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Alzira
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erdis nächster Karriereschritt ist das mit Neapel bereits vorverhandelte Projekt Alzira (nach Voltaires Alzire ou les Américains, 1736). Das Teatro San Carlo ist zu dieser Zeit ein bedeutendes Opernhaus mit einem hohen künstlerischen Standard, das auf eine glanzvolle Tradition zurückblicken kann. Im 18. Jahrhundert hatte Neapel mit den am dortigen Conservatorio ausgebildeten Musikern die italienische (und europäische) Musikszene dominiert. Der letzte große Name, der Neapel geprägt hatte, war Rossini. Jetzt sind Mercadante und Pacini die führenden Komponisten in Neapel: beide sind älter als Verdi, beide sind ihm seiner Erfolge wegen nicht eben freundlich gesonnen.
Saverio Mercadante (Altamura 1795 – Neapel 1870) ist 1845 ein Machtfaktor in Neapel, da er seit 1840 das Conservatorio leitet. Er schreibt in einem eigenständigen Stil, der sich von Rossini, Bellini und Donizetti absetzt, und verwendet auf die Instrumentation mehr Sorgfalt als seine Kollegen. Er wird seine anfängliche Feindseligkeit Verdi gegenüber in späteren Jahren ablegen. Etliche seiner Opern überleben (Il bravo, Il reggente, Il giuramento) und werden im 20. und 21. Jahrhundert gelegentlich aufgeführt.
Giovanni Pacini (Catania 1796 – Pescia, Pistoia 1867) erinnert in seinem Stil bisweilen an Donizetti und Verdi, ist aber weniger an Orchestrierungsraffinessen interessiert als Mercadante. Er schreibt über siebzig Opern, die zu seiner Zeit ungeheuer populär sind (großen Erfolg hat seine 1840 uraufgeführte Saffo). Einigen von ihnen kann man heute hie und da als hochwillkommenen Raritäten begegnen, wie z.B. Saffo, Wien 1989 und Wexford 1995, Maria, regina d’Inghilterra, London 1996, L’ultimo giorno di Pompei, Martina Franca 1996, Carlo di Bordogna, London 2001, La poetessa idrofoba ossia Dalla beffa il disinganno, Pesaro 2001, Don Giovanni o Il convitato di pietra, Bad Wildbad 2008 usw. Den von der römischen Zensur abgelehnten Lorenzino de’ Medici-Text Piaves komponiert Pacini 1845 für Venedig.
Einer der Gründe für Verdis Interesse an einer Arbeit für Neapel ist neben dem, wie er weiß, schwer zu erringenden Prestigezuwachs im Falle eines Erfolges[227], die Möglichkeit der Zusammenarbeit mit Salvadore[228] Cammarano (Neapel 1801-1852), dem Hausdichter des Teatro San Carlo. Cammarano wurde zuerst als Maler ausgebildet, studierte dann aber Literatur an der Accademia Poetica Delfica und widmete sich ursprünglich erfolgreich dem Verfassen von Komödien und einer Tragödie. 1834 gab er die Tätigkeit als Bühnenschriftsteller auf, um sich nur mehr dem Librettoverfassen zu widmen. Sein Debut als Operndichter gibt er mit dem Libretto zu La sposa, das von Egisto Vignozzi vertont wird. Er schreibt acht Textbücher für Donizetti (darunter Lucia di Lammermoor, Roberto Devereux, Maria di Rohan, Poliuto, Belisario), zehn für Mercadante (darunter La vestale, Il reggente, Medea) und fünf für Pacini (darunter der Publikumserfolg Saffo). Seit Felice Romani nur mehr sporadisch als Textdichter tätig ist, gilt Cammarano als der führende italienische Librettist der Hochromantik. Er wird Verdi nach Alzira noch die Texte für La battaglia di Legnano und Luisa Miller liefern, während der Arbeit an Il trovatore wird er, erst einundfünfzigjährig, plötzlich versterben.
