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1. Das Nerobild und Tacitus

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Tacitus eine verlässliche Quelle?

Das moderne Nerobild basiert fast ausschließlich auf den Aussagen weniger antiker Geschichtsschreiber, und unter diesen genießt insbesondere Tacitus von alters her den Ruf der Verlässlichkeit. Ist das berechtigt? Zur Verdeutlichung des Gemeinten kann insbesondere eine der einflussreichsten Studien zu Tacitus aus dem vorigen Jahrhundert dienen, diejenige von Sir Ronald Syme. Dort heißt es: „Über Neros Persönlichkeit muss man nicht viel sagen, denn es gibt keinen Punkt, in dem man die Verlässlichkeit und Wahrhaftigkeit des Tacitus ernsthaft bezweifeln kann. Er schrieb über eine Zeit, die noch im Bereich der Erinnerung lag oder für die verlässliche Zeugnisse existierten. Die Übereinstimmung mit dem bei Suetonius und Cassius Dio Überlieferten ist bemerkenswert. Das ist nicht, wie man behauptet hat, auf eine von allen drei Autoren benutzte gemeinsame Quelle zurückzuführen, sondern vielmehr darauf, dass das Porträt Neros mit der Wirklichkeit übereinstimmt.“

So urteilt einer der bedeutendsten Althistoriker der jüngeren Vergangenheit. Dass aber auch ganz andere Auffassungen über Tacitus’ Objektivität zu finden sind, zeigt, wie schwierig es ist, ein Bild von einer Epoche zu zeichnen, die so eindeutig von einer Persönlichkeit dominiert ist, von der uns aber eine vielschichtige Interpretationsgeschichte trennt.

Die Hauptquelle: Tacitus

Historiker der Nerozeit

Zunächst also ein Blick auf unseren Haupteinflussgeber für unsere Sicht dieser Epoche. Tacitus war zu Neros Regierungszeit ein Kind; er schreibt unter Nerva und Trajan, zu Beginn des 2. Jahrhunderts, also eine Generation vor Sueton (circa 117 n. Chr.) und viel früher als Cassius Dio (3. Jahrhundert n. Chr.), von dessen Behandlung Neros wir nur eine Epitome durch den byzantinischen Mönch Xiphilinus aus dem 11. Jahrhundert besitzen. Alle drei genannten Autoren haben Quellen aus der Zeit Neros benutzt, die uns heute nicht mehr vorliegen: Plinius den Älteren, Cluvius Rufus, Fabius Rusticus. Tacitus stellt sich selbst als kritischer Berichterstatter vor, der Schmeichelei und Hass bewusst ausklammert (sine ira et studio), der sich von der rhetorischen Ausgestaltung bloßer Gerüchte fernhält, der stattdessen den Ursachen der Geschehnisse auf den Grund gehen will und der das Thema der moralischen Verdorbenheit unter den Bedingungen der Tyrannis mit großem Ernst angeht. Das entspricht der modernen Sicht von den Aufgaben der Geschichtsschreibung. Paradox aber ist, dass es kaum einen Kommentator oder modernen Autor gibt, der nicht gleichzeitig das außerordentliche rhetorische Geschick des Tacitus anerkannt hat. Verlässliche Quelle und ausgefeilte Rhetorik – wie geht das zusammen? Tacitus ist Moralist, und ihm liegt eine andere Moral als unsere heutige am Herzen. Sein Bild von Nero ist nicht nur das eines machtbegabten Herrschers, es ist das Bild des Tyrannen, genauer des Tyrannen an sich in der Tradition öffentlicher römischer Moral. Tacitus’ Ansichten über die römische Tradition sind auf der anderen Seite nicht so ohne weiteres auf das simple Dilemma zwischen Republik und Kaiserreich zu reduzieren. Es sind persönliche Ansichten. Jedes Bemühen, den „richtigen“ Nero, das heißt ein historisch angemessenes Nerobild, aus der antiken Geschichtsschreibung und insbesondere aus Tacitus herauszufiltern, muss deshalb vom Scheitern bedroht sein, wenn es das Wesen, die Konventionen und die Zielsetzungen der antiken Historiographie außer Acht lässt.

