Antike, Mittelalter und Neuzeit von Anfang an vor besonderen Herausforderungen gestanden. Über die Töne der Vergangenheit weiß man anders Bescheid als über die Architektur oder die Texte. Als Klangereignisse sind sie zunächst einmal vergangen und entschwunden. Gewisse Aspekte der Klangerzeugung hinterlassen aber bleibende Spuren. Hierzu zählen die Ordnungen, in die man die Töne traditionellerweise gebracht hat. Hier hat sich den Musikhistorikern der Neuzeit immer wieder gezeigt, wie im Mittelalter an die antike Überlieferung angeknüpft wurde und dass von einem Wegfall des Geordneten und Zivilisierten in einer Zwischenperiode Mittelalter zwischen Antike und Neuzeit keine Rede sein konnte.

Einschlägige Dokumente wiesen sogar in die gegenteilige Richtung, so dass man zur Auffassung gelangen konnte, der Rang der Musik sei nie so hoch gewesen wie während des Mittelalters, denn unter den septem artes liberales, den sieben freien Künsten, zählte sie zu den vier übergeordneten des Quadriviums aus Arithmetik, Geometrie, Astronomie und musica, wohingegen die Grammatik, Rhetorik und Dialektik, das Trivium, untergeordnet waren. Ausschlaggebend ist das Verständnis des im Mittelalter verwendeten Begriffs musica gewesen, den man mit der Übersetzung „Musik“ in dem aktuellen Begriffsverständnis der letzteren vielfach gleichgesetzt hat.

In den Texten des Martianus Capella (5. Jahrhundert n.Chr.), insbesondere aber des Anicius Manlius Boethius (480/85–524/26) konnte man umfassende Konzeptionen der musica wiederfinden, die nicht zuletzt daraufhin überprüft worden sind, ob mit ihrer Hilfe gewisse Leerstellen in der Musikauffassung des 19. Jahrhunderts geschlossen werden konnten.

Stichwort

Anicius Manlius Severinus Boethius (480/85–524/526) war ein römischer Gelehrter der Spätantike, der am Hof des Ostgotenkönigs Theodorich in Ravenna wirkte. Er bemühte sich, die Bildungstradition der Antike, die aufgrund fehlender Griechisch-Kenntnisse verloren zu gehen drohte, für seine Gegenwart zu bewahren. Seine vier Bücher De Institutione musica wurden zu den wichtigsten Grundlagentexten des Mittelalters, die bis ins 16. Jahrhundert hinein an den europäischen Universitäten gelesen wurden. Dabei werden drei Arten der musica unterschieden:

Musica mundana Musica humana Musica Instrumentalis
Kosmos, Harmonie der Planeten Ordnung des menschlichen Körpers Die vom Menschen erzeugte Musik

Könnte eine solche umfassende Musikanschauung nicht noch einfacher als die Autonomieästhetik des 19. Jahrhunderts alle Forderungen eines ästhetischen Legitimationsmittels erfüllen, da sie von vornherein auf das Übersinnliche, nämlich die göttliche Ordnung der Sphärenharmonie ausgerichtet ist?

musica

Die Musikgeschichtsschreibung der letzten Jahrzehnte hat zeigen können, dass dem nicht so ist. Zum einen liegt das daran, dass „Musik“ nach heutigem und die musica nach damaligem Verständnis grundlegende Differenzen zeigen. Zum anderen ist die musica selbst in der Antike und im Mittelalter als Bereich innerhalb der Artes liberales mit Anliegen konzipiert worden, die über das Musikalische hinausreichten. Sie floss in ein Weltverständnis ein, das entscheidend aus der christlichen Überlieferung und den Traditionen des Platonismus beziehungsweise Neoplatonismus hervorgegangen war.

Stichwort

Septem artes liberales

Die septem artes liberales wurden dem Mittelalter durch Martianus Capella (5. Jahrhundert n.Chr.) übermittelt. Das Trivium bildet die Grundlage für die Beschäftigung mit Wissenschaft überhaupt: Grammatik, Rhetorik und Dialektik. Darauf baute dann das Quadrivium der mathematischen Fächer auf mit Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie, die sich unterschiedlichen Erscheinungsformen der Körper widmeten:

Mengen (abstracta) Größen (inabstracta)
Sine motu(ohne Bewegung) Arithmetik(Mengen an sich: Zahl) Geometrie(unbewegliche Größen)
In motu(in Bewegung) Musik(Verhältnisse von Mengen – Proprotionen) Astronomie(bewegliche Größen)

Zunächst ist die Musik also ein Teilgebiet der Mathematik, die zu den drei Feldern gehört, die nach Boethius die Physik, die Mathematik und letztlich und endlich die Theologie umfassen:

Abstracta (reine Form) Inabstracta (Form in Stoff)
Sine motu(nicht dem Prinzip der Bewegung unterliegend) Theologie Mathematik
In motu(dem Prinzip der Bewegung unterliegend Physik

Die musica, die nach dem Textbuch des Boethius gelehrt wurde, hatte mit praktischer Musiklehre nichts zu tun. Es ging eben um ein Teilgebiet der Mathematik, das es zudem erlaubte, die komplizierte Rechnung mit Proportionen sinnlich anschaulich zu gestalten. Die Theorie der musica beschäftigte sich mit dem, was notwendigerweise der Fall ist, also vor allem mit der zahlhaften Ordnung ihrer Grundlagen.

