Читать книгу Die Literatur im Zeitalter Neros - Christiane Reitz - Страница 21

1. Begabt oder nicht?

Оглавление

Tacitus’ Einschätzung von Neros Begabung

Darüber, wie begabt Nero tatsächlich war, differieren die Quellen stark. Vermutlich hatte er bereits als junger Mensch großes Interesse an den Künsten. Tacitus behauptet, dass Nero seinen lebhaften Geist schon in der Kindheit von der Redekunst ab- und anderen Dingen zugewandt hatte (ann. 13,3):

Nero puerilibus statim annis vividum animum in alia detorsit: caelare, pingere, cantus aut regimen equorum exercere; et aliquando carminibus pangendis inesse sibi elementa doctrinae ostendebat.

(Er meißelte, malte, übte sich im Gesang oder im Rosselenken; und gelegentlich zeigte er beim Verfassen von Gedichten, dass er über grundlegende gelehrte Kenntnisse verfügte.)

Später nimmt Tacitus eine verächtliche Haltung ein, wenn er von Neros Dichtertreffen, zu denen er seine Freunde einlud, spricht und aufgrund erhaltener Gedichte folgende Ansicht vertritt (ann. 14,16):

(Nero) carminum quoque studium adfectavit, contractis quibus aliqua pangendi facultas necdum insignis erat. hi considere simul et adlatos vel ibidem repertos versus conectere atque ipsius verba quoquo modo prolata supplere, quod species ipsa carminum docet, non inpetu et instinctu nec ore uno fluens.

(Er versuchte es auch mit dichterischer Tätigkeit, nachdem er Leute zusammengeholt hatte, die einiges Geschick im Verseschmieden besaßen, aber keines, das auffiel. Diese setzten sich nach der Tafel mit ihm zusammen, fügten die mitgebrachten oder eben erst gefertigten Verse aneinander und ergänzten seine eigenen, wie auch immer vorgetragenen Worte. Dies lehrt schon die äußere Form der Gedichte, denen es an begeisterndem Schwung und an einheitlichem Rhythmus fehlt.)

Suetons Einschätzung von Neros Talent

Die Darstellung Suetons stimmt mit der des Tacitus darin überein, dass der Kaiser zur Dichtung hingelenkt wird, weil seine Mutter ihm von der Philosophie, sein Erzieher von der klassischen Redekunst abriet. Aber es ist durchaus denkbar, dass Sueton die bei Tacitus geäußerte Kritik gehört oder gelesen hat und darauf antwortete (Nero 52):

Itaque ad poeticam pronus carmina libenter ac sine labore composuit nec, ut quidam putant, aliena pro suis edidit. Venere in manus meas pugillares libellique cum quibusdam notissimis versibus ipsius chirographo scriptis, ut facile apparent non tralatos aut dictante aliquo exceptos, sed plane quasi a cogitante atque generante exaratos; ita multa et deleta et inducta et superscripta inerant.

(Daher neigte er der Dichtkunst zu und schrieb gern und ohne Anstrengung Gedichte und gab auch nicht, wie einige meinen, fremde als seine eigenen aus. Mir sind Schreibtafeln und Notizbücher mit einigen sehr bekannten von ihm selbst geschriebenen Versen in die Hand gekommen, so dass unschwer deutlich wird, dass sie nicht übernommen oder nach jemandes Diktat geschrieben, sondern eindeutig von einem erarbeitet wurden, der dabei überlegt hat und schöpferisch tätig war; so viel war darin durchgestrichen, getilgt und darüber geschrieben.)

Das Autograph bezeugt also echtes kreatives Bemühen. Es dürfte kaum überraschen, dass des Kaisers Rezitationen seiner eigenen Werke ein herausragender Erfolg waren (Nero 10,2):

Recitavit et carmina, non modo domi sed et in theatro, tanta universorum laetitia, ut ob recitationem supplicatio decreta sit eaque pars carminum aureis litteris Iovi Capitolino dicata.