Abb. 21 – Der Librettist Salvadore Cammarano (1801-1852)
Ich habe den Entwurf der Alzira erhalten. Ich bin in jeder Hinsicht sehr zufrieden damit. Ich habe die Tragödie von Voltaire gelesen, die sich in den Händen eines Cammarano in ein ausgezeichnetes melodramma verwandeln wird. Man beschuldigt mich, daß ich den Lärm [in der Musik] sehr liebe und den Gesang schlecht behandle: achten Sie nicht darauf; legen sie nur Leidenschaft hinein und Sie werden sehen, daß ich passabel schreiben werde.[229]
Auch das Alzira-Libretto hat Verdi nicht selbst ausgewählt. Es ist sehr wahrscheinlich, daß er Cammarano die Wahl überlassen hat. Er ist mit Kommentaren zu Cammaranos Arbeit äußerst zurückhaltend und nimmt kaum Einfluß auf das Libretto. In seinen Briefen an den Librettisten schlägt er einen ungewohnt zahmen Ton an:
Ich habe das Duett und die Arie aus dem zweiten Akt erhalten. Wie schön sind diese Stücke! Die Dichtung ist Euch hervorragend gelungen. Was werde ich in der Musik machen?... Ich bitte Euch um Nachsicht meinen Noten gegenüber. Ich werde tun, was in meiner Macht steht. Gesundheitlich geht es mir besser, aber ich kann noch nicht so viel arbeiten wie früher.
Ungeduldig erwarte ich die Antwort der Impresa auf meinen Brief, dem ich die ärztlichen Bestätigungen beigelegt habe. Lebt wohl, mein Teuerster, bleibt mir gewogen und glaubt mir, daß ich einer Eurer größten Bewunderer bin.[230]
Das klingt nicht nach Verdi. Klingt es so, weil er krank ist und gute Miene zum bösen Spiel macht, weil nicht er, sondern die Impresa das Librettistenhonorar bezahlen muß? Da er wieder von seinen Beschwerden gequält wird, muß er den Impresario des Teatro San Carlo, Don Vincenzio Flauto[231], um Verschiebung der für Juni geplanten Premiere um zwei Monate ersuchen. Flauto, erfahren im Umgang mit sensiblen Künstlern, glaubt Verdi nicht und versichert ihm höhnisch, daß seine Gesundheit sich im sonnigen Neapel gewiß rasch bessern würde. Verdi hat ärztliche Bestätigungen vorgelegt und ärgert sich über den Impresario:
Wir Künstler dürfen nie krank sein. Da nützt es nichts, wenn man sich immer wie ein Ehrenmann benommen hat!... Die Impresari glauben einem oder glauben einem nicht, je nachdem, wie es ihnen in den Kram paßt. Ich kann die Art, in der mir Herr Flauto geschrieben hat, nicht gutheißen. Auch in dem Gespräch mit Euch zweifelt er meine Krankheit und meine Bestätigungen wiederum an.[232]
Inzwischen stimmt Flauto der Verschiebung der Premiere widerwillig zu. Verdi denkt inzwischen in Venedig, wo er sich mit Piave über zukünftige Projekte berät, über die Besetzung in Neapel nach:
Außergewöhnlich schön sind diese Verse der Kavatine der Alzira, besonders im Rezitativ und im ersten Teil. Seid so gut und sagt mir in Eurem nächsten Brief die Personen und in wieviele Akte Ihr das Drama einteilt. Es ist überflüssig, Euch Kürze und eine schöne Rolle für Coletti zu empfehlen.
Die Impresa schreibt mir, daß sie bis Juli keine andere [prima] donna als die Bishop hat. Wenn die Tadolini nicht singt, erübrigt es sich, darüber zu reden; aber wenn die Tadolini auf der [Besetzungs]liste der Truppe steht, wähle ich ohne jeden Zweifel sie. [...]
