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2.4 Zu den Transformationen des Notierten angesichts der zunehmenden Verbreitung von Notenlinien

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Guido von Arezzo (992–1050) wird häufig als Erfinder der Notenlinien genannt. Seine Musiktheorie lieferte viele Anstöße für die musikalische Praxis und verbreitete sich rasch. Das liegt unter anderem daran, dass seine Ideen übersichtlich und prägnant formuliert sind und offenkundig nützlich waren. Nicht zuletzt konnte die Ausbildung der Sänger verkürzt werden. Die Notenlinien hat er aber nicht einfach neu erfunden und eingeführt. Sie waren in gewisser Form vorher schon da: Bevor die Texte und gegebenenfalls die Neumen auf einer Pergamentseite eingetragen wurden, wurde diese dazu präpariert. Rastrierte Linien markierten das Schriftfeld und die Horizontalen, auf denen die Texte zu liegen kamen und zu denen die Neumeneinträge in eine passende Lage gebracht werden konnten. Insbesondere in den Handschriften aus Aquitanien wurden die Neumen, die bevorzugt aus kleinen Einzelzeichen, insbesondere Puncto, bestanden, häufig in eine Schrifthöhe zu den durchlaufend rastrierten Horizontallinien gebracht, aus der die genaue melodische Lage und die Weite der Intervallschritte hervorgeht. Es fehlte mithin nicht viel dazu, diese Horizontallinien mit Tinte durchzuziehen und festen Tonhöhen zuzuordnen. Wenn diese dann im Terzabstand zu liegen kamen und die Sekund-Schritte mit der Lage des einen Tons auf der Linie, des nächsten im Zwischenraum, des übernächsten auf der folgenden Notenlinie angezeigt waren, dann war ein Notenliniensystem wie das heutige schon da: Vier Linien reichten allerdings zumeist aus. Anstelle des Gebrauchs von Hilfslinien wurde vielfach eher der Notenschlüssel verschoben, das heißt jenes Symbol, das angibt, für welche Tonhöhe eine Referenzlinie stehen sollte – zumeist ein „c“ oder „f“.

Die Zeichen, die auf und zwischen den Linien eingetragen wurden, unterscheiden sich allerdings von den heute gebräuchlichen ausgefüllten und hohlen Notenköpfen, Notenhälsen, Achtelfähnchen und Balken etc. Sie waren zunächst auch nicht einheitlich gestaltet. Teilweise wurden einfach die geläufigen Neumen mehr oder weniger unverändert auf den Linien angeordnet. Mitunter wurden sie aber auch modifiziert.

Nacheinander, nebeneinander und teilweise durch die Einführung der Notenlinien kam es bei den Neumen aufs Ganze gesehen zu einem Rückgang der Zeichenvielfalt. Die Zusatzbuchstaben (literae signifikative), besondere Zeichen wie das Quilisma und der Oriscos, dann auch die Liqueszenzen wurden seltener. Geblieben sind hauptsächlich die Notenköpfe, die in unterschiedlicher Weise stilisiert wurden, und in verschiedenem Ausmaß die verbundenen und getrennten Schreibweisen. Die Befunde sprechen dafür, dass tendenziell mit dem Anliegen, die Tonhöhen und Intervallabstände möglichst genau nach vorgegebenen Halb- und Ganztonabständen zu notieren, ein gesunkenes Interesse daran einherging, weitere Aspekte des musikalischen Vortrags wie die agogischen und textdeklamatorischen Nuancen schriftlich festzuhalten. Je nach Zeit und Ort verhält es sich mit dem Genannten ganz verschieden: Beispielsweise sind in den Handschriften des am Nordrand der Alpen gelegenen Klosters Sankt Gallen die besonderen Zeichen um die Jahrtausendwende bereits großenteils verschwunden, die Notenlinien wurden aber noch lange nicht verwendet. In Aquitanien ist die Vielfalt der Neumenformen im Großen und Ganzen parallel zur präziseren Anordnung nach horizontalen Linien um die Jahrtausendwende zurückgegangen, wobei die Notenlinien zunächst noch nicht mit Tinte ausgeführt waren.

Wissens-Check

– Was ist der Unterschied zwischen einem Notat und einer Notation?

– Nennen sie mehrere Gründe, weshalb musikalische Notationen häufig so unterschiedlich aussehen und funktionieren.

– Was sind die Besonderheiten der Neumen? Weshalb ist es nicht vorstellbar, dass die späteren allgemein gebräuchlichen Notationen entstanden sein könnten, ohne dass ihnen die Neumennotationen vorangingen? Welche Merkmale der Neumennotationen lassen sich in einer mit der heutigen Notenschrift notierten Vergleichsversion besser wiedergeben, welche nicht so gut oder gar nicht?

– Worin unterscheiden sich die litterae significativae oder (insbesondere in älterer Literatur) „Romanus-Buchstaben” genannten Buchstaben von den Tonbuchstaben einer Tonbuchstabennotation?

– Worin besteht der Unterschied zwischen syllabisch und melismatisch notierten Abschnitten?

– Weshalb wurden die Gesänge, als man begann, sie auf Notenlinien zu notieren, auf ihre Tonarten und die Lage ihrer Halbtonübergänge hin geprüft und gegebenenfalls verändert?

– Nach welchen Kriterien kann man Melodieverläufe miteinander vergleichen, die man nur aus Neumennotaten kennt, die nicht auf Linien angeordnet wurden und die Tonhöhenabstände einzelner Töne nicht zu erkennen geben?

– Wie kann man es verstehen, dass aus dem 9. Jahrhundert zunächst viele verschiedene Notate eher geringen Umfangs und zu diversen Texten, auch solchen außerhalb der Liturgie, erhalten sind und durchgängig neumierte Handschriften für den liturgischen Gebrauch erst ab etwa 900 auf uns gekommen sind?

Die Musik des Mittelalters

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