(Auch Gedichte trug er vor, nicht nur zu Hause, sondern auch im Theater, so sehr zu allseitiger Freude, dass wegen eines solchen Vortrags ein Dankfest beschlossen und der betreffende Teil seiner Geschichte dem Jupiter (lat. Iuppiter) Capitolinus in goldenen Lettern geweiht wurde.)

Auftritte vor den Neronia?

Auch hier liegt wieder eine Abweichung gegenüber Tacitus vor: Sueton setzt dieses Ereignis vor Neros Einrichtung der neuen Quinquennalien an, den alle vier Jahre stattfindenden Wettbewerben griechischen Stils, den Neronia, und zwar im Jahr 60 v. Chr. Tacitus jedoch erwähnt nicht, dass Nero vor den Neronia öffentlich rezitiert habe. Der Leser hat den Eindruck, dass Tacitus aus senatorischer Abneigung heraus schreibt, Sueton dagegen mit einem besseren Zugang zu mehr Informationen und in Reaktion darauf. Jedenfalls ist seine Darstellung von Neros Triumph bei diesen Spielen detaillierter als der kurze Bericht des Tacitus (ann. 14,20f.).

Karriere als Kitharöde

Tacitus stellt dem Bericht über die Spiele eine Art öffentlicher Auseinandersetzung an die Seite, indem er in den aufeinander folgenden Kapiteln ann. 14,20 und 21 die Argumente von Befürwortern und Gegnern der Spiele vorführt. Trotz dem Entsetzen, das Tacitus und auch Sueton zeigen sollten, als Nero allen Anstand ablegte, um eine künstlerische Karriere als Kitharöde zu beginnen und seinen Gesang einem Publikum von Gefangenen aufzuzwingen, ist Tacitus den relativ seriösen und intellektuell anspruchsvollen Spielen gegenüber fair. Er verleiht den Argumenten jener Gewicht, die die Spiele als einen neuen Beitrag zur Geschichte des Theaters in Rom billigen. Sie waren als Wettbewerbe in Redekunst und Dichtung gedacht, die sowohl die Begabung im Dichten selbst als auch im Vortag unter Beweis stellen sollten. Wie Tacitus berichtet, liefen die neronischen Spiele ohne Zwischenfall ab und riefen beim einfachen Volk nicht einmal leichte Anteilnahme hervor. Es blieb wahrscheinlich weg, weil die Pantomimenkünstler nicht mehr zu öffentlichen Ludi zugelassen wurden.

Preisträger

Den Preis für Redekunst gewann keiner der Teilnehmer, sondern Nero wurde zum Sieger erklärt. Der Preis für Dichtung ging an einen neuen Dichter, der zum ersten Mal öffentlich auftrat, nämlich an Annaeus Lucanus, den Neffen des Seneca und „offiziellen“ Freund des jungen Kaisers, für sein Lob des Nero (siehe unten S. 82ff. das Lucan-Kapitel).

In den wenigen darauffolgenden Jahren, bevor Nero starb, kamen seine außergewöhnlichen Gesangsdarbietungen in mythologischen Rollen wie Canace, Orest, Oedipus und Hercules zunächst auf private Bühnen und dann in öffentliche Theater. Sueton, Nero 21 spricht von cantare:

Mythologische Rollen Neros

Inter cetera cantavit Canacen parturientem, Oresten matricidam, Oedipodem excaecatum, Herculem insanum.

(Unter anderem sang er die gebärende Kanake, den Muttermörder Orest, den geblendeten Oedipus und den rasenden Herkules.)

Damit ist eher eine tänzerische Darbietung gemeint, weniger eine Art Opernarie. Es ist von einer Hercules- und einer Oedipusszene die Rede. Den Mythos von Canace hatte auch Ovid, vermutlich im Anschluss an Euripides’ verlorenes Drama, gestaltet. Es ist eine Geschichte von Inzest mit dem Bruder, Geburt und Selbstmord.

Im Verlauf von Neros weiterer künstlerischer Karriere wurde das Programm der Wettbewerbe von Neapel, Italien und Griechenland geändert, und der Sieger war schon im Voraus festgesetzt.