P.S. Verzeiht mir eine Bemerkung: Scheinen Euch drei Kavatinen in Folge nicht zu viele?... Verzeiht mir bitte.[233]
Seine Krankheit[234] kommt Verdi wegen seiner Besetzungspräferenzen nicht ungelegen. Am 20. Juni melden die Mailänder Tageszeitungen Verdis Abreise nach Neapel. Er führt die bis auf das Finale fertiggestellte Oper mit sich. Drei Wochen später ist die Oper komplett fertiggestellt:
Obwohl die Oper (bis auf die Instrumentation) fertig ist, konnte ich noch nicht mit den Proben beginnen, da Coletti indisponiert war. Hier geht alles so wie ich es will, und mit Ausnahme der Journalisten genieße ich die Gunst der ganzen Öffentlichkeit, ich werde an dem fatalen Abend auch keine Kabalen und Intrigen zu fürchten haben, wie ich glaubte.[235]
Cammarano hat in seinem Libretto von Voltaires Vorlage all das weggelassen, was seiner Meinung nach nichts auf einer Opernbühne verloren hat: religiöse und politische Inhalte, die Hauptelemente in Voltaires Arbeit, die in der Oper nur am Rande gestreift werden. Was übrig bleibt, ist das austauschbare romantische Dreiecksverhältnis der Opernfiguren Alzira-Zamoro-Gusmano sowie eine zu kurze Oper. Um sie zu verlängern, beauftragt Flauto Verdi mit der Komposition einer Ouverture[236]. Verdi stellt alles fertig, Ende Juli beginnen die Klavierproben. Über den Arbeitsfortschritt berichtet Verdi:
Ich habe die Oper auch in der Instrumentierung fertiggestellt; wegen der Bühnenbilder wird sich die Aufführung bis ungefähr 9. August verzögern. Ich wüßte kein Urteil über diese meine Oper abzugeben, weil ich sie beinahe ohne es zu bemerken und ohne Anstrengung geschrieben habe: deshalb würde es mich auch wenig schmerzen, wenn sie durchfiele ... Aber sei beruhigt, es wird kein Fiasko geben. Die Sänger singen sie gern, und etwas Erträgliches muß wohl darin sein. Ich werde gleich nach dem ersten Abend schreiben.[237]
Ostentative Bescheidenheit dringt aus diesem Brief, wie auch das Eingeständnis, für eine so wichtige Arbeit wenig Mühe aufgewendet zu haben. Verdi hofft selbstverständlich auf einen Erfolg, und er kann sich dabei auf ausgezeichnete Sänger stützen. Nicht auf die englische Sopranistin Ann Bishop, die in Neapel in I due Foscari erfolgreich war und für Eugenia Tadolini eingesprungen wäre, sondern auf die ursprünglich favorisierte Tadolini (Alzira), den Tenor Gaetano Fraschini (Zamoro) und den Bariton Filippo Coletti (Gusmano). Im ersten Brief des Copialettere war bereits von dieser Wunschbesetzung der Alzira die Rede (Punkt 4):
[Ich habe das Recht,] aus dem [Sänger-]Verzeichnis der Truppe die Sänger meiner Wahl auszuwählen, vorausgesetzt, daß in diesem Verzeichnis die Tadolini, Fraschini und Coletti aufscheinen.[238]
E
ugenia Tadolini (Forlì 1808 – Paris 1872) ist mehr durch Verdis berühmt gewordene Empfehlung, die Lady Macbeth mit „rauher, hohler, erstickter Stimme“[239] zu singen, als durch ihr anerkannt hervorragendes Können in die Musikgeschichte eingegangen. Es mutet merkwürdig an, daß die Siebenunddreißigjährige 1845 in der Literatur immer wieder als „nicht mehr jung“ beschrieben wird. Möglicherweise wird damit auf ihre stimmliche Verfassung angespielt, obwohl sie zum Zeitpunkt der Alzira-Premiere noch auf der Höhe ihres Könnens ist.
