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(1) Verfassungsrechtliche Mindestvorgaben für das Betriebsverfassungsrecht – staatliche Schutzverpflichtung

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Eine eigene verfassungsrechtliche Vorschrift, die die Arbeitnehmermitbestimmung garantiert, enthält das Grundgesetz nicht.162 Es fehlt an einer expliziten Verfassungsangabe zu einem Mindestmaß der Arbeitnehmermitbestimmung. Lediglich in der Kompetenzvorschrift des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG findet die Betriebsverfassung als Regelungsmaterie überhaupt Erwähnung.

Indessen darf dies nicht zu dem Gedanken verleiten, dass sich das Grundgesetz gegenüber dem Gedanken der Arbeitnehmermitbestimmung indifferent verhielte. Vielmehr wird überwiegend ein Handlungsauftrag an den staatlichen Gesetzgeber zur Einrichtung einer Betriebsverfassung aus dem Zusammenspiel von Arbeitnehmergrundrechten und Sozialstaatsprinzip hergeleitet.163

Als schutzpflichtbegründendes Grundrecht wird insbesondere die durch Art. 12 GG garantierte Berufsfreiheit der Arbeitnehmer benannt.164 Ergänzend werden auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG sowie die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG herangezogen.165 Im Hinblick auf ihre Eigenschaft als Freiheitsgrundrechte muss allerdings berücksichtigt werden, dass es sich bei ihnen zunächst um Abwehrrechte des einzelnen Bürgers gegenüber dem Staat handelt.166 So können sich sowohl der Arbeitgeber als auch der Arbeitnehmer auf Art. 12 GG berufen, wenn der Staat regulierend in ihre Berufsfreiheit eingreift.167 Die durch Art. 1 Abs. 3 GG vorgeschriebene Grundrechtsbindung aller Staatsgewalt sichert die grundsätzlich privatautonome Regelung der Beziehung von Arbeitnehmer und Arbeitgeber und verbietet eine umfassende Verstaatlichung des Arbeitsverhältnisses. So gewährleistet die Berufsfreiheit eine Arbeitsrechtsordnung, deren tragendes Grundprinzip die Privatautonomie der handelnden Akteure ist.168 Wird Art. 12 GG nun zusätzlich als schutzpflichtbegründende Norm aufgefasst, so geht hiermit der an den Staat gerichtete Auftrag einer gewissen Regulierung der grundsätzlich freiheitlich ausgerichteten Arbeitsrechtsordnung einher.

Den Ausgangspunkt für die Herleitung der staatlichen Schutzverpflichtung bildet die Überlegung, dass die durch die grundrechtliche Verbürgung der Berufsfreiheit eigentlich intendierte freiheitliche und selbstbestimmte Entfaltung der Persönlichkeit häufig für den einzelnen Arbeitnehmer selbst überhaupt nicht zu erreichen ist. Die Gründe für diese mangelnde Möglichkeit zur Freiheitsverwirklichung sind indessen durchaus vielgestaltig.169 Sie finden ihre Entsprechung in der Diskussion um die Zweckbestimmung des Arbeitsrechts.

Besondere Prominenz hat in diesem Zusammenhang die These erlangt, dass der Vertragsschluss als Mittel zur Freiheitsverwirklichung beider Vertragsparteien versage, wenn eine Partei aufgrund ihrer Übermacht die Vertragsbedingungen gewissermaßen einseitig festzusetzen vermag, während die andere Vertragspartei aufgrund ihrer schwachen Verhandlungsposition und ihrer Angewiesenheit auf den Vertragsschluss dem Fremddiktat eher gezwungenermaßen denn aufgrund eines selbstbestimmten und freiheitlichen Entschlusses zustimmt.170 Gerade für das Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer wird von einer derartigen Vertragsimparität ausgegangen;171 auch das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung die „strukturelle Unterlegenheit der einzelnen Arbeitnehmer beim Abschluss von Arbeitsverträgen“ postuliert.172

Ferner wird darauf hingewiesen, dass der Arbeitnehmer in einem Arbeitsbereich tätig werde, der im Regelfall überwiegend bis vollständig der einseitigen Organisations- und Entscheidungsgewalt des Arbeitgebers unterliegt. Die einseitige Organisationsgewalt wirke sich für die ihr Unterworfenen potentiell freiheitsbegrenzend aus.173 Nun ließe sich die dem Arbeitgeber durch das einseitige Bestimmungsrecht ermöglichte Fremdbestimmung über den Arbeitnehmer vordergründig ebenfalls allein darauf zurückführen, dass der Arbeitgeber seine Befugnisse gegenüber dem einzelnen Arbeitnehmer unter Ausnutzung des vertragsimparitätischen Verhältnisses ausweitet. Indessen darf ein weiterer tragender Grund für die einseitige Bestimmungsbefugnis nicht übersehen werden. Denn selbst wenn die postulierte Vertragsimparität hinweggedacht wird, stellt sich das einseitige Bestimmungsrecht für den Arbeitgeber in gewissem Umfang als unverzichtbar dar; die Koordination von Betriebsabläufen erfordert solche Leitungsbefugnisse des Arbeitgebers, die es ihm ermöglichen, einseitig die effiziente Zusammenarbeit der Arbeitnehmer zur Erreichung eines gemeinsamen Produktionsergebnisses sicherzustellen.174 Eine gewisse freiheitbegrenzende Wirkung zulasten des Arbeitnehmers ist dem Arbeitsverhältnis deshalb selbst dann immanent, wenn ein vertragsimparitätischer Zustand nicht gegeben ist.175

