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Giovanna d’Arco

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itte November 1844 kehrt Verdi von Rom über Bologna, wo er einer Ernani-Aufführung beiwohnt, nach Mailand zurück. Er muß die Wiederaufnahme der Lombardi betreuen, mit der die Scala-Spielzeit am 26. Dezember eröffnet werden soll. Für diese Saison hat er Merelli auch die Komposition eine neuen Oper zugesagt. Diese Oper, die Verdi möglicherweise[213] als Ausgleich dafür schreibt, daß er „gezwungen [war], all die freundlichen Angebote, die mir Merelli gemacht hat, abzulehnen“[214], ist Giovanna d’Arco. Merelli hat als Librettisten wieder Solera ausgewählt, der den Text nach Schillers Die Jungfrau von Orleans verfaßt. Es ist denkbar, daß vielleicht sogar Solera und nicht Verdi selbst die Sujetwahl getroffen hat. Als der Verleger Giovanni Ricordi von dem Projekt erfährt, erkundigt er sich bei Solera besorgt über allfällige Copyright-Probleme. Zu gut erinnert er sich der Zahlungen, die er, nicht ganz freiwillig, in Frankreich anläßlich des Nabucco hat leisten müssen: Solera versichert ihm stolz, daß sein Werk ein „italienisches Originaldrama“[215] sei.


Abb. 18 – Der Geiger Giovanni Ricordi (1785-1853), der 1808 den Mailänder Musikverlag Casa Ricordi gründete und der erste von drei Generationen Ricordis war, mit denen Verdi zu tun hatte.

Manche Autoren beurteilen die Wahl des Stoffes als Notlösung: Schillers Drama scheint auf der Liste der in Frage kommenden Stoffe im Copialettere nicht auf und ist auch für die Opernbühne keine Neuheit, was ansonsten Verdis Ziel ist. In der Tat gibt es zahlreiche Vertonungen des Sujets, unter anderem von Vaccaj, Kreutzer, Pacini und Balfe.

Neben der Arbeit an der neuen Oper wird Verdi von den Lombardi-Proben in Anspruch genommen:

Donnerstag abend werden wir die [erste Aufführung der] Lombardi haben. Ich gehe mit dem signor Maestro zu den Proben und ich bedaure es, sehen zu müssen, wie er sich abmüht; er schreit so, daß man ihn für einen Besessenen halten könnte; er stampft so sehr mit den Füßen auf, daß man glaubt, er trete das Orgelpedal; er schwitzt so, daß ihm die [Schweiß-]Tropfen in die Partitur fallen. Gestern abend gingen die ersten beiden Akte perfekt; heute abend wird der Rest gut gehen. Alle sagen, daß die Lombardi mehr Furore als letztes Mal machen werden, was aber mehr zählt ist, daß es auch der signor Maestro sagt. Er sagt, daß alles besser geht als damals: der Chor, das Orchester, bei dem er will, daß einige Violinen und einige Kontrabässe hinzugefügt werden (das sind die Worte des signor Maestro), die Sänger. Collini macht seine Sache hervorragend, und so wird man die großartige Partie des Pagano zu hören bekommen, die man das letzte Mal nicht hörte, weil Derivis nicht bei Stimme war. Poggi gut; die Frezzolini[216] ist unerreicht.[217]

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er Tenor Antonio Poggi (Castel S. Pietro, Bologna 1806 – Bologna 1875) studierte u.a. bei dem berühmten Rossini-Tenor Andrea Nozzari. Nach zwei Debuts in Italien (ein erfolgloses und ein sehr erfolgreiches in Rossinis La donna del lago in Bologna) ging er 1827 nach Paris, wo er anfangs vorwiegend Rossini-Rollen sang. Nach seiner Rückkehr nach Italien machte er eine Karriere, deren Höhepunkte seine Tätigkeit am Wiener Kärntertortheater (1835, 1837, 1840) und in mehreren Spielzeiten (zwischen 1833 und 1845) an der Mailänder Scala war. Hier trat er 1833 in der Uraufführung von Donizettis Torquato Tasso auf, 1835 in der italienischen Erstaufführung von Bellinis I puritani. Sein Repertoire umfaßte Werke von Bellini, Donizetti, Verdi, Pacini und Mercadante, zu seinen Paraderollen zählten der Elvino in Bellinis La sonnambula und der Nemorino in Donizettis L’elisir d’amore sowie der Don Ottavio in Don Giovanni. Seine Ehe mit Erminia Frezzolini dauerte nur fünf Jahre.