Abb. 22 – Die Sopranistin Eugenia Tadolini (1808-1872)
Sie kam als Eugenia Savonari zur Welt und wurde u.a. von ihrem Mann, dem Komponisten Giovanni Tadolini (Bologna 1789-1872), von dem sie sich 1834 wieder trennte, ausgebildet. Ihr Debut erfolgte 1828 in Florenz. Sie trat in Venedig und Triest auf, sang 1829 in Parma (Giulietta in Vaccajs Giulietta e Romeo), ging 1830 nach Paris, wo sie am Théâtre Italien in Rossinis Ricciardo e Zoraide, 1831 in Don Giovanni, Cimarosas Il matrimonio segreto und Donizettis Anna Bolena auftrat. Nach ihrer Rückkehr nach Italien debutierte sie an der Mailänder Scala im September 1833 in Luigi Riccis I due sergenti. Im Oktober trat sie dort in Donizettis Il furioso all’isola di San Domingo auf. 1835 lernte das Wiener Publikum sie in Donizettis L’elisir d’amore im Kärntnertortheater kennen, 1837 war sie in Florenz als Lucia di Lammermoor zu hören. 1838-39 kehrte sie mit Prigioni d’Edimburgo von Federico Ricci und Il bravo von Mercadante an die Scala zurück. Von 1839 bis 1843 sang sie in Genua, Bergamo, wiederum an der Scala, in Wien und Neapel. 1843 sang sie erstmals eine Verdi-Rolle: die Giselda in den Lombardi (im Oktober in Triest, im Dezember in Turin). 1844 ist sie in Wien als Elvira in Ernani zu hören. Sie ist als Donizetti-Spezialistin etabliert: der Komponist schreibt Rollen für sie (Linda di Chamounix, Wien 1842, Maria di Rohan, Wien 1843), sie singt die italienische Erstaufführung des Poliuto (Neapel 1848) und hat Donizetti-Opern wie Don Pasquale, Maria Padilla und Lucrezia Borgia im Repertoire. Donizettis böse Bemerkung über die Sängerin („Sie hat eine Stimme wie eine alte Zikade ...“[240]) bezieht sich auf ihre letzten Bühnenjahre. Die Alzira singt sie neben Attila und Don Pasquale in der Saison 1846-47 auch an der Mailänder Scala. Von diesem Haus, an dem sie 223 Mal aufgetreten ist, nimmt sie 1848 Abschied. Im selben Jahr tritt sie – mit geringem Erfolg – in London auf. 1851 nimmt sie in Neapel von der Bühne Abschied. Ihre letzten Auftritte erfolgen in Donizettis Maria di Rohan, Mercadantes La schiava saracena und in der Uraufführung von De Giosas Folco d’Arles. Sie lebt bis 1861 in Neapel und übersiedelt dann nach Paris.
Die Sängerin, die neben den erwähnten Donizetti-Rollen auch virtuose Bellini-Partien wie La sonnambula und I puritani sang, dürfte wie manch andere ihrer Kolleginnen ihre Stimme mit zu dramatischen Partien überanstrengt haben. Der Umstand, daß Verdi sie unter Vorwänden 1848 nicht in der Macbeth-Produktion in Neapel haben will, weist auf vorzeitige stimmliche Verschleißerscheinungen der Vierzigjährigen hin.
G
aetano Fraschini (Pavia 1816 – Neapel 1887) wird sich nach der Alzira-Uraufführung als einer der besten Verdi-Tenöre im Sinne des Komponisten erweisen. Verdi wird ihm die Tenorpartien in den Uraufführungen von La battaglia di Legnano, Il corsaro, Stiffelio und Un ballo in maschera anvertrauen und ihn in den jeweiligen Erstaufführungen von Simon Boccanegra (Neapel), I vespri siciliani (Turin), I due Foscari (London) und La forza del destino (Madrid) sowie in Wiederaufnahmen von Luisa Miller, Il trovatore, La forza del destino, Rigoletto, La traviata einsetzen. Der Umstand, daß Fraschini 1847 für Florenz nicht frei ist, führt dazu, daß Verdi den Macbeth komponiert, eine Oper, in der er keinen ersten Tenor benötigt.[241] Unter Verdis Anleitung entwickelt sich Fraschini im Laufe der Jahre von einem stentorischen Vokalisten[242] zu einem phantasievollen, nuancenreichen, den ganzen Dynamikbereich bewältigenden Interpreten, einem exemplarischen tenore di forza[243]. (Dieselbe Entwicklung wird, ebenfalls unter Verdis Anleitung, Francesco Tamagno, der erste Otello, durchmachen.)
