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Jesus sprengt die alten Formen und schafft Neues

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Es scheint, dass Jesus seinen Kritikern von Anfang an einiges an Futter geliefert hat. Nicht nur, dass er mit den Jüngern feiern ging. Regeln und Ordnungen wurden von ihm in bestimmten Situationen einfach außer Kraft gesetzt. Und Regeln gab es viele. Die frommen Juden lesen über sechshundert Vorschriften aus der Tora, die wiederum viele neue Regelungen und Empfehlungen nach sich ziehen. Zur Zeit Jesu hatten die Pharisäer ein sehr enges religiöses System von Vorschriften entwickelt und es gehörte auch zu ihren Aufgaben, auf ihre Einhaltung zu achten. Und nun kam Jesus und bewegte sich mit einer inneren Freiheit in diesem System, die jeden frommen Juden in Aufregung versetzt haben muss. Er stellte immer mal wieder mit seinem Verhalten ihr Regelwerk in Frage, rückte Vergessenes in den Mittelpunkt und schaffte Unwichtiges zur Seite. Die Leute spürten: Hier war etwas ganz Neues auf dem Weg, das die alten Formen nicht würden halten können.

Ich will an dieser Stelle ein wenig von den Anfängen unserer Gemeinde erzählen. Vor über zwanzig Jahren haben wir die Jesus Freaks Stuttgart gegründet. Es ist mein Teil der engeren Familie Gottes, mit dem ich bis heute zusammen Jesus nachfolge. Ich weiß, dass dieser Zeitraum angesichts der langen Kirchengeschichte lächerlich kurz ist, und doch: für ein Leben ist das schon eine ganze Menge an Jahren. Ich glaube, unsere kleine Geschichte kann einen bescheidenen Beitrag leisten zur großen Familiengeschichte. Und immer dann, wenn wir unser Erleben mit offenen Herzen miteinander teilen, können wir etwas Neues von Jesus erkennen. „All unser Erkennen ist Stückwerk“, schreibt der Apostel Paulus12, und wenn wir unsere kleinen Stücke wie Puzzleteile zusammenlegen, dann verstehen wir vielleicht ein wenig mehr von dem größeren Bild. Deshalb brauchen wir einander. Deshalb ist es wichtig, dass wir unsere Geschichten miteinander teilen. Hier ist mein kleines Stück, erzählt aus meiner ganz subjektiven Sichtweise.

Einer der ersten Gottesdienste, den mein Mann Heio bei uns miterlebt hat, war ziemlich beeindruckend für ihn. An diesem Abend erzählte einer unserer Leute seine Lebensgeschichte. Da er ein Mensch mit einigen psychischen Problemen ist, der leicht stottert und sehr ausufernd erzählen kann, dauerte das Ganze ziemlich lange und das Zuhören war nicht einfach. Aber wir hatten ihm, dem sonst nur selten zugehört wurde, die Chance gegeben, uns sein Leben zu erzählen (wirklich sein GANZES langes Leben!). Diese Tatsache hat Heio berührt. Er sagte sich: Wenn in dieser Gemeinde so jemand ans Mikro darf, dann traue ich mich auch, hier etwas einzubringen. Und es war tatsächlich so: Wir wollten ein Ort sein, an dem jeder willkommen ist, eine Gemeinschaft, in der jeder gleich wichtig ist und seinen Platz finden kann. Ein Ort, an dem wir ehrlich sein können, mit allen unseren Zweifeln und Fragen, mit Süchten und Problemen – eben mit dem, was wir sind. Es sollte nicht um irgendwelche Formen und Dogmen gehen, sondern einfach nur um Jesus.

Vielleicht wollte Gott einfach etwas Neues tun, neuen Wein in neue Schläuche füllen und dazu wählte er einen Haufen kaputter Freaks.

