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2.3 Abbildend hinweisende Notationen

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Jene Notationen, die ab dem 9. Jahrhundert am nachhaltigsten verbreitet wurden, sind entscheidend durch den abbildenden Charakter geprägt. Man bezeichnet sie als Neumen. Der Begriff ist mehrdeutig: „neuma“ wurde im Mittelalter häufig anders gebraucht und stand für ein Melodiesegment. Im aktuellen Sprachgebrauch ist unter dem eingedeutschten Fremdwort „Neume“ fast immer ein Notenschriftzeichen gemeint. Neumen bilden verschiedene Formen und wurden innerhalb verschiedener Schreibrichtungen ausgeprägt. Bald standen verbunden geschriebene Zeichenformen, bald eher einzelne, unverbundene Zeichenelemente nebeneinander. Im letzteren Fall kommen sie bisweilen schon in die Nähe von Formen wie den späteren eckigen oder auch den heutzutage verwendeten runden Notenköpfen.

Neumen stehen über den Gesangstexten und sind von diesen in gewisser Weise abhängig. In der Regel wurden sie nach dem Eintrag der Texte in den Zwischenräumen über diesen eingefügt, mitunter auch am Seitenrand. Die Textschreiber berücksichtigten häufig den Platzbedarf der Neumen, die sie manchmal selbst schrieben, häufig aber anderen Händen überließen. In gewisser Hinsicht erscheinen manche Neumen von ihren Texten allerdings auch ablösbar zu sein. Zumindest kann man gleiche melodische Verläufe zu verschiedenen Gesangstexten oftmals gut erkennen. Beispiele hierzu werden unten in Kapitel 3.2 näher erläutert.

Sofern sie die Melodieverläufe abbildend wiedergeben und dabei der geläufigen Metaphorik weithin folgen, nach der Töne höher oder tiefer zu liegen kommen, können Neumen aufgrund ihrer unmittelbar anschaulichen Gestalten begriffen werden. Bei vielen Notationen reicht es aber nicht aus, das Auf und Ab auf dem Beschreibstoff auf die erwähnte Weise zuzuordnen. Einige Zeichen sind nämlich eher in abstrakter Weise symbolisch zu verstehen. Das heißt, man benötigt wie bei den Tonbuchstaben oder bei den ekphonetischen Notationen ein Grundlagenwissen, um sie entschlüsseln zu können. Aber auch die aufs Erste betrachtet unmittelbar anschaulich erscheinenden Zeichenformen sind mit vielen weiteren Fragen verbunden. Heutzutage scheint es selbstverständlich zu sein, dass man hohe und tiefe Töne voneinander unterscheidet. Die Antike kannte aber andere Bezeichnungen wie spitz und schwer, acutus und gravis, für hoch und tief. Außerdem ist es nicht selbstverständlich, dass man die Höhe und Tiefe an einer gleichbleibenden Referenztonhöhe wie dem Kammerton a misst, nach dem heutzutage die Musikinstrumente gestimmt werden. Die Höhe und Tiefe von musikalischen Elementen kann auch fallweise auf kurze Abschnitte und Situationen bezogen werden. Das kann man gut daran nachvollziehen, dass ein Lied oder ein kurzer Liedausschnitt im Allgemeinen dann wiedererkannt wird, wenn die benachbarten Töne zueinander passen. Wie hoch man die Passage insgesamt singt, ist dabei zweitrangig.