Fraschini hatte als Kind im örtlichen Kirchenchor gesungen und debutierte 1837 in Pavia in Donizettis Gemma di Vergy. Über die Karrierestationen Bergamo, Lodi, Vicenza, Venedig, Piacenza und Turin gelangte er 1840 an die Mailänder Scala (Debut in Donizettis Marin Faliero, danach Auftritte in Cordellas Gli avventurieri) und danach an das Teatro San Carlo in Neapel (Faone in Pacinis Saffo), wo er bis 1848 regelmäßig engagiert war und auch nach 1852 wieder auftrat. Die erste Verdi-Oper, in der Fraschini auftrat, war Ernani im Teatro S. Benedetto in Venedig (Mai 1844), an der Seite von Filippo Coletti. Mit diesem Kollegen sang er 1845 auch die Erstaufführung der Foscari in Neapel. Fraschini sang im Ausland außer in London in Paris und in Wien, wohin er bis 1852 oft eingeladen wurde. Er trat auch in Uraufführungen von Opern von Pacini, Mercadante, Donizetti und Petrella auf. Sein Repertoire umfaßte 106 Hauptrollen. Er beendete seine Karriere 1873.
Abb. 23 – Gaetano Fraschini (1816-1887), der Lieblingstenor Giuseppe Verdis.
Das Notenbild der von Fraschini gesungenen Verdi-Partien gibt Aufschluß über seine stimmlichen Voraussetzungen. Seine Erfolge in den Tenorrollen in La battaglia di Legnano, I vespri siciliani, Un ballo in maschera, La forza del destino, Ernani, Luisa Miller, Il trovatore, Simon Boccanegra und Stiffelio, die den anspruchsvollen Verdi begeistern, bestätigen die Beschreibungen seines durchschlagskräftigen, jedoch auch zu Zwischentönen fähigen Tenors (den man sich – von der Stimmanlage, nicht jedoch vom Stil her – wie ein Mittelding zwischen Francesco Tamagno und Franco Corelli vorstellen kann). Es handelt sich fast durchwegs um sogenannte Zwischenfach-Partien, zu deren Bewältigung der Tenor eine robuste, technisch einwandfrei geführte Stimme mit ausgezeichneter Höhe[244] benötigt, Voraussetzungen, die Fraschini mit seiner leicht baritonalen Färbung voll erfüllt. Seine Stimme soll „wie ein großer Silberteller, der mit einem Hammer, ebenfalls aus Silber, angeschlagen wird“[245] geklungen haben. Sein Einsatz als Rigoletto-Herzog zeigt, daß die Rolle schon im 19. Jahrhundert von baritonalen Tenören mit heldischem Einschlag gesungen wurde. Der Umstand, daß Verdi den Riccardo im Ballo für Fraschini schrieb, ist ein Hinweis auf die vom Komponisten gewünschte Stimmcharakteristik. Erwähnenswert ist schließlich noch, daß der Stiffelio eine der stimmlich anspruchvollsten Verdi-Rollen ist. Er wird von vielen Tenören mit dem Radames und dem Otello verglichen und als kaum weniger anstrengend als diese Partien empfunden.
Zu seinen erfolgreichen Rollen anderer Komponisten zählen die Tenorpartien in Donizettis Lucia di Lammermoor, Caterina Cornaro, Lucrezia Borgia und Poliuto (eine ausgesprochen heldische Partie) sowie in Robert le diable oder Orazi e Curiazi (Mercadante).