Eigentlich hatte ich überhaupt nicht die Absicht gehabt, eine neue Gemeinde zu gründen. Ich hatte gerade eine Stelle bei Drogenabhängigen in einer Stuttgarter Klinik begonnen und ich spürte hinter der Sucht der jungen Leute eine große Sehnsucht, die ich auch in meinem eigenen Herz fand: Ich wollte nicht angepasst mein Leben verbringen mit Eigenheim, Kohle, Karriere. All das schien mir so unbedeutend für das EINE kostbare Leben, das wir haben. Ich wollte geliebt werden für das, was ich bin. Ich wollte echt sein, wollte mich nicht verstellen – schon gar nicht an einem Ort, an dem wir zusammen Gott begegnen wollten. Schon bald traf ich mich mit einer kleinen Gruppe von Menschen, denen es ähnlich ging. Wir sehnten uns nach einer geistlichen Heimat, die wir in den alten und bewährten Gemeinden nicht entdeckten. Damit will ich nichts gegen diese Gemeinden sagen – vielleicht wären solche Orte dagewesen, aber wir konnten sie damals für uns nicht finden. Vielleicht wollte Gott einfach etwas Neues tun, neuen Wein in neue Schläuche füllen, und dazu wählte er einen Haufen kaputter Freaks und ein paar seiner sehnsüchtigen, unzufriedenen Kinder aus. Wir trafen uns regelmäßig, im Park oder in irgendeiner WG, um miteinander abzuhängen und zu beten. Es gab keine festen Formen, jeder konnte kommen und durfte mitmachen. Irgendwann hörten wir von den Jesus Freaks in Hamburg und fanden, dass wir mit unserem Chaos und dem Wunsch, einfach Jesus nachzufolgen, ganz gut in diese Bewegung passten und schlossen uns ihr an. Wir hießen nun offiziell „Jesus Freaks Stuttgart“, erlebten viel Zulauf und wurden auch schon bald zur Gemeinde. Wir hatten natürlich viele Probleme und gleichzeitig war auch unglaublich viel Feuer und Kreativität da. Wir stellten die „alten Ordnungen“ und frommen Verhaltensweisen und Lebensstile in Frage und probierten viele neue Ideen aus. Wir taten es wie pubertäre Teenager: respektlos. Rebellisch. Auf der Suche nach unserem eigenen Weg. Hartnäckig hält sich in manchen Kreisen das Gerücht, dass die Jesus Freaks Abendmahl mit Chips und Bier feiern. Daran kann ich mich nicht erinnern. Aber es gab tatsächlich Zeiten, in denen wir uns fragten: Wie wichtig sind Oblaten, die am Gaumen kleben bleiben, und bitterer Wein? Worum geht es denn beim Abendmahl? War es nicht eigentlich Teil von einem ganz normalen Essen und ein Grund zu feiern? Also warfen wir einmal in fröhlicher Stimmung das Brot zwischen uns hin und her und vielleicht tranken wir auch mal Milch oder Cola, wenn gerade kein Traubensaft da war. Das mag den einen oder anderen Leser sehr befremden, ja sogar ärgern, und das kann ich auch verstehen. Aber ich glaube, für uns war es wichtig, dass wir einfach alles in Frage stellen durften, um damit den Dingen auf den Grund zu kommen und zu verstehen, warum wir etwas tun oder eben nicht. Es war wie ein Aussortieren. Manches kam als Gerümpel auf den Sperrmüll, manches warfen wir ins Feuer und manches Gold holten wir aus den Flammen wieder heraus. Ich glaube in etwa so war es. Und dazu brauchten wir vielleicht unseren eigenen Ort.

Wir stellten das alte Liedgut in Frage und bezweifelten, dass Gottes Geist tatsächlich nur durch angestaubte Lieder, deren Worte unseren eigenen nicht entsprachen, in die Herzen transportiert wird. Wir grölten unsere eigenen Songs wie auf einem Punkkonzert und klar und scharfkantig strömte Gottes Liebe in unser Herz. Wie gut – Gott scheint keinen bestimmten Musikstil zu bevorzugen!

Wir erkannten, dass unsere eigenen Fähigkeiten (oder Un­fähigkeiten) keine so große Rolle zu spielen scheinen, wenn Gott reden will.

