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b. Kritik an der Abwägungslösung und Vorzugswürdigkeit eines kollisionsrechtlichen Ansatzes

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Die Idee einer Abwägung widerstreitender Interessen – konkret des Selbstbestimmungsrechts einerseits und staatlich zu schützender Interessen andererseits – mag bei einem ersten Blick angesichts der umfassend ausgearbeiteten Dogmatik zur Abwägung von Freiheitsgrundrechten naheliegen. Dies gilt umso mehr, als es durchaus zutreffend ist, Art. 137 Abs. 3 WRV als ein Freiheitsrecht der Institution Kirche zu bezeichnen.

Zur Beurteilung einer Schrankenbestimmung ist es jedoch nicht ausreichend, isoliert die Schranke in den Blick zu nehmen und das Schutzgut außer Acht zu lassen. Denn auch der Verfassungsgeber bestimmt die konkrete Reichweite eines Rechts nicht allein durch die Festlegung der Schranke, sondern er beachtet vielmehr das Zusammenspiel von Grundsatz und Grenze.138 Der Abwägungslösung des Bundesverfassungsgerichtes liegt nunmehr jedoch die Annahme zu Grunde, dass es grundsätzlich möglich sei, jedes staatliche Interesse als Gegenposition zum Selbstbestimmungsrecht der Kirche in die Abwägung mit einzubeziehen. Damit geht die Gefahr einher, dass das Selbstbestimmungsrecht der Kirche willkürlichen Gemeinwohlerwägungen des Staates preisgegeben wird.139 Da das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich jedes staatliche Interesse für abwägungsrelevant erachtet, steht zu befürchten, dass die ursprüngliche Funktion und Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts aus dem Blick verloren wird. Dass sich das Bundesverfassungsgericht dieser Schwäche der Abwägungslehre durchaus bewusst ist, zeigt sich darin, dass es die besondere Bedeutung erneut zu begründen versucht und dabei die Religionsfreiheit als Rettungsanker gegen eine Unterwanderung des Selbstbestimmungsrechts heranzieht140. Dass das Selbstbestimmungsrecht jedoch nicht ausschließlich auf die Religionsfreiheit bezogen ist, sondern vielmehr für die Kirche eine gewichtige Eigenbedeutung hat, wurde bereits dargelegt.141 Die Schwäche der Abwägungslösung liegt also darin begründet, dass der eigenständige Bedeutungsgehalt des Selbstbestimmungsrechts in Vergessenheit gerät.

Eine Dogmatik, die eine Bestimmung der Schranke des Selbstbestimmungsrechts zutreffend vornehmen will, muss deshalb den Eigenwert und ursprünglichen Gewährleistungsgehalt des Selbstbestimmungsrechts im Blick behalten. Wird die verfassungsrechtliche Gewährleistung als eine bewusste Privilegierung der Kirchen bei der Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung verstanden, so folgt daraus, dass es der Institution Kirche grundsätzlich möglich bleiben muss, die eigenen Angelegenheiten nach ihren Vorstellungen zu regeln, ohne zugleich stets irgendwelche willkürlich gewählten staatlichen Gemeinwohlerwägungen einbeziehen zu müssen. Stehen sich Kirche und Staat als Institutionen gegenüber, in deren Verhältnis nach der verfassungsrechtlichen Ausgestaltung grundsätzlich die eigenständig getroffene kirchliche Regelung in den eigenen Angelegenheiten den Vorrang hat, darf diese Freiheit zur Regelung nicht durch die Absenkung der Schrankenanforderungen gleichsam durch die Hintertür wieder aufgehoben werden. Vielmehr ist zu beachten, dass der Institution Kirche durch die Verfassung eine eigenständige Regelungskompetenz zuerkannt ist, die nicht durch jedes einfache staatliche Gesetz zur Umsetzung beliebig gewählter Allgemeinwohlinteressen beeinflusst und beschränkt werden kann.142