Tendenz der Annalen – Römische Modelle

Einen Eindruck von der Tendenz der Annalen kann ein Blick auf deren Proöm vermitteln, in dem die Lage im Rom zur Zeit der Hochblüte des augusteischen Prinzipats mit der resignierenden Feststellung verdeutlicht wird, dass eigentlich niemand mehr aus eigener Erfahrung die römische Republik kannte (ann. 1, 3: …quotus quisque reliquus qui rem publicam vidisset?, …wieviele gab es da noch, die die freie Republik erlebt hatten?), sondern die Entscheidungsgewalt des Princeps zum Maßstab politischen Handelns geworden war (omnes exuta aequalitate iussa principis aspectare: Die Gleichberechtigung war abgelegt und alle richteten ihr Augenmerk auf die Befehle des Princeps). Die Annalen berichten ab excessu Augusti, also beginnend nach Augustus’ Tod (14 n. Chr.), über die Zeit der Herrschaft von Tiberius (14–37), Gaius Caligula (37–41), Claudius (41–54) und Nero (54–68). Ziel der Darstellung ist es zu erkunden, wie sich die politisch-moralische Korruption hat ausbreiten können. Sie ist der Preis, der für die pax Augusta bezahlt werden musste. Nero nimmt insofern eine herausragende Position ein, als seine Regentschaft das Ende der julisch-claudischen Dynastie bezeichnet (31 v. Chr.–68 n. Chr.), in der der Prinzipat begründet und konsolidiert worden ist. Die Organisation der Erzählung ist vordergründig chronologisch, wie in der Tradition der römischen Annalistik üblich, die für uns vor allem bei Livius fassbar ist. Gestalterisch lehnt sich Tacitus weniger an die griechische Historiographie an, sondern eher an römische Modelle, und zwar neben Livius vor allem an Sallust, von dem er den spezifisch römischen Standpunkt übernimmt. Thematisiert wird der Bezug zwischen Reich und Freiheit (principatum et libertatem). Er beobachtet die allmähliche Auflösung der römischen aristokratischen Tradition und das damit einhergehende Erstarken fremder Einflüsse, das sich an der Entwicklung eines Söldnerheers belegen lässt. Ursachen seien unter anderem die Einflüsse aus entlegenen Provinzen und von nicht assimilierten Bevölkerungsgruppen wie der Juden und Christen. Tacitus’ Anliegen ist also der Verfall dieser römischen Gesellschaft unter dem Einfluss des Fremden; das ist das Leitthema der Annalen. In der Analyse von Verfallsprozessen nimmt Tacitus Bezug auf Sallust; dazu kommt seine Erkenntnis, dass eine Konzentration von Autorität wie im Prinzipat zwar Stabilität schafft, aber den Verfall der politischen Autonomie des Einzelnen nicht aufzuhalten vermag. Er analysiert den Abstieg der senatorischen Klasse zur politischen Einflusslosigkeit und macht kein Hehl aus der Enttäuschung seines aristokratischen Weltbildes. Das führt so weit, dass Tacitus jedes positive Exemplum einer Frau oder eines Sklaven als Beleg für die Perversion der Zeitläufe auslegt. Gerade in den Nero-Büchern der Annalen wird dies deutlich (ann. 14,64):

Quicumque casus temporum illorum nobis vel aliis auctoribus noscent, praesumptum habeant, quoties fugas et caedes iussit princeps, toties grates deis actas, quaeque rerum secundarum olim, tum publicae cladis insignia fuisse. neque tamen silebimus si quod senatus consultum adulatione novum aut patientia postremum fuit.