Wir stellten in Frage, dass Gott nur durch Menschen redet, die – zumindest äußerlich – ihr Leben im Griff haben. Wir gaben das Mikrofon durch die Reihen und immer wieder traf uns Gottes Wort ins Herz, egal ob der Übermittler tätowiert, schwul, straight, psychisch erkrankt, süchtig oder ziemlich normal war. Wir erkannten, dass unsere eigenen Fähigkeiten (oder Unfähigkeiten) keine so große Rolle zu spielen scheinen, wenn Gott reden will. Er scheint sogar liebend gerne durch schwache Menschen zu reden – und durch den einen oder anderen Esel.

Wir fragten uns auch, ob man zum Gottesdienst tatsächlich nur geordnet und in schicken Klamotten gehen darf, oder ob wir nicht gerade hierher einfach so kommen können und sollten, wie wir sind? Gott müssen wir ja schließlich nichts vormachen. Wir fanden: Wenn jemand ein Alkoholproblem hat und zu Hause säuft, dann soll er das ruhig auch bei uns im Gottesdienst tun. Wer draußen raucht, kann es genauso gut auch in unseren Räumen tun. Als das Ganze aber mit der Zeit in einem ziemlichen Chaos endete, bei dem Jugendliche sich bei uns betranken und wir vor lauter Qualm den Prediger auf der Bühne nicht mehr sehen konnten, haben wir es dann doch etwas eingedämmt.

Wir warfen allen frommen Jargon über Bord – Worte, die schön klangen, für uns aber wenig Bedeutung hatten. Wir lernten über die heiligen Dinge Gottes in unserer eigenen Sprache zu reden und erlebten auch hier: Gott kommt mit unserer „Alltagssprache“ ganz gut klar. Und manches verstanden wir dadurch zum ersten Mal wirklich – tief in unserem Herz. Manche über Bord geworfenen Worte holten wir auch zurück, weil wir sie vermissten und weil es keine schönere Art gibt, das auszudrücken, was sie bedeuten.

Wir hörten von der 24-7-Gebetsbewegung in England und lernten, dass Beten eine tolle Sache ist, bei der wir nicht gelangweilt im Stuhlkreis sitzen müssen, während die Zeit dahinschleicht. Unsere Gebete wurden zu Gemälden an den Wänden, zu Gedichten, zu wilden Tänzen und zu Stillem-auf-dem-Sofa-Liegen. Wir beteten auch mal wochenweise, Tag und Nacht, und verliebten uns in diesen Gebetsnächten noch ein bisschen mehr in Gott. Wir begriffen, dass es nichts Schöneres gibt, als mit ihm unsere Zeit zu verbringen.

Wir lernten gemeinsam und versuchten, besser aufeinander zu achten. Ich glaube, wir erlebten vor allem eines: einen Ort der Gnade. (Und Gnade ist eins der schönen Wörter, das wir zurückgeholt haben, das uns umarmt und nicht loslassen will!) Wir durften alles Alte in Frage stellen, wir durften Neues ausprobieren, hinfallen, unsere Knie aufschürfen und weitermachen. Und natürlich waren unsere Probleme so offensichtlich da! Es gab Schlägereien zwischen Gemeindemitgliedern, Ruhestörungen und Polizeieinsätze, Verletzungen und Streitigkeiten. (Wenn man sich nicht über kleine theologische Fragen streitet, dann eben über die Farbauswahl beim Renovieren …)

