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Verdi, ein politischer Komponist?

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er in zahllosen Nabucco-Vorstellungen des 20. Jahrhunderts wiederholte Gefangenenchor war Anlaß, Verdi als Komponisten zu sehen, der mit seinen frühen Opern politische Agitation betrieb. Verdi glaubte an die – 1842 noch in ferner Zukunft liegende – Einheit Italiens und befürwortete sie, es gibt allerdings keinen Anhaltspunkt dafür, daß er mit seinen Opern politisch etwas bewirken wollte. Auch die Aufführung von Aubers La Muette de Portici (Die Stumme von Portici) in Brüssel am 25. August 1830, nach welcher das Publikum der Vorstellung auf die Barrikaden ging, war nicht der Anlaß für die Revolution, die in weiterer Folge zur Unabhängigkeit Belgiens von Holland führte, sondern nur ihr Auslöser.

Verdi hatte, wie aus seinen Briefen ersichtlich ist, als Privatmann eine politische Meinung, wollte aber seine Kunst oder sich selbst keineswegs in den Dienst der Durchsetzung irgendwelcher politischer Ideen stellen. Wohl wurde er – wer kennt nicht das aus „Vittorio Emanuele Re D’Italia“ hergeleitete Akronym V.E.R.D.I. – als Symbolfigur für die Freiheit und Einigung Italiens[146] herangezogen, doch war er, was seine Person betraf, politischem Tun durchaus abgeneigt. Seine Tätigkeit als Abgeordneter übte er ab 1859 nur widerstrebend und so kurz wie irgend möglich auf Wunsch idealistischer Einigungspolitiker aus, wobei aber die von diesen angestrebte Wirkung in dem gewünschten Ausmaß ausblieb.

Daß er mit seinen Opern oft den Nerv der damaligen politischen Situation Italiens im Sinne der Befreiungsbewegung traf, war bis auf einige einzige, fünf Jahre in der Zukunft liegende Ausnahme, nicht Absicht, sondern unbeabsichtigte Nebenwirkung – Norditalien war ja von den Österreichern und den Franzosen besetzt. Dennoch will eine unausrottbare Legende, daß sich das Publikum der ersten Aufführungsserie des Nabucco, der von Solera für den politisch völlig unverdächtigen und an den italienischen politischen Verhältnissen uninteressierten Otto Nicolai verfaßt worden war, mit den von den Babyloniern unterjochten Juden identifizierte, und der „Va, pensiero“-Chor im Zuge der Befreiuungsbewegung zur geheimen Nationalhymne des Risorgimento wurde. Bekräftigt wurde diese Legende durch den Umstand, daß die Oper binnen weniger Monate nach ihrer Uraufführung an der Mailänder Scala sensationelle 65 Mal aufgeführt wurde, ein Ergebnis, das keine andere Oper in der Geschichte der Scala je erreicht hat.

Schon bei der Uraufführung soll eine Wiederholung dieses Chores verlangt worden sein, obwohl encores oder bis, wie Wiederholungen in Italien heißen, damals streng verboten waren. Neuere Forschungen haben gezeigt, daß tatsächlich die Wiederholung eines Chores verlangt worden ist. Es handelte sich aber nicht um den Gefangenenchor, sondern um die Schlußhymne „Immenso Jehova“, mit der die Hebräer Gott für ihre Rettung danken.

Heute weiß man, daß von einer geheimen Risorgimento-Hymne keine Rede sein kann. Der Erfolg des Nabucco lag nicht in der Identifikation der Italiener mit einem unterdrückten Volk begründet, sondern, wie erwähnt, vielmehr in der Neuartigkeit der kompositorischen Konzeption und der mitreißenden Gestaltung der Vokalpartien. Für das zeitgenössische Publikum neu waren vor allem die dramatischen Akzente der ungeheuer prägnant rhythmisierten Partitur sowie die Sopran- und die Baritonpartie. Die Rollen der Abigaille – ein dramatischer Sopran mit Koloraturfähigkeit, der enorme Intervalle bewältigen muß – und des Nabucco – mit seiner für die Zeit ungewöhnlich hohen, gelegentlich fast in Tenorlagen vordringenden Tessitura – stellten nicht nur die Interpreten der Uraufführung, sondern auch ihre Nachfolger in den folgenden 170 Jahren vor beträchtliche Probleme.