Schrift

Auf der anderen Seite stehen die vielen Dokumente, die zeigen, wie die Musik im Mittelalter über die musica in diesem engeren Sinne hinaus aufgefasst und ausgeübt wurde. Für vieles in der Musik, insofern man heute noch davon weiß, stellt das Mittelalter einen Anfang dar. Das Aufschreiben von Melodieverläufen, die dann von anderen womöglich nach Jahrhunderten noch gelesen, entziffert und nachgebildet werden können, zählt entscheidend dazu. Nach eher vereinzelten Initiativen in der Antike entstanden im Mittelalter zum ersten Mal musikalische Aufzeichnungen in einer mehr oder weniger kontinuierlichen Überlieferung. Man kann hierin einen Bruch mit der Tradition sehen, Musikalisches ohne den Gebrauch einer Schrift für die Töne weiterzugeben. Daraus ergibt sich eine mehrdeutige Situation: Der Bruch mit der Tradition nicht-schriftlicher Überlieferung ermöglicht es, dass mithilfe der Schrift Traditionen gestiftet und aufrechterhalten werden, die das zuvor nicht schriftlich Fixierte auf bestimmte Weise mit einschließen. Die Schriftformen des Mittelalters ermöglichen es, Traditionen in den Blick zu nehmen, die durch eben diese Schriftformen transformiert werden.

Diese Traditionen können näher eingegrenzt werden, wenn man betrachtet, welche Texte mit Musiknotationen versehen worden sind. Es überwiegen die Gesänge zu liturgischen Anlässen wie der Messe, dem Stundengebet der Mönche oder Nonnen und für Prozessionen. Ihre Tradition geht auf biblische Vorlagen zurück. Sie verweist mithin auf die älteren Textschichten der hebräischen Bibel, die in übersetzter Gestalt aufgenommen sind. Das ist aber nicht alles. Viele Gesänge sind jüngeren Ursprungs und zeigen mitunter das typische Gepräge neueren mittelalterlichen Sprachgebrauchs wie beispielsweise bestimmte Versformen. Außerdem ist das antike Latein auf verschiedene Weise gegenwärtig, nicht zuletzt in quantitierenden Versen wie dem heroischen Hexameter, sapphischen, jambischen und anderen Metren. Darüber hinaus wurden nichtlateinische Texte mit Musiknotationen versehen. Instrumentalmusik ohne Text erscheint in diesen Zusammenhängen zunächst nur ganz spärlich am Rande.

Orpheus

Die aus der Antike übernommenen Auffassungen von Musik waren indes keineswegs einheitlich. Vielfach stand Widersprüchliches nebeneinander. Die Musik war sowohl der geordneten Welt als auch den orgiastischen Riten um Leben, Tod und Wiedergeburt zugeordnet. Der legendäre Orpheus ist bald ein Sänger, der auf einem wohlproportioniert gebauten Instrument, der siebensaitigen Leier, spielt – so nach einem im Mittelalter vielfach aufgegriffenen Vers aus Vergils (Publius Vergilius Maro, 70–19 v. Chr.) Aeneis aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert (Buch 6, Vers 646) -, bald bleibt von ihm nur das abgetrennte Haupt übrig, das seinen Gesang von sich gibt, nachdem der Körper zerrissen worden ist, wie es der römische Dichter Ovid (Publius Ovidius Naso, 43 v. Chr.-17 n.Chr.) in seinen Metamorphosen berichtet (Buch 11, Vers 50ff., entstanden etwa im ersten Jahrzehnt unserer Zeitrechnung). Die biblischen Lieder bestehen nicht nur aus den Psalmen, die ihrerseits vielfältig gestaltet sind, sondern auch aus Kriegs- und Triumphliedern wie beispielsweise Mirjams Siegeslied, das den Untergang der ägyptischen Streitmacht schildert. Bei Paulus wird der Tod selbst mit einem Zitat aus dem Propheten Hosea triumphierend verspottet (1 Kor 15, 55 nach Hos 13, 14): „Tod, wo ist Dein Stachel?“. Diese und auch andere Textstellen aus den biblischen Büchern lassen diverse Rückschlüsse auf Lieder zu.

Neben den in vielem widersprüchlichen Voraussetzungen waren auch in Bezug auf die Wirkmächte der Musik immer wieder Konzepte eines einheitlichen Weltbildes bestimmend. So ist noch in der Antike und dann ab dem Übergang zum Mittelalter in Texten formuliert worden, wie die an Personen gebundenen Musiktraditionen christologisch umgedeutet werden können: Christus erscheint als der wahre Orpheus und als ein neuer David. „Noster Orpheus“, „unser Orpheus“ wird er in der Sequenz Morte Christi celebrata, einem Gesang aus Aquitanien um 1100, genannt, „noster est novus David“, „unserer ist der neue David“ in der Sequenz Laude multisona aus dem 11. Jahrhundert in Oberitalien. Besonders anschaulich und in der Bildenden Kunst des Mittelalters vielfach umgesetzt sind diese Auffassungen im Bild von Christus als „gutem Hirten“ (so etwa im Johannesevangelium, Joh 10, 11), das sich mit jenen von David und Orpheus unter den besänftigten Tieren in Verbindung bringen lässt. Nicht selten trägt der dargestellte Hirte ein Saiteninstrument.

Die Musik des Mittelalters

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