D
er Bariton Filippo Coletti (Anagni, Frosinone 1811-1894) debutierte 1834 in Neapel als Prosdocimo in Rossinis Il turco in Italia und etablierte sich im ersten Jahrzehnt seiner Karriere als Bellini- und Donizetti-Spezialist. 1836 debutierte er in Lissabon, 1840 in London und Wien, 1841 an der Mailänder Scala. In Neapel wurde er 1844 von Donizetti in der Uraufführung der Caterina Cornaro eingesetzt. Nachdem er in diesem Jahr mit großem Erfolg in Venedig den Don Carlo in Verdis Ernani und den Nabucco gesungen hat, wird auch er zu einem der bevorzugten Interpreten Verdis. Nach der Alzira besetzt ihn Verdi 1846 in der Pariser Erstaufführung der Foscari, 1847 in der Uraufführung von I masnadieri in London, wo von der Kritik auch die darstellerische Leistung des Sängers anerkennend hervorgehoben wird, 1851 in der römischen Erstaufführung des Rigoletto (unter dem zensurbedingten Titel Viscardello) und 1858 auf Wunsch Verdis in der neapolitanischen Erstaufführung des Simon Boccanegra:
Abb. 24 – Filippo Coletti (1811-1894), einer der von Verdi bevorzugten Baritone.
Wenn Ihr wirklich die Absicht habt, den Boccanegra zu geben, scheint mir [die Besetzung ] mit Coletti, Fraschini und der Penco sowie einem Basso profondo, den man noch finden müßte, ausgezeichnet. Es wäre ein Fehler, diese Oper mit einer anderen Besetzung aufzuführen! Es gibt keinen besseren als Coletti für den Dogen. [246]
Gerühmt werden auch seine Interpretationen des Ezio in Attila, des Conte di Luna in Il trovatore, des Monforte in I vespri siciliani, des Simon Boccanegra und des Germont in La traviata. Die Überlegungen, den Re Lear zu komponieren, verbindet Verdi mit Coletti, den er sich in der Titelpartie vorstellen könnte.[247] 1869 beendet der Sänger seine Karriere in Neapel. Er veröffentlicht eine Abhandlung über die Gesangskunst.[248]
Coletti war, wie auch aus seiner Karriere abzulesen ist, ursprünglich ein basso cantante. Bei dem Versuch, sich ein Bild von seinen stimmlichen Möglichkeiten zu machen, darf man angesichts der von ihm interpretierten Verdi-Rollen allerdings nicht annehmen, daß er diese Rollen mit den heute vielfach üblichen, eingelegten, d.h. nicht komponierten Spitzentönen gesungen hat.
D
ie Uraufführung der Alzira geht am 12. August 1845 über die Bühne. Der Erfolg ist umstritten, auch weil die übergangene Sopranistin Ann Bishop nach Verdis Meinung Journalisten bestochen[249] und Protestaktionen organisiert hat. Die Zeitungen berichten von Applaus und Pfiffen, von Hervorrufen und Zischen. Einige Nummern finden lautstarke Zustimmung, andere werden mit eisigem Schweigen aufgenommen. Verdi wird im Verlauf des Abends fünf Mal hervorgerufen. Bei den Folgevorstellungen verwandelt sich die eingeschränkte Zustimmung in Ablehnung. Der Beweis für den Mißerfolg ist Verdis Versuch, aus einem Vertrag auszusteigen, der ihn zur Komposition einer weiteren Oper für Neapel verpflichtet (daraus wird mit zwei Jahren Verspätung 1849 die Luisa Miller werden). Diesmal irrt Verdi mit seinen Erfolgsprophezeiungen:
Dem Himmel sei Dank, auch das ist vorbei. Die Alzira ist auf der Bühne. Diese Neapolitaner sind grausam, aber sie haben applaudiert. Die Bishop hat mir eine Claque vorbereitet, die diese arme Kreatur gewaltsam zu Fall bringen wollte. Trotz alledem wird die Oper im Repertoire bleiben und, was mehr zählt, sie wird wie ihre Schwestern auf die Reise gehen.[250]
Wahrscheinlich am selben Tag berichtet er an Piave:
Meine Uraufführungen sind keine Vorstellungen, sondern Kämpfe. [...] Alzira hat so gefallen wie Ernani am ersten Abend in Venedig. Damit habe ich Dir alles gesagt. [...] Sie wird auch (wenn ich nicht irre) die übliche Reise antreten, und zwar bald, denn mir scheint, daß sie eine stärkere Wirkung als die Foscari hat.[251]
Der letzte Satz ist eine Taktlosigkeit, denn das Libretto der Foscari stammt von Piave.