(Wer immer die Geschehnisse jener Zeit durch mich oder andere als Quellen kennen lernen will, der soll vorweg wissen, dass für jede Verbannung und jeden Mord, die der Princeps befahl, den Göttern Dank abgestattet wurde und dass alles, was einst glückliche Ereignisse kennzeichnete, jetzt das Unglück des Staates deutlich machte. Trotzdem werde ich nicht schweigen, wenn etwa ein Senatsbeschluss eine noch nicht dagewesene Art von Schmeichelei oder ein äußerstes Maß an Unterwürfigkeit gezeigt hat.)

Die jahrweise Erzählung wird also überlagert von einer nach den Kaisern vorgehenden Analyse des Verfalls des römischen öffentlichen Lebens.

Folglich muss Nero als Letzter seiner Dynastie den Tiefpunkt moralischer Verdorbenheit und Tyrannis darstellen. Ein Licht wirft auf diese darstellerische Tendenz auch die in Historien 1,16 wiedergegebene Rede des Galba, in der die Ursachen für Neros Scheitern ausschließlich in dessen eigener Person gesucht werden.

Auf der anderen Seite lässt Tacitus mitunter durchblicken, was auch wir immer im Gedächtnis behalten sollten: Nero hat auf das Volk durchaus Anziehungskraft ausgeübt, besaß auch in den griechischen Reichsteilen Sympathien, aber in der historischen Darstellung bleibt er doch eine Chiffre für die Umkehr aller Werte, für die die senatorische Klasse einsteht.

Umkehr der Werte

Entsprechend werden dann auch die Ereignisse um Neros Sturz geschildert. Hier müssen wir, weil die Darstellung von Neros Ende in den Annalen nicht überliefert ist, auf die zu Beginn der Historien gegebene Zusammenfassung zurückgreifen. Folgende Punkte sind zu beachten:

Nero ist der erste Princeps, der einer Provinzrevolte zum Opfer fällt.

1) Das Volk und das Militär sind gänzlich pervertiert (hist. 1, 5 führt Tacitus aus, dass nach 14 Jahren unter Neros Herrschaft die Laster des Princeps so geliebt werden, wie man früher seine Tugenden gefürchtet hat).

2) Galba, sein unmittelbarer Nachfolger, verkörpert die alten rigiden Zeiten und passt nicht mehr in die Gegenwart. Die Wirren des Vier-Kaiserjahres kommen also nicht von ungefähr.

3) Der Prinzipat, der angetreten war, um das römische Reich vor innerer Zwietracht zu retten, ist jetzt bis ins Mark geschwächt.

4) Die Paradoxie der historischen Situation wird scharf herausgearbeitet: Das Reich ist nach außen so mächtig wie nie zuvor; Rom ist im Reich so wichtig wie keine andere Stadt, aber das Herrschaftssystem ist pervertiert, denn die alten Familien haben nichts mehr zu sagen und ein Machthaber mit lasterhaftem Lebenswandel, der auf alle Kreise der Bevölkerung Einfluss ausübt, hat das Sagen.

