Читать книгу Warum ich da noch hingehe - Christina Schöffler - Страница 11
Segen und Schaden der Geschichte
ОглавлениеUnd das ist auch eine der Sachen, die ich der Kirche übelnehme: Dass sie mich wie die übervorsichtige Zofe einer kleinen Prinzessin in dem Wissen aufgezogen hat: Wir sind anders. Manches machen wir einfach nicht. Du gehörst nicht dazu. Wir sind nicht von dieser Welt. Und all das, bevor ich den Geschmack der Welt selbst entdecken konnte. Bevor ich spüren konnte: Ich bin hier, gemeinsam mit allen anderen. Wir gehören zusammen! Wir fluchen und schimpfen, wenn wir uns im Dunkeln den kleinen Zeh anschlagen, wir streiten über Kleinigkeiten, wir müssen manchmal über die blödesten Dinge lachen, wir haben Heißhunger auf alles, was uns dick macht, und wir haben Heißhunger danach, geliebt zu werden, wenn wir im Dunkeln fluchen. Wir sind Menschen, und diese Welt ist keine Vertröstung auf den Himmel, sondern sie ist tatsächlich für uns gemacht! Wir können atemberaubend Schönes in ihr entdecken, wir können voller Freude über die Stoppelfelder rennen, bis wir lachend und stolpernd im Gras liegen und den satten Duft der braunen Erde riechen. Unserer Erde. Für uns geschaffen. Und genauso erleben wir, dass Kindersärge in diese Erde gelassen werden, dass angstvolle Gebete zum Himmel aufsteigen, dass wir einander Schmerzen zufügen und einander ausschließen, dass wir uns anders fühlen und dass manche Kinder nie wirklich mitspielen dürfen.
Ich glaube, es ist wichtig, sich seiner eigenen Geschichte zu stellen. Dankbar und bewusst das Gute wahrzunehmen, das hoffentlich immer noch weiterwächst und in unserem Leben gute Früchte bringt. Aber es ist auch gut, den Schaden anzuschauen. In manchen Bereichen erleben wir vielleicht Heilung, anderes begleitet uns wie ein dauerhaftes Hinken. Ich glaube, mein Schaden ist, dass ich mich immer anders fühlen werde und dass es mir schwerfällt, mich mit Menschen, die Jesus nicht nachfolgen, auf einer tiefen Ebene zu verbinden. Und dann gibt es noch die frommen Sprüche und manche Sätze, bei denen ich merke: Die kann ich einfach nicht mehr hören. Geht nicht mehr. Da muss ich innerlich ganz schnell die Straßenseite wechseln, bevor ich in eine Schlägerei gerate. Wenn zum Beispiel das Evangelium als „Droh-Botschaft“ herhalten muss, wenn leichtfertig über Fremdes geurteilt und mit frommen Floskeln über tiefe Nöte hinweggegangen wird. Außerdem wünschte ich mir, ich hätte manche Antworten nicht schon VOR den Fragen bekommen. Vielleicht war das Problem gar nicht die Antwort an sich, sondern dass sie schon so fertig daherkam. Es war ein bisschen so, als würde ich mit meinem kleinen Sohn zu Ikea nach Ludwigsburg-Nord fahren (der liegt gleich bei uns um die Ecke – Glück muss man haben!), ihm ein paar Köttbullar auf den Teller legen und ihm sagen: „Das ist Schweden!“ Aber Schweden ist noch viel mehr: Schweden sind kalte und dunkle Nächte, wilde Landschaften und endlose Fahrbahnen, Elchjagd und heiße Suppe, einsame Seen, die man auf Kanus durchqueren kann. Schweden ist so viel mehr als ein Kloß auf dem Teller bei Ikea. Ich habe mehrere Sommer und einen ganzen Winter dort verbracht. Deshalb weiß ich das. Und – das sage ich jetzt nicht anklagend, weil ich selbst nicht weiß, ob ich es bei meinem Sohn besser hinbekomme – wäre es nicht toll, wenn wir in unseren Kirchen die Glaubenswahrheiten nicht als Fertigessen serviert bekämen, sondern wie kleine Appetitanreger? Wie Postkarten, die Fernweh und zugleich Heimweh in uns auslösen, Hinweise auf ein fernes Leuchten, das uns ermuntert, uns mit klopfendem und fragendem Herzen und erwartungsfrohem Blick auf den Weg zu machen. Hinein in unser eigenes Abenteuer.
Gott sei Dank, dass er mich an die Hand genommen und durch manche holprigen Strecken auf die Reise geschickt hat. Der Nazarener war da. Er begegnete mir in meinen innigen und einfachen Kindergebeten, in der friedlichen Umarmung meiner Oma, in den segnenden Händen meiner Mutter, in den treuen Handgriffen meines Vaters, in jeder liebevollen Begegnung und in jedem barmherzigen „Du gehörst dazu!“. Wenn ich heute meinem kleinen Sohn aus der Kinderbibel vorlese, dann verliere ich mich in den vertrauten Bildern und kann den Blick kaum von der hellen, freundlichen Gestalt abwenden, in der ich zuerst „meinen Jesus“ entdeckt habe. Ich durfte kommen und sehen. Hören und schmecken. Bis heute verbindet sich der Geschmack von Omas Eukalyptusbonbons mit den wärmenden Strahlen, die durchs bunte Kirchenfenster fielen. Das war mein Feigenbaum, unter dem ich von Jesus lernen durfte. Im Schoß der Kirche habe ich den Messias kennengelernt. Und dafür bin ich ihr ewig dankbar.