Sueton weicht in seiner Darstellung von Tacitus ab, denn er behauptet, dass Nero den Preis für lateinische Prosa wie für lateinische Dichtung entgegennahm (Sueton, Nero 12,3).

… et orationis quidem carminisque Latini coronam, de qua honestissimus quisque contenderat, ipsorum consensu concessam sibi recepit.

(… und nahm den Siegeskranz für lateinische Redekunst und Dichtung, um den die angesehensten Leute gestritten hatten und der nach ihrer eigenen einhelligen Meinung ihm zugesprochen worden war, entgegen.)

Suetons Exkurs in die Literaturkritik zeigt, dass das außerordentliche Interesse an Nero als Dichter oder zumindest als Komponist von Liedern anhielt. Das Andenken an den Kaiser war nach seinem Tode offiziell gelöscht worden, doch halten die literarischen Belege zu seiner Dichtung und seinen Liedern an und legen nahe, dass er tatsächlich ein besserer Dichter war als mancher Amateur aus der Oberschicht.

Was bedeutet carmen?

Das Wort carmina, wörtlich „Lieder“, ist vieldeutig, denn es bezeichnet zum Beispiel die rezitierte Dichtung des Catull, die Lyrik des Horaz und die Tragödie, die allesamt nicht von Musik begleitet waren, aber auch gesungene Texte und Zaubersprüche. Aus den vier Annalenbüchern des Tacitus, die die Jahre unter Nero schildern, lässt sich das Phänomen erschließen, dass in dieser Zeit nahezu jeder carmina schreibt oder rezitiert.

Um mit dem Alten und Ehrwürdigen zu beginnen: Seneca schreibt carmina – vermutlich sind seine Tragödien gemeint (siehe unten S. 47; vergleiche ann. 11,13 und 12,28 über die Tragödien des Pomponius als carmina); sein Freund Suillius Rufus behauptete sogar, dass Seneca mehr carmina schreibe, seit Nero so getan habe, als hätte er ein Interesse daran (ann. 14,52). Der arme junge Britannicus, Neros beiseite gedrängter Halbbruder, wurde herausgefordert, bei seinem letzten Festmahl die versammelte Gesellschaft zu unterhalten, und trug sein eigenes carmen vor, in dem er den Verlust seines Erbes beklagte (ann. 13,15). Über die Form dieses Gedichts wissen wir nichts. Der berühmte Thrasea sang in einem tragischen Kostüm bei den Spielen in Patavium zu Ehren des Stadtgründers (ann. 16,21). Piso, der adlige Senator, den die Verschwörung an Neros Stelle zum Kaiser hatte erheben wollen, sang gewöhnlich in einem tragischen Gewand, so dass der Soldat Subrius Flavus zynisch bemerkte, er sehe keinen Sinn darin, einen kaiserlichen Kitharöden zu entfernen, um einen tragischen Schauspieler einzusetzen (ann. 15,65). Petron hat vermutlich nicht gesungen, aber er hat seinen letzten Abend damit verbracht, sich leichte Lieder und nette Verse (levia carmina et facilis versus, Tacitus ann. 16,19) anzuhören. Sosianus schrieb beleidigende carmina über Nero und musste dafür sterben; Curtius Montanus war deswegen (zu Unrecht) angeklagt (Tacitus ann. 16,14; 28f.). Und Nero schrieb carmina (Verse) und komponierte carmina (Lieder), die er privat und in Neapel vortrug, auf der Bühne in seinem Haus während des großen Brandes und schließlich, zum Entsetzen der Traditionalisten unter den Senatoren, auf einer Bühne in Rom (ann. 15,33f.; 39; 16,4):

Primo carmen in scaena recitat; […] mox ingreditur theatrum, cunctis citharae legibus obtemperans.

(Und so trug er zunächst auf der Bühne ein Gedicht vor; […] bald betrat er das Theater und richtete sich nach allen Regeln, die für Kitharaspieler gelten.)

Zu Lucans Versen und Umgang mit carmina kommen wir später noch (siehe unten S. 82f.). Nero benahm sich also nicht außergewöhnlich, weil er carmina schrieb oder vortrug, sondern weil er dies als Kaiser tat.