Tacitus, Agricola – Seneca als Erzieher Neros

Das Schlüsselwerk zum Verständnis von Tacitus’ Sicht des Prinzipats ist der wohl im Jahr 98 verfasste Traktat Agricola. Tacitus charakterisiert seinen Schwiegervater, den Feldherrn Cn. Iulius Agricola, als Gegenbild, als Ideal eines großen Mannes unter einem schlechten Kaiser (Domitian). Demnach stellt Nero einen Anti-Agricola dar, denn er steht nicht nur für die Negation des öffentlichen Amtes, sondern all sein Tun und Treiben stellt die ultimative Verkehrung ins Gegenteil dar. In den Annalen 13,3 belegt Tacitus diese Sicht durch die Schilderung von Neros Auftritt anlässlich der Leichenfeier des Vorgängers Claudius. Als wesentliches Kriterium der virtus principis sieht Tacitus die eigenständige Leistung, die Nero gerade nicht vollbringt. Er ist genötigt, auf eine von Seneca ausgearbeitete Rede zurückzugreifen. In der folgenden Liste der Principes und ihrer rhetorischen Fertigkeiten bildet Nero den absoluten Tiefpunkt. Künstlerische Neigungen werden ihm zwar konzediert, aber das Fehlen der spezifisch römischen Redefertigkeit wird dadurch in keiner Weise aufgewogen. Die historische Zuverlässigkeit von Tacitus’ Nachricht ist allerdings keineswegs verbürgt; wir hören nichts davon bei Sueton oder bei Cassius Dio. Nicht eben ein positives Gegenbild, aber doch immerhin die Möglichkeit eines Korrektivs stellt, jedenfalls während eines gewissen Zeitraums, Seneca dar, der fünf Jahre als Prinzenerzieher am Hofe tätig ist. Zwar wird anerkannt, dass Seneca den Princeps in Richtung der Herrschertugend der Milde, clementia, zu lenken versucht (zum Beispiel ann. 13,11), aber sein Einfluss sei begrenzt geblieben. Wendepunkt der ohnehin nie konsistenten clementia des Princeps ist die Ermordung seiner Mutter Agrippina; hier bleibt die Rolle Senecas in Tacitus’ Darstellung durchaus zwiespältig.

Positive Gestalten sind zum Beispiel der General Domitius Corbulo und auch der Senator Thrasea Paetus. In den Sterbeszenen dieser und anderer unschuldiger Regimekritiker wird die Variationsbreite der letzten verbliebenen libertas vorgeführt. In den Annalen 16,16 zieht Tacitus die tief pessimistische Bilanz der von Nero zu verantwortenden Säuberungen der römischen Oberschicht:

At nunc patientia servilis tantumque sanguinis domi perditum fatigant animum et maestitia restringunt. neque aliam defensionem ab iis quibus ista noscentur exegerim, quam ne oderim tam segniter pereuntis. ira illa numinum res Romanas fuit, quam non, ut in cladibus exercituum aut captivitate urbium, semel edito transire licet. datur hoc inlustrium virorum posteritati, ut quo modo exequiiis a promisca sepultura separantur, ita in traditione supremorum accipiant habeantque propriam memoriam.

(So aber ermüden knechtische Unterwürfigkeit und so viel in der Heimat unnütz vergossenes Blut den Leser und rufen beklemmende Niedergeschlagenheit hervor. Und keine andere Rechtfertigung möchte ich gegenüber denen, die diese Vorgänge zur Kenntnis nehmen werden, geltend machen, als dass ich die Männer nicht hasse, die so lässig in den Tod gehen. Jener gefürchtete Zorn der Götter war gegen das Römertum gerichtet; ihn darf man nicht, wie bei Niederlagen von Heeren oder der Eroberung von Städten, nach einmaliger Erwähnung übergehen. Vergönnt sei dies dem Andenken erlauchter Männer bei der Nachwelt, dass sie so, wie sich ihr Leichenbegängnis von der gewöhnlichen Bestattung unterscheidet, in der Überlieferung ihrer letzten Stunde ein besonderes Gedenken erhalten und behalten.)

Berühmte Beispiele dramatischer Gestaltung dieser Exzesse der letzten Regierungszeit Neros sind die Berichte über die Selbstmorde Petrons und Senecas, auf die wir noch zu sprechen kommen werden (siehe unten S. 27 und 65).

Nero ist bei Tacitus also eine literarische Gestalt, nicht Gegenstand objektiver historischer Beobachtung. Seine Charakterisierung steht in der Tradition senatorischer Geschichtsschreibung; seine Beliebtheit beim Volk steht auf einem anderen Blatt. Im Fortschreiten dieser literarischen Tradition ist eine zunehmende Einschwärzung des Bildes und eine immer schärfere Verurteilung Neros zu konstatieren.

Die Literatur im Zeitalter Neros

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