Wenn Neumen die Höhe und Tiefe in irgendeiner Weise durch die Position auf dem Beschreibstoff anzeigen, kann die melodische Bewegungsrichtung anstelle der Einzeltonhöhen vorrangig sein. Der Schriftzug führt bei einer ansteigenden Melodiebewegung nach oben und umgekehrt. Dabei kann die Feder aber auf verschiedenste Weise schräg geführt worden sein. Daher unterscheidet man die charakteristischen Schreibrichtungen nach der sogenannten axe d’écriture, der Schriftachse. Beispielsweise kann eine Aufwärtsbewegung im 45-Grad-Winkel im Schriftzug nach rechts oben, eine Abwärtsbewegung aber vertikal nach unten führen. Diese Schriftrichtungen entsprechen dem Melodischen aber oft nur über einen ganz kurzen Ausschnitt hinweg wie beispielsweise über einer Silbe. Häufig gibt es eine grundlegende Ausgangsschrifthöhe über einer Silbe, zu welcher der Schreiber auch dann zurückkehrt, wenn ein erster Ton über der einen höher oder tiefer als ein darauffolgender über der nächsten Textsilbe liegen sollte. Hinzu kommt, dass man nach der heute gängigen Auffassung von Tonhöhen diese nach den zwölf Tonstufen pro Oktave bemisst. Ein größeres Intervall wie beispielsweise eine Quinte ist demnach immer um das gleiche Maß größer als ein kleines wie die kleine Sekunde, von denen sieben die Quinte ausfüllen. Im Schriftzug der Neumen geben die Abstände der Zeichen jedoch oftmals nicht den Abstand der Töne nach der Größe der Intervalle wieder. So kann es sein, dass intuitiv beispielsweise eine Melodiebewegung nach oben aus dem visuellen Erscheinungsbild eines Neumennotats herausgelesen werden kann, nicht jedoch wie weit sie in die Höhe führt.

Beim Umgang mit Neumen werden häufig Begriffe verwendet, mit denen die Art der Tonhöhenverdeutlichung näher gekennzeichnet ist: „Diastematisch“ werden Neumen genannt, welche die genauen Intervallabstände, die diastemata zu erkennen geben (von diastema, Zwischenraum, Abstand). „Adiastematisch“ sind jene, die das nicht leisten. Als „direktional“ kann man Neumen bezeichnen, welche die Richtung der melodischen Fortbewegung anzeigen. In der Regel wird dieser Begriff nur bei adiastematischen Neumen verwendet und steht für eine Untergruppe der letzteren. Insofern die exakten Intervallabstände bei diastematischen Notationen durch die genaue Position der Zeichen, zumeist ihrer Schrifthöhe in Bezug auf eine oder mehrere horizontale Linien, angezeigt ist, spricht man in Fällen, in denen dies offensichtlich nicht zutrifft, von Neumen in campo aperto.

Man kann sich aus heutiger Perspektive fragen, wozu so eine Schrift gut sein soll, mit der vermeintlich entscheidende Melodiemerkmale wie die Lage einzelner Töne oder die Weite der Intervalle vielfach nur kontextabhängig und nicht abstrakt gemessen wiedergegeben werden. Offenkundig erfüllten die Notationen aber damals bestimmte Zwecke. Zu diesen zählte jedoch nicht, dass jemandem, der die Melodien noch nie gehört hatte, jene Informationen verfügbar gemacht wurden, die er zu einem Vortrag benötigte, wie man ihn heute als „vom Blatt singen“ bezeichnet. Vielmehr konnten die Neumen jenen Personen, die jene Melodien schon gehört hatten und weithin kannten, anzeigen, dass sie sich innerhalb eines Bereichs der sanktionierten Singweisen bewegten, wenn ihre Ausführung mit den Zeichen konform ging. Sie konnten an melodische Anschlüsse verschiedener Teile und Wiederholungen erinnert werden – also jene Aspekte des Musikvortrags, die auch heutzutage beim Auswendigspiel oder Auswendigsingen häufig als prekär erfahren werden. Außerdem konnten die Neumen die Ausführenden bei der Vor- und Nachbereitung unterstützen, wenn sie überprüfen wollten, ob und inwieweit sie sich noch innerhalb der Tradition befanden, oder wenn sie einzelnen Lösungen detaillierter nachspüren wollten.

