Читать книгу Warum ich da noch hingehe - Christina Schöffler - Страница 12
ОглавлениеEr ruft zu sich, die er wollte
„Und er steigt auf den Berg und ruft zu sich, die er wollte. Und sie kamen zu ihm; und er berief zwölf […], und er gab dem Simon den Beinamen Petrus, und Jakobus, den Sohn des Zebedäus, und Johannes, den Bruder des Jakobus, und er gab ihm den Beinamen Boanerges, das ist Söhne des Donners, und Andreas und Philippus und Bartholomäus und Matthäus und Thomas und Jakobus, den Sohn des Alphäus, und Thaddäus und Simon, den Kananäer, und Judas Iskariot, der ihn auch überlieferte.“
Markus 3,13.16–19
Wie passt ihr denn zusammen?
Vor einigen Jahren saß ich mit einer Gruppe aus unserer Gemeinde vor einem der coolsten Orte Stuttgarts: einem ehemaligen Klo-Häuschen, das zu einer Kneipe umgebaut worden war. Hier ist im Sommer immer was los. Man bestellt sich ein Bier oder irgendein anderes Getränk und lässt sich zusammen mit vielen anderen, meist jungen, Leuten auf dem warmen Boden vor der Kneipe nieder. Wir kamen öfter nach dem Gottesdienst zusammen hierher. An diesem Abend schaute immer wieder ein Kellner beim Einsammeln der Biergläser zu unserer Gruppe hinüber. Irgendwann sprach er einen von uns an und es platzte förmlich aus ihm heraus: „Ich beobachte euch jetzt schon eine ganze Weile und frag mich echt: Wie passt ihr denn zusammen? Was seid ihr für eine Gruppe?“ Erst mal war bei uns verblüfftes Schweigen. Was meinte der Typ? Wir sahen uns an: Da saß ein gestyltes Mädchen, das später noch in einen ihrer geliebten Drum ’n’ Base-Clubs abziehen wollte, neben einem Jungen in zerrissenen Jeans und mit punkigem Haarschnitt. Ein tätowierter Musikmanager saß neben einer Frau in langem Hippierock, ein Ingenieur unterhielt sich mit einem Obdachlosen und ein paar Studenten und Normalos rundeten das Bild ab. Tatsächlich – wir waren eine ziemlich bunte Truppe! Lachend erklärten wir dem Typen, dass wir alle Jesus Freaks wären, also alle Jesus liebten. Mit verwundertem Kopfschütteln sammelte er unsere Gläser ein und zog wieder ab.
Denke ich an die Kirche Jesu, dann muss ich immer auch an diesen Abend denken. Weil er mir vor Augen führt, was der Schatz und gleichzeitig auch die Herausforderung von Gemeinden, Kirchen, Gemeinschaften, Hauskirchen, Megachurches – welche Form auch immer – ist: Wir sind keine homogene Gruppe von Freunden und Menschen, die wir uns selbst ausgesucht hätten, um zusammen Jesus nachzufolgen. Sondern wir treffen uns bei Jesus – mit den Leuten, die er zu sich gerufen hat.
Ich habe bis hierher über Kirche so geschrieben, dass man meinen könnte, ich verstünde darunter die Institution, das Gebäude, in dem wir uns jeden Sonntag treffen. Und teilweise verbinde ich mit dem Begriff tatsächlich genau das, was auch bei Wikipedia als Erstes zu lesen ist: „Die Kirche ist ein sakrales Bauwerk des Christentums.“ Das ist es wohl, was bei den meisten unserer Mitmenschen im Kopf auftaucht, wenn sie das Wort Kirche hören. Aber das Wort „Kirche“ gibt Hinweis auf die tiefere Wirklichkeit, in die wir uns begeben: Im Urtext des Neuen Testaments steht das griechische Wort ekklesia, das vom Verb „herausrufen“ kommt. Kirche ist in ihrer ursprünglichsten Form also kein Gebäude und auch nicht die gute Idee von ein paar Leuten, einen kleinen, elitären Club zu gründen. Kirche – das sind einfach die Leute, die sich um Jesus sammeln, weil er sie gerufen hat, ihm nachzufolgen. Und der Satz „Wir gehen nicht zur Kirche, wir SIND Kirche“ ist daher genau richtig.
Kirche – das sind einfach die Leute, die sich um Jesus sammeln, weil er sie gerufen hat, ihm nachzufolgen.