Bei der Garantie des Selbstbestimmungsrechts handelt es sich nicht nur um eine freiheitsrechtliche Verbürgung mit Bezug auf die Religionsfreiheit, sondern sie geht weiter: Die Regelungskompetenz in den eigenen Angelegenheiten ist der Kirche unabhängig von der Religionsfreiheit institutionell gewährleistet. Damit hat die Garantie einen umfassenderen Gehalt als ein klassisches Freiheitsgrundrecht, das primär der Abwehr von Eingriffen in eine Freiheitsposition dient.143 Der Kirche wird nicht nur die Freiheit, sondern zusätzlich auch die grundsätzlich ausschließliche Kompetenz zur Regelung in den eigenen Angelegenheiten garantiert.144

Dieses Verhältnis von Kirche und Staat legt es nahe, Art. 137 Abs. 3 WRV als eine Kollisionsnorm zu begreifen.145 Die Frage nach der Verortung der Eigenrechtsmacht der Kirche im Verhältnis zur Rechtsmacht des Staates ähnelt nun freilich derjenigen Kollisionsproblematik, die sich stellt, wenn Rechtsvorschriften von Drittstaaten in der Bundesrepublik Deutschland einen Geltungsanspruch erheben.146 Die Anerkennung des Rechts von Drittstaaten in Deutschland erfolgt unter Anwendung des ordre-public-Vorbehalts; das Drittstaatrecht wird grundsätzlich anerkannt, es sei denn, dass es prägenden Grundannahmen der nationalen Rechtsordnung widerspricht.147 Ferner findet bei der Anerkennung ausländischer Rechtsnormen Beachtung, dass die grundgesetzlichen Annahmen beim Vorliegen eines Auslandssachverhalts eine andere Wertung erfahren können, als sie es bei reinen Inlandssachverhalten haben würden.148 Dieser kollisionsrechtliche Modus der Anerkennung kann auch für die Einwirkung kirchlicher Rechtsnormen auf den säkularen Rechtskreis herangezogen werden: Kirchliches Recht gilt danach grundsätzlich auch im staatlichen Rechtskreis; der Anerkennung des kirchlichen Rechts können nur bestimmte, besonders bedeutsame Grundsätze der staatlichen Rechtsordnung entgegengesetzt werden.

Durch den Rückgriff auf diesen kollisionsrechtlichen Anerkennungsmodus wird indessen der genaue materielle Inhalt der Schrankenklausel des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts – insbesondere also welche staatlich zu schützenden Rechtsgüter gegenüber einer kirchlichen Regelung unabdingbar und damit vom „ordre-public-Vorbehalt“ erfasst sind – noch nicht endgültig vorgegeben;149 die gegenüber dem kirchlichen Recht unabdingbaren und insoweit grenzziehenden Grundsätze der staatlichen Rechtsordnung sind vielmehr eigens zu bestimmen. Für die in der Bundesrepublik Deutschland geltende Rechtsordnung formuliert nun allerdings zweifelsohne das Grundgesetz die wesentlichen und prägenden Grundannahmen. Daher ist es das gesamte Verfassungsrecht, das als Grenze und Maßstab für die Anerkennung kirchlicher Regelungen dient und „das für alle geltende Gesetz“ der Schrankenbestimmung inhaltlich konkretisiert.150 Dies ist auch insoweit selbstverständlich, als das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen in die Verfassungsordnung eingebunden ist und damit dem Prinzip der Einheit der Verfassung Rechnung tragen muss. Auf diese Weise ist der Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts in möglichst weitgehender Weise zur Geltung verholfen, während zugleich das Grundgepräge des Staates nicht in Frage gestellt wird.151 Die Trennung von Kirche und Staat – verstanden als möglichst weitgehende Freiheit beider Institutionen voneinander – wird so unter Berücksichtigung der Wertungen des Grundgesetzes vollzogen. Dieser Wertung steht auch nicht entgegen, dass insoweit ein Gleichlauf mit der allgemeinen Dogmatik zur Beschränkung durch kollidierendes Verfassungsrecht zu beobachten ist; unter der Weimarer Verfassung war diese Dogmatik noch nicht entwickelt, sodass der Schrankenformel des Art. 137 Abs. 3 WRV zum Entstehungszeitpunkt durchaus eine eigene Bedeutung zukam.152