Es existieren keine Berichte oder Belege, die darauf hinweisen, daß der Nabucco-Chor vom Publikum damals politisch aufgefaßt oder auch nur besonders beachtet worden wäre. Doch nicht nur das: Es hat sich herausgestellt, daß vermeintliche Beweise mancher Autoren für diese Art der patriotischen Rezeption sich in Wahrheit gar nicht auf den Chor aus Nabucco bezogen. Dasselbe gilt für andere Verdi-Opern, bei deren Aufführungen patriotische Kundgebungen stattgefunden haben sollen, was aber nicht der Realität entsprach.

Bewußt als politisches Bekenntnis schrieb Verdi einzig und allein im Revolutionsjahr 1848 La battaglia di Legnano. Die übrigen seiner bisweilen als volksaufwiegelnd mißverstandenen Opern – I lombardi alla prima crociata (1843), Ernani (1844) und Attila (1846) – dienten ungewollt als Projektionsflächen für patriotische Gefühle der Zuhörerschaft. Daß diese frühen Opern vorwiegend Einzelschicksale behandeln und nicht, wie zum Beispiel bei Mussorgskis Boris Godunow, das Schicksal des Hauptdarstellers „Volk“, belegt Verdis Ablehnung der Vermittlung politischer Inhalte auf der Opernbühne. Ob und inwieweit Verdis politische Wirkung den „nationalistischen“ Opern Glinkas, Smetanas oder Mussorgskis, dem als gefährlich eingestuften Spiel Mozarts und Da Pontes mit der Beaumarchais-Vorlage bei Le nozze di Figaro, Beethovens Fidelio[147], Rossinis Guillaume Tell oder dem Unterschichten-Realismus des Verismo verwandt ist, wäre Gegenstand weiterer Untersuchungen.

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er Nabucco-Librettist Temistocle Solera (Ferrara 1816, nach manchen Quellen 1815 oder 1817 – Mailand 1878) wurde als Sohn eines patriotischen Beamten geboren, der 1821 wegen anti-österreichischer Umtriebe zu 20 Jahren Festungshaft im Brünner Spielberg verurteilt wurde. Quasi als Wiedergutmachung für die Verurteilung des Vaters durfte der kleine Temistocle in Wien unentgeltlich ein k.u.k. Kollegium besuchen, aus dem er 1826 – als Zehnjähriger! – floh. Er verkaufte seine Uniform, schloß sich einer Gruppe fahrender Zigeuner[148] an, für die er Pantomimen schrieb (in denen er auch selbst auftrat) und mit denen er durch Österreich und Ungarn zog, wurde von der Polizei gefangengenommen und nach Wien zurückgebracht. Wieder nach Italien zurückgekehrt, schloß er seine Schulausbildung in Mailand ab. Sein Vater wurde 1827 begnadigt.


Abb. 7 – Der Librettist Temistocle Solera (1816-1878)

1837 gibt er eine erste Verssammlung (I miei primi canti) heraus, der 1838 eine zweite (Lettere giocose) folgt. Bartolomeo Merelli nimmt von diesen Versuchen Notiz und vertraut dem Jungliteraten die Überarbeitung des nicht recht geglückten Librettos von Oberto Conte di San Bonifacio aus der Feder des Journalisten Antonio Piazza an.

In den nächsten fünf Jahren wird Solera nicht nur Verdis Librettist für Nabucco, I lombardi alla prima crociata, Giovanna d’Arco und Attila, sondern komponiert auch selbst Opern auf eigene Libretti, die – allerdings mit geringem Echo – sogar an der Scala aufgeführt wurden: Es sind dies La melodia (1839), Ildegonda (1840), Il contadino d’Agliate (1841). Mitten in der Arbeit am Attila-Libretto, das von Francesco Maria Piave fertiggestellt werden muß, überkommt ihn unvermittelt der Wunsch, nach Spanien zu reisen, wo er als Opernimpresario und, neben zahlreichen anderen Tätigkeiten, als Geheimberater der Königin Isabella (und wahrscheinlich als deren Liebhaber) aktiv wird. Nach seiner (aus unbekannten Gründen) überstürzten Rückkehr nach Mailand 1856 schreibt er Libretti für zweitrangige Komponisten.