A
m 28. Oktober 1845 wird die Alzira im Teatro Argentina in Rom aufgeführt. Es kommt zu ungefähr zehn Vorstellungen. Die Interpreten in Rom sind die Sopranistin Augusta Boccabadati, der Tenor Luigi Ferretti und der Bariton Antonio d’Avila. Wenn die Oper hier einen gewissen Erfolg hat, ist es, wenn man den Zeitungen Glauben schenkt, mehr das Verdienst der Interpretation und der luxuriösen Ausstattung als der Musik. Vier Monate später, am 17. Februar 1846 geht die Alzira in Parma über die Bühne. Die Interpreten heißen hier Adelaide Moltini, Giacomo Roppa (der Tenor der Foscari-Uraufführung) und Piero Balzar. Verdis Heimvorteil in Parma kommt nicht zum Tragen: „Bescheidener Erfolg“ kommentiert die Gazzetta di Parma, „Roppa ist der einzige, der Applaus erhalten hat.“ Für einen „historischen Erfolg“ hält hingegen Ricordis Gazzetta Musicale die Aufführung, obwohl auch sie „Zeichen der Ablehnung“ bei einigen Nummern ortet.
Nach Aufführungen in Lugo erreicht die Alzira am 16. Jänner 1847 die Mailänder Scala. Die Besetzung mit Eugenia Tadolini und Achille de Bassini ist glanzvoll, der Tenor ist John Reeves. Doch die Vorstellung gerät zum Fiasko. So sehr, daß die Oper nach ihrer einzigen Aufführung abgesetzt werden muß. Wie selbst das Ricordi-Blatt zugeben muß, liegt es an der Musik: „Alzira hat nicht gefallen, weil bis auf wenige Nummern die Musik der Alzira nicht gefallen hat.“
Obwohl die Oper 1847 in Ferrara (mit Carolina Cuzzani, wiederum Giacomo Roppa – ihm scheint die Partie besonders gut zu liegen – und Giovanni Corsi) und im selben Jahr in Venedig, 1849 in Barcelona (Carlotta Gruitz, Roppa, Gaetano Ferri) und in Lissabon (Marietta Gresti, Ambrogio Volpini und Gaetano Fiori) aufgeführt wird, kommt das Verdikt der Scala einem Todesurteil für Alzira gleich: Versuche der Wiederaufführung in Turin 1854 (Giuseppina Brambilla, Vincenzo Sarti, Alessandro Olivari) und in Piacenza 1857 führen zu vernichtenden Urteilen über die Musik. Die letzte Aufführung im 19. Jahrhundert erlebt das Werk 1858 in Malta. Danach verschwindet die Oper 109 Jahre lang von den Spielplänen. Rom spielt sie erstmals wieder 1967 mit Virginia Zeani, Gianfranco Cecchele und Cornell MacNeil, in späteren Jahren folgen vereinzelte Aufführungen, die dem Werk aber kein dauerhaftes Leben einzuhauchen vermögen.
D
er Arbeitsdruck der Galeerenjahre lastet schwer auf Verdi. Am 21. April 1845 hat er an seinen Freund Giuseppe Demaldé geschrieben: „Ich kann es kaum erwarten, daß diese drei Jahre vergehen. Ich muß sechs Opern schreiben und dann sage ich allem Adieu.“[252] Und ein halbes Jahr später, durchaus pessimistisch:
Danke für die Nachrichten über die Alzira, noch mehr aber danke ich Dir dafür, daß Du Dich an Deinen armen Freund erinnerst, der ständig dazu verurteilt ist, Noten zu kritzeln, vor denen Gott die Ohren jedes guten Christenmenschen bewahren möge. Gottverdammte Noten! Wie es mir an Körper und Seele geht? Körperlich geht es mir gut, aber die Seele ist betrübt, immer betrübt, und es wird immer so sein, bis ich diese Karriere, die ich verabscheue, beendet haben werde. Und danach? Es ist unnütz, sich Illusionen zu machen. Sie wird immer so betrübt sein! Glück gibt es für mich nicht.[253]