Andererseits geben die Neumen viele Merkmale des Musikalischen zu erkennen, die in aktuell gebräuchlichen Notationsweisen nicht angezeigt sind. Viele Zeichen können in bald größerem, bald geringerem Ausmaß und auf verschiedene Weisen verändert sein, um Feinheiten des Vortrags anzuzeigen, die im Agogischen, in der Textaussprache oder in anderen Eigenheiten lagen. Zu den entscheidenden Differenzen zählen jene der verbundenen und der getrennten Schreibweisen. Damit unterscheidet man Zeichen, die notiert werden konnten, ohne dass die Schreibfeder vom Pergament abgehoben werden musste, beziehungsweise deren Zeichenelemente unmittelbar aneinander anschließen, von den anderen, bei denen Zwischenräume blieben. Dabei gibt es zwei Grundregeln, die so gut wie immer eingehalten wurden und das Verbinden begrenzten: Erstens wurde bei Silbenwechseln im Text nicht verbunden notiert. Zweitens konnten Tonwiederholungen nicht verbunden geschrieben werden.

Wenn aus anderen Gründen die Zeichen nicht zusammenhängend eingetragen wurden, können diese auf verschiedene Voraussetzungen zurückgeführt werden. Zum einen wurden in gewissen Gegenden und Traditionen generell kleinere Zeichen wie Punkte oder kurze Striche bevorzugt. Dazu zählt der südwestfranzösische Bereich mit der aquitanischen Neumennotation.

An anderen Orten wurden aus mehreren Linien, Ecken und Biegungen zusammengesetzte Zeichen häufig verwendet. Wenn sie über einer Silbe in kurze Elemente aufgespalten wurden, sind darin von etlichen Musikwissen-schaftler_innen Hinweise auf einen modifizierten Vortrag gesehen worden.

Sehr viele Neumennotate enthalten besondere Zeichen oder Zeichenelemente, die kein Gegenstück in der aktuell verwendeten Notenschrift haben. An einigen Stellen beziehen sie sich auf den vorgetragenen Text, indem sie die Möglichkeit nasaler, halbkonsonantischer oder halbvokalischer Aussprachen aufnehmen. Beispielsweise stehen die sogenannten Liqueszenzen häufig über Silben mit mehreren Endkonsonanten, von denen einer liquide ist, das heißt wie s, r, l, m oder n mehr oder weniger in die Länge gezogen werden könnte. Andere Zeichen wie der Oriscos stehen bei Tonwiederholungen oder füllen wie das Quilisma häufig ein größeres Aufstiegsintervall. Das sind aber nicht die einzigen Situationen, in denen diese Zeichen verwendet sind und aus ihnen ergeben sich auch nur partiell Hinweise darauf, welche Vortragsweisen sie eigentlich anzeigen sollten. Zum Quilisma liegen zwar Textdokumente aus dem Mittelalter vor, die von einem Beben in der Stimme sprechen, das man in der Zeichenform vieler Neumennotationen wiedererkennen kann. Sein Gebrauch bleibt aber weithin rätselhaft.

Den Neumen sind in vielen Handschriften Buchstaben beigegeben, die keine Tonbuchstaben darstellen und sich nicht auf die Tonhöhe einzelner Töne beziehen. Man bezeichnet sie als litterae significativae, Zusatzbuchstaben oder, vor allem in der älteren Sekundärliteratur, als Romanus-Buchstaben. Aus den überlieferten Quellen geht ihre Bedeutung ein Stück weit hervor. Teilweise beziehen sie sich auf die melodische Bewegung und bezeichnen das Ansteigen, Abfallen oder Beibehalten von Tonhöhen. Andernteils verdeutlichen sie den melodischen Fluss, indem sie das schnelle Weitergehen oder das Anhalten anzeigen. Einiges ist aber auch ungeklärt, zumal verschiedene Buchstaben in den Handschriften das Gleiche bezeichnet haben könnten, wie „q“ und „e“, die beide für „(a)equalis“ (gleich) gestanden haben und das Beibehalten der Melodielage angezeigt haben dürften. Auf der anderen Seite ist nicht sicher, dass der gleiche Zusatzbuchstabe in verschiedenen Notaten auch das Gleiche bezeichnet. Beispielsweise könnte das eben genannte „e“ für „(a)equalis“ (gleich) einmal im engeren Sinne Tonwiederholungen, ein anderes Mal allgemeiner die beibehaltene tonräumliche Umgebung bezeichnet haben und durchaus mit einem kleineren Intervallschritt verbunden gewesen sein. Neben den litterae significativae kommen vereinzelt auch die sogenannten „tironischen Zeichen“ im Umfeld von Neumen vor. Es handelt sich um eine Kurzschrift, die auf Stenographien der Antike basierte.