Einmal bat ich meinen Chef, früher von der Arbeit gehen zu können, weil ich noch einen Freund aus der Gemeinde besuchen wollte, der gerade im Gefängnis saß. Er schüttelte nur den Kopf und meinte: „Was kennst du denn für Leute? Und die gehen wirklich alle in deine Gemeinde?“ Ja, so war es. Selten machten wir evangelistische Einsätze auf der Straße – die Leute kamen einfach. Vielleicht war es ein bisschen so, wie wenn aus einer Bäckerei der Duft nach frischen Brötchen auf die Straße strömt und ein Schild alle einlädt, umsonst zu essen. Die Hungrigen werden kommen! Und die Hungrigen kamen. Freaks, Obdachlose mit Hunden und Mädels mit Ratten auf den Schultern, psychisch Kranke und viele „fromme Kinder“, die ihr Erbe ausmisten wollten. Oft waren es Menschen, die niemals eine Kirche betreten würden, die aber Sehnsucht nach dem echten Jesus hatten. Und dass sie ihn fanden, in unseren Reihen, das ist das große Wunder der Gnade. Das lässt mich auf die Knie gehen vor einem Gott, der es ertragen kann, wenn wir alles infrage stellen, wenn wir rebellieren und die ganze Wohnung auf den Kopf stellen und alles kurz und klein schlagen, um dann auf seinen Schoß zu klettern und zu fragen: „Liebst du uns? Liebst du uns, wenn wir so sind? Und auch wenn wir ganz anders sind?“ Er liebt uns. Immer. Das ist die gute Nachricht. Auch wenn ich nach erfolgreicher Predigt wieder vor einem Porno absacke und mich mit Essen vollstopfe, bis ich erbreche. Das nächste Mal, wenn ich zum Mikro greife, wird seine Liebe wieder durch mich strömen, genauso wie durch den Pastor, der in der Parallelstraße predigt, und vielleicht mit Stolz und Geiz zu kämpfen hat. Genau das habe ich erlebt. Und ich werde mich nie mehr schämen, diesem Gott zu folgen.

Klar, wollten wir die Dinge auf die Reihe kriegen. Die Aufforderung von Jesus: „Tut Buße, das Reich Gottes kommt!“,13 gilt doch auch für uns. Aber wie bei Zachäus, der am Tisch mit Jesus saß, mit ihm Zeit verbrachte und am Ende etwas davon stammelte, dass er die Leute nicht mehr abzocken wolle, so wuchs auch in uns die Sehnsucht, das ein oder andere besser hinzubekommen. Nicht damit Jesus uns am Ende mehr lieben würde. Sondern einfach, weil die Nähe von Jesus das macht. Beziehungen verändern uns. Seitdem ich mit Heio verheiratet bin, der ein inniger Bayern München-Fan ist, schlägt mein Herz tatsächlich auch ein bisschen für diesen Verein. (Wie gut, dass mein Mann einen Verein ausgesucht hat, der meistens gewinnt. Der Mann meiner armen Freundin ist VFB Stuttgart-Fan!) Und manche Eigenarten versuche ich mir ein bisschen abzugewöhnen, weil sie für unsere Beziehung nicht so toll sind (zum Beispiel, dass ich beim Frühstück am liebsten kein Wort reden würde oder dass ich eigentlich nicht schlafen kann, wenn etwas neben mir atmet). Ich lerne, mich ihm zuzumuten, auch mit meinem Dunkel, das ich lieber verbergen würde. Ich erlebe, wie heilend und befreiend sich diese verlässliche Liebesbeziehung in meinem Leben auswirkt. Und ein bisschen erleben wir das so ja auch mit Jesus. Wenn wir mit ihm Zeit verbringen, dann kann es passieren, dass unser Herz plötzlich für „seinen Verein“ schlägt und dass man manches innerlich nicht mehr so kann, weil die Liebe uns verändert hat, oder wir es einfach nicht mehr brauchen, wenn er in der Nähe ist. Manches wird durch ihn anders, besser, heiler und neu. Buße ist tatsächlich eine ziemlich gute Sache.

Wenn die Jesus Freaks eine Botschaft haben in der großen Familiengeschichte Gottes, dann ist es die: Gott liebt uns genauso wie wir sind.

Aber ich denke, wenn die Jesus Freaks eine Botschaft hatten und haben in der großen Familiengeschichte Gottes, dann ist es die: Gott liebt uns! Nicht die Version von uns, die wir gerne hätten, sondern er liebt uns genauso wie wir sind. Auf dem Weg. Halb fertig. Manchmal wild um uns schlagend. Er ist ziemlich verrückt vor Liebe. Er rennt uns mit sehnsüchtigem Herz entgegen, JEDES MAL, wenn wir wieder reumütig zu ihm umkehren, egal wie fertig wir sind, egal wie dreckig wir uns gemacht haben. Er schließt uns in die Arme und sagt: Wie schön, dass du da bist! Willkommen zu Hause! Ich hab dich vermisst. Das ist die Botschaft der Gnade. Wo anders als in der Kirche sollte man sie finden?

Warum ich da noch hingehe

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