Die zwölf Jungs, die Jesus ganz am Anfang zu sich gerufen hat, waren auch so eine bunte Truppe. Sollte jemand beobachtet haben, wie sie ohne Jesus in irgendeiner Kneipe in Jerusalem saßen, dann hätten sich so einige darüber gewundert, wie diese Leute zusammenpassen: der Zöllner Levi neben Jakobus, dem Fischer (so was wie korrupter Banker neben einfachem Arbeiter), Thomas, der Denker und Zweifler, neben Petrus, dem Hitzkopf und zukünftigem Fels, Johannes, der Donnersohn, den Jesu Liebe überwältigt hatte, neben Simon, dem paramilitärischen Widerstandskämpfer, daneben Judas, der spätere Verräter, und einige mehr (auch ein paar Jüngerinnen zogen mit Jesus umher!). Das war kein netter Freundeskreis, der sich hier freiwillig zusammenfand. Was sie an einen Tisch gebracht hat, war die Einladung Jesu, zu ihm zu kommen. An SEINEN Tisch. Und so saßen sie zusammen wie eine Familie, die man sich nicht ausgesucht hat, und sollten lernen, Jesus zu lieben und einander zu ertragen.
Willkommen zu Hause
Aber es wartete eine noch größere Überraschung auf sie. Jesus deutete es bei Nikodemus an, dem suchenden Pharisäer, der in der Nacht zu ihm kam: Wer Jesus nachfolgt und damit Teil von diesem neuen Reich Gottes wird, in dem geschieht so etwas radikal Neues, dass man es nur mit dem Bild einer Geburt umschreiben kann. Sie werden neu. Sie lassen das alte Leben hinter sich und werden hineingeboren in die Familie der Kinder Gottes. Wow. Wenn Jesus es nicht selbst gesagt hätte, würde man es kaum wagen, so große Worte in den Mund zu nehmen. Da ruft Gott uns heraus, zu sich. Er macht uns neu und sagt: Willkommen zu Hause, mein Kind. Von jetzt an gehörst du zu einer ganz besonderen Familie – du kannst auch Kirche dazu sagen.
Und mitten in dieser Gemeinschaft werden wir großgezogen. Wir werden erst mal überhaupt nichts können, sondern ganz viel empfangen. Wir werden die Milch aufsaugen, die uns angeboten wird, wir werden staunen und lernen und hinfallen und auf Dingen rumkauen, die wir lieber nicht in den Mund nehmen sollten – wie Babys das eben tun. Wir werden uns streiten und genau abgrenzen, was meins und was deins ist, und wir werden langsam miteinander lernen, was das neue Leben bedeutet. Was es aus uns macht. So ähnlich, glaube ich, ist es. Das ist einfach Gottes Plan.
Er hätte uns auch als krasse Einzelkämpfer ausbilden können. Unabhängig. Stark. Gott und ich. Gegen den Rest der Welt. Aber das war nie der Plan. Der Plan ist: Wir werden wiedergeboren und dann blutverschmiert und hilflos schreiend aufgenommen in den Kreis einer neuen, großen Familie. Welcome home. Bonhoeffer schreibt dazu, dass die christliche Gemeinschaft kein Ideal ist, das wir schaffen müssten, sondern „eine von Gott in Christus geschaffene Wirklichkeit, an der wir teilhaben dürfen.“5 Das hat etwas sehr Entspanntes für Menschen wie mich, die leicht alles als Auftrag sehen und die Kirche eher als Bauprojekt verstehen als ein Familientreffen. Aber es ist tatsächlich so: Zuallererst ist Kirche eine Realität, an der wir einfach Anteil haben dürfen.
Es lebe die Vielfalt
Und diese Realität kann ziemlich überwältigend sein. Paulus geriet in seinen Briefen immer wieder darüber ins Schwärmen: Plötzlich saßen Juden neben Nicht-Juden (bisher hatten Juden noch nicht mal das Haus von Heiden betreten, weil sie sich dadurch verunreinigt hätten!), Sklaven neben Freien, Männer neben Frauen, Arme neben Reichen, Fromme neben stadtbekannten Sündern – ich glaube, wir können uns nicht annähernd vorstellen, wie revolutionär das war! Im Tempel wurden die Besucher streng nach Rasse und Geschlecht getrennt, manche kamen erst gar nicht rein. Und hier, in den Versammlungen der ersten Christen, saßen sie alle an einem Tisch. Das war im wahrsten Sinne des Wortes Mauern sprengendes Evangelium! Dass es an dem Tisch oft ganz schön wild zuging, das kann man sich denken und durch die Briefe von Paulus an die Gemeinden auch bildlich vorstellen. Es gab Diskussionen und Zoff und Kampf um die besten Plätze am Tisch – und trotzdem: Für Paulus war schon die Tatsache, dass sie durch Jesus nun alle zu Gottes Kindern gehörten, ein unaufhörlicher Grund zum Staunen. Die Mischpoke Gottes. Seine bunte Familie! Zu der bis heute Tag für Tag neue Kinder dazukommen. Wie oft habe ich schon etwas von diesem Reichtum erlebt, wenn ich mit meinen Geschwistern aus allen Ecken der Welt und aus allen Schichten der Gesellschaft zusammensaß, um gemeinsam Jesus zu feiern.