Abb. 19 – Der Tenor Antonio Poggi (1806-1875). Lithographie von Josef Kriehuber.

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erdi zeigt sich mit den Ergebnissen der Proben dann aber doch nicht zufrieden und nimmt an den Vorstellungen der Lombardi nicht teil. Muzio berichtet über die Premiere vom 26. Dezember:

Der signor Maestro hat den ersten Vorstellungen der Lombardi nicht beigewohnt; wenn er dagewesen wäre, wären sie besser verlaufen, denn sie gefielen bei den Proben mehr als jetzt; das ist tatsächlich so, ich habe es heute morgen auch dem signor Maestro gesagt, daß auf einen Blick, auf ein Zeichen von ihm Sänger, Chor und Orchester wie von einem elektrischen Funken berührt werden, und dann geht alles gut. Die Frezzolini singt nicht mehr mit jener Kraft und Energie wie früher; sie kränkt sich, weil sie nicht mehr so beklatscht wird, wie sie gerne möchte, und dann weint sie, weil sie nicht mehr die [stimmlichen] Mittel wie in früheren Jahren hat. Poggi gefällt nicht. Gestern abend hatte er in seiner Kavatine einen Frosch, wie wir so sagen, und die Zuhörer begannen zu zischen und unruhig zu werden. Collini ist in seinem Gesang zu süßlich; und in den Ensembles hört man ihn nicht, da er ein Bariton ist, und die Partie ist für einen tiefen Baß geschrieben. Das große Ballett gefällt halbwegs; am ersten Abend hat man das Ballett nicht fertig gespielt, weil der Esel[218] nicht weitergehen wollte. Mittwoch werden wir das neue Ballett haben.[219]

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er in der Literatur oft mit Virgilio Collini, aber auch mit Filippo Coletti verwechselte Bariton Filippo Colini (auch: Collini; Rom 1811-1863) debutierte 1831 in Rom als Konzertsänger. Sein Bühnendebut erfolgte 1835 in Rossinis Aureliano in Palmira. Er sang zuerst in Italien Donizetti-Rollen (den Cardenio in Il furioso all’isola di San Domingo und die Titelrolle in Torquato Tasso, Neapel 1840) und etablierte sich ab 1843 als Verdi-Interpret (Nabucco an der Seite Giuseppina Strepponis, Ernani, Luisa Miller). Er kreierte außer dem Giacomo in der Giovanna d’Arco-Uraufführung auch den Rolando in La battaglia di Legnano (1849) und den Stankar in Stiffelio (1850). Weitere Paraderollen waren Luigi XIV. in der Uraufführung von Fabio Campanas Luisa di Francia sowie der Inquaro in Eugenio Terzianis Alfredo. Seine Karriere führte ihn an die großen Theater in Rom, Palermo, Neapel, Genua, Mailand sowie nach Wien, Paris, London und St. Petersburg. Obwohl Colini auch den Macbeth (mit Barbieri Nini) sang, war er doch noch ein ins Baritonfach tendierender basso cantante, der auch weiter die Rollen dieser Stimmkategorie wie den Severo in der Uraufführung von Donizettis Poliuto (1848) sang. Wenn Muzio ihn als Bariton bezeichnet, ist damit noch nicht der heutige hohe Bariton gemeint: Das Ansinnen, ein as’ oder a’ zu singen, hätte Colini entrüstet von sich gewiesen.


Abb. 20 – Der Bariton Filippo Colini (1811-1863). Lithographie von Josef Kriehuber.