Nero stand demnach zumindest in den ersten, guten Jahren unter dem Druck der öffentlichen Meinung. Wenn er sich Sueton (Nero 20,1) zufolge, sobald er Kaiser geworden war, dem privaten Gesangsstudium bei dem Kitharöden Terpnos widmete, hielt er sich sehr wahrscheinlich nur so lange an die Rezitationsdichtung und das Buch, bis er glaubte, sich der nicht so würdevollen, aber um so reizvolleren musischen Kunst des Sängers hingeben zu können.

Teilnahme an Neronia – Szene der Niobe

Die fünf Kapitel der Vita des Sueton über Neros Karriere als Kitharöde konzentrieren sich auf Stimmbildung und Gesangstechnik des Kaisers. Für „orthodoxe“ Römer war das ein Skandal, aber es war deshalb doch keine geringe Kunst, und zudem eine, die in Griechenland hohes Ansehen genoss. Kitharöden hatten für ihre von der Leier begleiteten Gesangsdarbietungen schon immer selbst gedichtet und komponiert. Dazu gehörten also vier Künste, und die Dichtung war nur eine davon. Ob nun Nero bei den ersten Neronia im Jahr 60 im konventionellen Wettbewerb der Versrezitation antrat oder nicht, er nahm jedenfalls an den vorgezogenen zweiten Neronia teil (Sueton, Nero 21). Angeblich wurden die Spiele vorgezogen, weil er es nicht abwarten konnte. Frühestes mögliches Datum für diese vorgezogenen Neronia ist das Jahr 62, als er den Zwängen der Agrippina (sie war ermordet), des Burrus (auch er war tot) und Senecas (der sich zurückgezogen hatte) entronnen war. Plausibel ist das Datum 65 (siehe oben S. 14). Die opernhafte Szene und Arie auf Niobe, die er als seinen Beitrag zum Wettbewerb vortrug, scheint er selbst komponiert zu haben. Die Rolle bot Neros Neigung zum Transvestitentum und seiner Liebe zum Melodrama jeden erdenklichen Raum und schlachtete das in Rom beliebte Thema der verzweifelten Frau aus. Weiblicher Wahnsinn angesichts enttäuschter Liebe war gestaltet und literarisch legitimiert durch Catull (carmen 64), Vergils Darstellung der Dido, durch Ovid und Seneca. Wie effektvoll eine solche Bühnenszene sein kann, beweisen ja bis heute die großen Wahnsinnsszenen zum Beispiel in Opern von Bellini und Donizetti. Für die Kaiserzeit ist anzunehmen, dass es sich bei dieser Art von Darbietung um nichtliterarisches Theater handelte, das ein breites Publikum ansprach, um ein Spektakel, das vielleicht auch die einfachen Leute interessierte.

Die Reaktionen des Publikums, insbesondere der plebs, werden aus einem Bericht Suetons deutlich (Sueton, Vitellius 11,2): Bei den Leichenspielen für Nero fordert Vitellius, um sich bei der römischen plebs einzuschmeicheln, den Kitharöden auf, etwas aus dem Werk des Meisters vorzutragen; und dieser bereitete ihnen mit carmina Neronia ein solches Vergnügen, dass das Publikum in Vitellius’ Applaus einstimmte:

citharoedum placentem palam admonuit (sc. Vitellius) ut aliquid et de dominico diceret.

(… und forderte einen beliebten Kitharöden ganz offen auf, er möge doch auch etwas aus dem Herrenbuch vortragen.)

Als im Jahre 69 jemand auftrat und behauptete, Nero zu sein, war das ein Meister an der Kithara und im Singen (vergleiche auch Tacitus hist. 2,8).

Lieder erfordern ein besonderes Talent und eine Einfachheit, die weit von dem gelehrten Anspielungsreichtum der lateinischen Gedichte entfernt ist, die man in der Tradition mit Nero verbindet. Was komponierte er?

Die Literatur im Zeitalter Neros

Подняться наверх