Die erwähnten Merkmale der Neumennotationen schränken den intuitiv erfassbaren abbildhaften Charakter bald mehr, bald weniger ein. Auf jeden Fall bleibt dieser beim eher groben Blick auf die Neumen gewahrt: Viele Zeichen und Zeichenelemente stehen für viele Töne und Tonbewegungen einer Melodie. Beim näheren Hinsehen auf die Details reicht der unmittelbar nachvollziehbare Transfer vom Visuellen auf das Akustische jedoch vielfach nicht aus. Je nach Region und Zeitraum basieren die Grundelemente der Neumennotationen auf Symbolen, die voraussetzen, dass man die zugrunde liegenden Konventionen kennt, um sie entschlüsseln zu können. So wurde vielerorts die Virga, ein mehr oder weniger schräger kurzer Strich, zur Angabe des höheren Einzeltons, ein Punctum aber für den tieferen Einzelton verwendet. Das zweite Zeichen ist aber nicht einfach eine Umkehrung des ersten. In manchen Notaten – sie werden der in vielem rätselhaften und aus der Reihe fallenden paläo-fränkischen Notation zugerechnet – steht das erste Zeichen, der Schrägstrich, sogar für zwei Töne, einen tieferen gefolgt von einem höheren beziehungsweise für die ansteigende Melodiebewegung vom einen zum anderen.

Es gibt Hinweise darauf, dass die Entstehung der Neumen mit jenen Zeichen zusammenhing, die dafür verwendet wurden, die Wortakzente oder deren Umsetzung in einem bestimmten Sprachvortrag anzuzeigen. Das ist jedoch nicht die einzige Spur, der nachgegangen werden kann, wenn die Herkunft der Neumen erforscht werden soll. Denn sie ähneln auch jenen Zeichen, die in den Texten des früheren Mittelalters bisweilen eingesetzt wurden, um die Gliederung anzuzeigen, das heißt nach Art der heutigen Satzzeichen Komma, Punkt, Doppelpunkt, Semikolon etc. Beiden Spuren liegen Differenzen zugrunde, die nicht einfach eine höhere oder tiefere Lage einzelner ansonsten gleichgearteter Melodieelemente anzeigen. Sie mögen in den Zeichenformen, aber auch den Zeichenbedeutungen der Neumen bald mehr, bald weniger fortgewirkt haben. Auf jeden Fall machen sie darauf aufmerksam, dass zum intuitiven und visuell unmittelbar zugänglichen Verständnis der Neumen ein Fragen nach anderweitigen symbolischen Komponenten hinzukommen sollte.

Bekannt geworden ist ferner die Herleitung der Neumen aus möglichen Dirigierbewegungen der Kantoren. Aufgrund der Anschaulichkeit der Neumenformen und der vielfältigen Möglichkeiten, sie zu Körperbewegungen in Analogie zu setzen, könnte diese Auffassung von einer sogenannten „Cheironomie“ Vieles für sich haben. Jedoch fehlen in den Quellen die Hinweise darauf, dass die Neumen tatsächlich dorther stammen.

Die Musik des Mittelalters

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