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o kritisch Muzio die theaterpraktischen Aspekte wahrnimmt, so unkritisch steht er in seiner Begeisterung der gerade entstehenden Giovanna d’Arco-Musik gegenüber:

Gestern habe ich das große Duett der Giovanna, zwischen ihr und Carlo, gehört, wie sie sich verlieben; das ist das größte und wunderbarste Stück der Oper; ich habe das Finale des dritten Aktes gehört, wo die wunderbarste Melodie vorkommt, die man je gehört hat. Ich kann es nicht erwarten, die Oper auf der Bühne zu sehen.[220]

Schon am 9. Dezember 1844 hat Verdi bereits große Teile der Oper komponiert:

Wenn sie [Giovanna] nicht schon mit ihren Taten die Erinnerung an sich verewigt hätte, würde die Musik des signor Maestro sie unsterblich machen; keine Giovanna hat je eine philosophischere und schönere Musik gehabt. Die angsterregende Einleitung (die Inspiration dazu ist, wie Sie wohl wissen, inmitten von Felsenschluchten gekommen) [und] die wunderbare Nummer Maledetti cui spinse rea voglia, sind zwei Stücke, die jeden Menschen außer sich geraten lassen. Die Chöre der Dämonen sind originell, volkstümlich, echt italienisch. [...] In dieser Oper sind alle Musikgenres [vertreten]: das theatralische, das religiöse, das martialische usw. Alles, was ich gehört habe, gefällt mir unendlich gut; und es wird auch Ihnen gefallen.[221]

Am 12. Jänner 1845 vermeldet Muzio, daß Verdi mit der Instrumentation der Giovanna d’Arco begonnen hat, „jener Oper, die alle Mailänder begeistern wird“. Aufgrund von Muzios Berichten scheint die Annahme gerechtfertigt, daß Verdi die Musik in nur sechs bis acht Wochen komponiert hat. Die Premiere ist für den 15. Februar angesetzt, die Protagonisten werden dieselben wie bei der Lombardi-Neueinstudierung sein: Erminia Frezzolini (Giovanna), Antonio Poggi (Carlo VII.) und Filippo Colini (Giacomo). Doch es treten Schwierigkeiten auf: Poggi will aus dem Vertrag aussteigen, weil ihm Mißfallenskundgebungen angedroht werden. Diese scheinen weniger mit seiner gesanglichen Leistung zu tun haben, als mit dem Verdacht, daß er mit den österreichischen Besatzern sympathisiert. Verdi ist von all den Anstrengungen und Ärgernissen so sichtbar erschöpft, daß sich im heimatlichen Busseto das Gerücht verbreitet, seine Feinde würden ihn „wie den armen Bellini“ progressiv vergiften. In einem undatierten Brief von Ende 1844 oder Anfang 1845 dementiert Verdi die unsinnigen Gerüchte:

Was zum Teufel fällt denen ein, von Gift zu reden ... Bei Gott, in was für einem Jahrhundert leben wir!!.. Glauben Sie mir, in unserer Zeit verwendet man das nicht mehr. Bellini ist an Auszehrung gestorben, an nichts anderem als an Auszehrung.[222]

Bellini ist allerdings ebensowenig an Auszehrung gestorben[223] wie Verdi vergiftet werden soll. Die Proben gehen wie geplant voran, die Premiere findet pünktlich statt. Sie ist ein großer Publikumserfolg, obwohl Poggi mit Schmährufen bedacht wird, einige Kritiker äußern sich skeptisch, Verdi selbst hält sein Werk kurz und bündig für gelungen:

Die Oper hat einen guten Erfolg gehabt trotz zahlreicher Gegner. Sie ist ohne Ausnahme und ohne Zweifel die beste meiner Opern. Adieu.[224]