Wenn wir Jesus nachfolgen, dann hat er seine ganze Sippe im Schlepptau.
Aber so sehr diese Vielfalt auch ein Geschenk ist – im Alltag ist sie schon eine ganz schöne Herausforderung! Familie eben. Menschen, von denen wir wissen: Wir gehören zusammen und brauchen einander, aber wir können uns auch bis aufs Blut reizen und in den Wahnsinn treiben. Wir stolpern schimpfend über das Chaos, das sie hinterlassen, haben die Schnauze voll, ihnen hinterher zu räumen, und manche Mitglieder der Familie sind uns einfach nur peinlich. Wir stöhnen über ihre merkwürdigen Einstellungen und sind ihretwegen um den Ruf der Familie besorgt. Aber wenn wir Jesus nachfolgen, dann hat er seine ganze Sippe im Schlepptau: alle Angehörigen, mit denen wir gut klarkommen, und alle, die wir lieber nicht dabei hätten. Wir wurden hineingeboren und jetzt bemühen wir uns, einander zu lieben, mit allen Schwächen, Fehlern, Stärken, Ecken und Kanten. Und wir versuchen, uns dabei nicht aufzufressen (Gal 5,15). Und genau daran, an dieser völlig unromantischen Liebe untereinander, sagt Jesus, wird die Welt erkennen, dass wir zu ihm gehören.
Ich glaube, es ist gut, wenn wir beides wahrnehmen: das große Geschenk dieses Clans und die große Herausforderung, die so eine Familie mit sich bringt. Es ist manchmal nicht einfach, Enttäuschungen zu überwinden, sich wieder zusammen an den Tisch zu setzen, einander weniger den Kopf und vielmehr die Füße zu waschen und uns um Gottes Willen zu ertragen. Aber unser Papa ist nun mal durch und durch Familienmensch.
Ich bin mir bewusst, dass das sehr vereinfacht geschrieben ist und ich will hier keine Probleme unter den Teppich kehren. Denn genau das ist ja der Punkt, an dem sich so mancher innerlich von der Kirche verabschiedet hat: weil er vermeintliche Geschwister Dinge tun sieht, die überhaupt nicht zu dem Gute-Nachricht-Mauern-sprengenden-Evangelium von Jesus passen. Ja, seien wir ehrlich: Manche ziehen mit ihrem Verhalten den Ruf der ganzen Familie in den Dreck – und, noch schlimmer, den Ruf Jesu, wenn sie es in seinem Namen tun. Manchmal bewundere ich einfach Gottes Zurückhaltung: dass er nicht öfter klar Schiff macht am Tisch und ein paar Leute, die nur so tun als würden sie mit dazugehören, rausschmeißt. Wahrscheinlich ist es einfach seine Gnade, die jedem von uns noch Zeit gibt umzukehren. Von dieser Gnade trinke ich selbst ständig – und ich ahne, dass wir weiterhin eine ganze Menge davon füreinander brauchen werden.
Am Anfang das Staunen
Trotz allem – am Anfang soll einfach mal das Staunen stehen. Darüber, dass wir seine Kinder sein dürfen! Dass es für jeden von uns einen Platz an seinem Tisch gibt. Das ist die von Gott geschaffene Wirklichkeit. Wir kommen aus allen Richtungen und treffen uns am Kreuz. Wir sind Kirche in ihrem ursprünglichsten Sinn: Menschen, die dem Ruf Jesu gefolgt sind. Dem Ruf des Rabbis mit der Dornenkrone. Dem Ruf des dienenden Königs. Unseres Erlösers. Und während wir eigentlich vor allem zu unserem Freund und Retter wollen, breitet der die Arme aus und sagt: Willkommen in Gottes großer, bunter, verrückter Familie. Ihr gehört zusammen. Liebt einander mit der Liebe, mit der ich euch liebe. Seid Salz und Licht in dieser Welt. Und immer da, wo wir das versuchen, im vollen Bewusstsein unserer geistlichen Armut, im Wissen, dass wir Jesus und auch einander brauchen, da erleben wir ekklesia. Die Herausgerufenen. Gemeinschaft der Heiligen und Sünder. Und Jesus mitten unter uns.
ID
weder jude
noch heide
weder frau
noch mann
weder sklave
noch freier
noch untertan
weder schwarz
noch weiß
weder gesund
noch krank
weder linker
noch rechter
weder papst
noch punk
weder banker
noch bauer
weder hure
noch priester
weder schwul
noch straight
weder harzer
noch minister
weder alt
noch behindert
weder arm
noch reich
weder freak
noch pastor
alle = gleich
weder soldat
noch pazifist
weder frommer
noch sünder
weder fremder
noch nachbar
IN JESUS
alles
GOTTES KINDER.