Schließlich kann auch das Tätigkeitwerden verschiedener Arbeitnehmer für einen gemeinsamen Arbeitgeber eine potentielle Freiheitsbegrenzung zulasten Einzelner mit sich bringen.176 Angesprochen ist damit das Verhältnis, das Franz Gamillscheg als „die dritte Dimension des Arbeitsrechts“ bezeichnet hat.177 Der einem einzelnen Arbeitnehmer gewährte Vorteil kann sich nachteilhaft für die anderen Arbeitnehmer auswirken. Die selbstbestimmte Verwirklichung des einen Arbeitnehmers kann mittelbar eine Beschränkung der Freiheiten der übrigen Arbeitnehmer bedingen.178 Begrenzte Ressourcen können einen Verdrängungswettbewerb unter den Arbeitnehmern auslösen.179 Schlimmstenfalls erfolgt die Freiheitsentfaltung des einen Arbeitnehmers auf eine Weise, die zugleich diejenige eines anderen Arbeitnehmers vollständig verhindert. Die Position des einzelnen Arbeitnehmers wird daher nicht nur unmittelbar durch bestimmte Interessen des Arbeitgebers betroffen, sondern zusätzlich auch durch die Tatsache, dass in einem Sozialverband verschiedene Arbeitnehmer unterschiedliche Einzelinteressen verfolgen können.180

Diesen Freiheitsgefährdungen muss der Staat entgegenwirken, soll die durch das Grundgesetz gewährleistete Freiheit des Einzelnen nicht zu einem inhaltsleeren Begriff verkommen. Hat daher der Staat solchen Entwicklungen zu begegnen, die die Freiheitsentfaltung des einzelnen Arbeitnehmers in nicht mehr hinzunehmendem Maße bedrohen, so beinhaltet dieser grundrechtliche Schutzauftrag hingegen keine konkrete Vorgabe an den staatlichen Gesetzgeber.181 Wie erheblich eine bestimmte Gefährdung ist und wie ihr entgegenzuwirken ist, unterfällt vielmehr einem weitreichenden Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers.182 Die grundrechtliche Verbürgung gibt daher nicht zwingend vor, welche gesetzgeberischen Maßnahmen ergriffen werden müssen, um die Schutzverpflichtung zu erfüllen. Vor diesem Hintergrund lassen sich aus der grundrechtlichen Schutzverpflichtung keine exakten Mindestvorgaben für das Betriebsverfassungsrecht herleiten.183

Auch das teils184 für die staatliche Schutzverpflichtung ebenfalls angeführte Sozialstaatsprinzip macht insoweit keine weitergehenden Vorgaben. Das durch die Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG verbürgte Prinzip stellt vielmehr ein weitgehend gestaltungsoffenes Verfassungsprinzip dar, das ausschließlich den Staat zur Gewährleistung einer gerechten Sozialordnung verpflichtet.185 Dem Prinzip lassen sich indessen keine bestimmten Rechtsgewährleistungen oder Anforderungen an eine sozialstaatliche Ordnung entnehmen.186

Folglich ist mangels konkreter inhaltlicher Vorgaben dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum eröffnet, wie er seine Schutzverpflichtung durch entsprechende Gesetze erfüllt. Infolgedessen obliegt es auch allein dem Gesetzgeber, die konkrete Ausgestaltung einer Betriebsverfassung vorzunehmen und ihre exakte Zielrichtung zu definieren.187 Aus dem Verfassungsrecht lässt sich nur herleiten, dass es eine Betriebsverfassung geben kann, nicht hingegen ihre konkrete Gestalt und Reichweite.188 Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass nach alledem aus der konkreten Ausgestaltung des Betriebsverfassungsrechts durch den staatlichen Gesetzgeber keine Rückschlüsse gezogen werden können, in welcher Form der verfassungsrechtliche Schutzauftrag umzusetzen ist. Dies bedeutet insbesondere, dass es keine unmittelbare verfassungsrechtliche Gewährleistung bestimmter Mitbestimmungsrechte gibt.189 Auch die Befugnisse der Betriebsparteien zur Regelung bestimmter Angelegenheiten durch eine Betriebsvereinbarung sind nicht verfassungsrechtlich verbürgt.

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