Die neue Oper wird in dieser Saison siebzehn Mal aufgeführt. In Mailand spielen kurz nach der Premiere Drehorgeln straßauf, straßab den Chor Tu sei bella (Prolog, 5. Szene), damals ein zuverlässiger Hinweis auf die Popularität einer Oper. Doch die vermeintliche Erfolgsidylle wird bald gestört: Merelli verhandelt hinter Verdis Rücken wegen des Verkaufs der Partitur mit Ricordi, welcher Verdi zwar korrekt, aber erst mit Verspätung von dem Vorgang in Kenntnis setzt. Der Komponist ist fuchsteufelswild und spricht mit Merelli und dem Personal kein Wort mehr. Der Impresario verschlimmert die Situation noch dadurch, daß er I due Foscari aufführt, wobei er allerdings den dritten Akt vor dem zweiten aufführen läßt. Verdi ist über Merellis Art, die Scala zu leiten, so erbost, daß er es nicht nur ablehnt, einen Fünfjahresvertrag (dessen Bedingungen Verdi diktieren hätte können) mit Merelli zu unterschreiben und die geplante Neueinstudierung des Ernani zu leiten, sondern feierlich schwört, nie wieder einen Fuß in die Scala zu setzen.[225] Er wird dieses Versprechen bis 1869, also fast ein Vierteljahrhundert lang, halten. Die bis dahin komponierten Opern werden in Neapel, Venedig, Florenz, London, Paris, Triest, Rom und St. Petersburg uraufgeführt werden: Der führende Komponist Italiens boykottiert das führende Opernhaus Italiens.

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iovanna d’Arco wird in Italien und im Ausland (Madrid 1846, Lissabon 1847, St. Petersburg 1849, Wien 1857) nachgespielt. Zur Eröffnung der Karnevalssaison 1845-46 bringt des Teatro La Fenice am 24. Dezember 1845 die Giovanna d’Arco heraus. Hier ist die Protagonistin Sofia Loewe (ihre Partner sind Carlo Guasco und Natale Costantini). Sie wünscht sich von Verdi, der sich in Venedig aufhält, um den Attila fertigzustellen und die Aufführung zu überwachen, eine eigens für sie komponierte Kavatine. Wie um sie für das entgangene Ernani-Rondo zu entschädigen, gibt Verdi ihrem Wunsch nach:

Hier ist die neue Kavatine. Ich überlasse es Euch, das Eigentum daran zu behalten oder mir zu überlassen. In letzterem Fall werdet Ihr es für billig finden, daß ich Euch bitte, mir zu garantieren, daß meine Rechte nicht verletzt werden, und daß also niemand eine Kopie davon anfertigt. Ihr könnt sie [die Kavatine] in der laufenden Saison verwenden, aber nur an den Abenden, an denen die Giovanna aufgeführt wird. Antwortet mir mit einer Zeile, damit ich mich danach richten kann: entschuldigt, daß ich nicht persönlich kommen kann.[226]

Die Musik dieser im Prolog einzufügenden Kavatine wurde bis heute nicht aufgefunden. Der Text des Andante “Potrei lasciare il margine” und der darauffolgenden Cabaletta “O se un giorno avessi un dono” ist durch das für diese Gelegenheit gedruckte Libretto erhalten geblieben. Er stammt mit ziemlicher Sicherheit von Piave.

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iovanna d’Arco ist keine hingeschluderte Oper, wie manchmal zu lesen ist (sonst hätte Verdi sie nicht hochgeschätzt), es sind aber doch zwei Dinge in ihr spürbar: Der Zeitdruck, der auf Verdi lastet, und die unbestreitbare Tatsache, daß das Libretto all jene Situationen vermissen läßt, die Verdi inspirieren. Dies ist wohl auch der Grund, weshalb er das klischeehafte Libretto unwidersprochen hinnimmt und auf Änderungsvorschläge verzichtet. Er weiß zu diesem Zeitpunkt, daß er zur Erfüllung seiner Verpflichtungen das Arbeitspensum weiterhin erhöhen muß: war es bis Ernani eine Oper pro Jahr, werden es in den noch bevorstehenden anni di galera zwei Opern sein, 1847 sogar zwei und eine Umarbeitung. Die Giovanna d’Arco wurde von Verdis nachfolgenden Opern übertroffen, weshalb sie nur mehr in den 1860er Jahren als Primadonnenvehikel ausgegraben wurde (für Teresa Stolz an der Scala 1865, und für Adelina Patti am Pariser Théâtre Italien 1868) und danach von den Spielplänen verschwand. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts tauchte die Oper wieder auf den internationalen Opernbühnen auf.

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