Als für alle geltendes Gesetz können demnach grundsätzlich nur Rechtsgüter mit Verfassungsrang berücksichtigt werden. Konkret bedeutet dies, dass sich die Kirchen uneingeschränkt selbst organisieren und verwalten können und ihre in Ausübung dieser Befugnis getroffenen Regelungen auch im staatlichen Rechtskreis Anerkennung finden, soweit sie andere Verfassungspositionen respektierten. Für den kirchlichen Gesetzgeber ist es deshalb aber auch zwingend, dass er bei der Regelung der eigenen Angelegenheiten gegenläufigen Verfassungsgütern und damit verbundenen staatlichen Schutzverpflichtungen Rechnung trägt.153 Damit beweist die Kirche ihrerseits, dass sie nicht in einem rechtsfreien Raum, sondern innerhalb der von der Verfassungsordnung vorgegebenen Regelungsräume agiert. Verzichtet die Kirche auf eine entsprechende Rücksichtnahme, haben ihre Regelungen zwar innerkirchlich noch Verbindlichkeit, verlieren allerdings ihre Anerkennung im staatlichen Rechtskreis.154

Für die Überprüfung, ob eine kirchliche Regelung in ausreichender Weise gegenläufige Verfassungspositionen berücksichtigt, ist aufgrund der Kollisionsregel des Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV der Staat zuständig. Dies folgt bereits daraus, dass es sich bei der Verfassung um staatliches Recht handelt und der Staat auch zum Schutz anderer Verfassungsgüter verpflichtet ist. Die Abwägung, ob widerstreitende Verfassungspositionen ausreichend zur Geltung gebracht sind, muss jedoch – ebenso wie die Überprüfung ausländischer Rechtssätze am ordre-public-Vorbehalt – berücksichtigen, dass die Einbindung der widerstreitenden Verfassungsgüter in der kirchlichen Regelung eine „Anpassung […] im Hinblick auf die Erfordernisse des kirchlichen Auftrags“ notwendig macht.155 Insoweit kommt dem kirchlichen Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative zu, wenn er die widerstreitenden Verfassungsgüter in Ausgleich bringt und hierzu eine Gewichtung vornimmt, in welchem Umfang sich das jeweilige Verfassungsgut verwirklicht. Zu beachten ist also, dass im Rahmen einer Prüfung der Einhaltung des Schrankenvorbehalts die Abwägung zu einem bestimmten Teil auch immer durch das Selbstverständnis der Kirche beeinflusst wird; der kirchliche Gesetzgeber muss sein Selbstverständnis benennen und die jeweilige Gewichtung des eigenen Selbstverständnisses im Verhältnis zu der Gegenposition vornehmen.156 Auf diese Weise kann das Selbstbestimmungsrecht der Kirche auch eine gewisse Aufwertung gegenüber möglichen widerstreitenden Verfassungspositionen erfahren. Der Prüfungsmaßstab ist folglich gegenüber einer einfachen Abwägung von Verfassungsgütern modifiziert.157 Die konkrete Ausgestaltung ist staatlicherseits nur eingeschränkt daraufhin zu überprüfen, ob der von der Kirche vorgenommene Ausgleich willkürlich ist oder den Wesensgehalt der widerstreitenden Verfassungspositionen nicht beachtet. Der institutionelle Charakter des Selbstbestimmungsrechts erfordert folglich eine asymmetrische Abwägung zwischen dem Selbstbestimmungsrecht und den verfassungsrechtlichen Gegenpositionen.158 Vor diesem Hintergrund erweist sich auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die innerhalb der Abwägung des Selbstbestimmungsrechts mit gegenläufigen staatlichen Interessen ersterem ein besonderes Gewicht zuspricht,159 als zutreffend, wenngleich das Bundesverfassungsgericht das besondere Gewicht des Selbstbestimmungsrechts auf die grundrechtlich verbürgte Religionsfreiheit zurückführt.160

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