Ab 1859 betätigt er sich als Geheimkurier zwischen Cavour und Napoleon III., um den Kontakt der italienischen Irredentisten[149] mit den französischen Behörden aufrechtzuerhalten, später als Sicherheitsbeauftragter des Innenministeriums gegen das Räuberunwesen in Italien. Er wird Polizeichef in Florenz, damals Hauptstadt des Königreiches Italien, und in verschiedenen anderen italienischen Städten, auch versucht er sich als Antiquitätenhändler in Florenz, wobei er allerdings von der mit Verdi befreundeten Gräfin Clara Maffei[150] und von Verdi selbst (anonym) finanziell unterstützt werden muß. Seine Wohnorte wechseln zwischen Potenza, Florenz, Bologna und Venedig. Er wird vom Khediven von Ägypten zur Reorganisation der ägyptischen Polizei angeworben, kehrt nach getaner Arbeit nach Europa zurück und läßt sich wieder als Antiquitätenhändler nieder, zuerst in Paris, dann in Florenz und schließlich in Mailand, wo er 1878 – dem Stil seines schillernden Bohémien-Daseins gerecht werdend – in völliger Verarmung, aber keineswegs in Vergessenheit stirbt. In allen wichtigen Zeitungen erscheinen umfangreiche Nachrufe, am Begräbnis nehmen „zahlreiche Literaten und Künstler und nicht wenige Sänger und Musiker usw.“ teil. Verdi erinnert sich auch in hohem Alter noch gerne an ihn und spricht von ihm als dem „kraftvollsten meiner Opernlibrettisten“.

Solera hat für das Nabucco-Libretto die Geschichte des Nebukadnezar einer unergiebigen Quelle (Altes Testament, 2. Könige 24, 25) entnommen und die übrigen Bühnenfiguren dazu frei erfunden. Dies wurde zumindest angenommen: Als Nabucco in Paris zum ersten Mal aufgeführt wird, melden sich Auguste Anicet-Bourgeois und Francis Cornue, die Autoren eines erfolgreichen Theaterstücks mit dem Titel Nabuchodonosor, das 1836 am Pariser Théâtre l’Ambigu-Comique gespielt worden war, und reklamieren, daß Teile des Opernlibrettos ihrem Stück entnommen worden waren. Der Vorwurf besteht zu Recht und Verdis Verleger Ricordi zahlt zähneknirschend 1.000 Francs an Tantiemen aus. Außerdem hat sich Solera auch von Antonio Cortesis Nabucodonosor-Ballett (Teatro alla Scala 1838) inspirieren lassen.

In die vorliegende definitive Form hat Solera das Libretto aber doch primär aus eigener Phantasie und nur zu ganz geringem Teil unter Verdis Einflußnahme gebracht: Das französische, formal sehr konventionelle Theaterstück war noch in routinierter Scribe-Manier verfaßt und hat mit dem Solera-Text nicht viel gemein. Unter den gegebenen Umständen kann Verdi Solera seinen Gestaltungswillen noch nicht so tyrannisch aufzwingen wie später seinem Freund Francesco Maria Piave. Immerhin bewirkt er Änderungen wie z.B. den Austausch eines bereits komponierten Liebesduetts zwischen Fenena und Ismaele, das ihn selbst nicht überzeugt, gegen die berühmte Prophezeiung des Zaccaria.

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erdi ist mit dem Nabucco über Nacht zur gefeierten Komponistenzelebrität geworden. Er beginnt, im kultivierten literarischen Salon der Gräfin Maffei zu verkehren, die ihm eine Freundin auf Lebenszeit werden soll, ebenso in jenem der Gräfin Giuseppina Appiani[151], und wird trotz seiner noch harschen Umgangsformen rasch von der im Musikmilieu tonangebenden Mailänder Aristokratie akzeptiert. Die vielzitierten anni di galera[152], die von Verdi so bezeichneten Jahre seiner Karriere bis 1858, in denen er wie ein Galeerensträfling bis zum Umfallen arbeitete[153], konnten beginnen.


Abb. 8 – Gräfin Clara Maffei (1814-1886). Photographie von Alphonse Bernoud.

Giuseppe Verdi. Leben, Werke, Interpreten

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