Читать книгу Warum ich da noch hingehe - Christina Schöffler - Страница 6

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Einleitung

Warum gehst du denn da noch hin?“

Diese Frage höre ich immer wieder. Sie wird mir gestellt von Freunden, die Kirche längst hinter sich gelassen haben, und manchmal auch im Kreis derer, die weiterhin Woche für Woche in eine Gemeinde oder Kirche gehen. Und oft spüre ich dahinter Frust und Enttäuschung, bei manchen auch eine große Müdigkeit. Warum tun wir uns das eigentlich noch an? Warum sollen wir da noch weiter hingehen? Man kann sich schließlich auch zu Hause auf dem Sofa eine Predigt nach Wunsch über Podcast anhören, eine Lobpreis-CD einlegen und zur Not einen Freund anrufen, um Gebet zu bekommen. Warum sich also den ganzen Stress mit der Kirche geben?

Ehrlich gesagt, frage ich mich das manchmal selbst. Wenn ich sehr entmutigt bin, dann grüble ich, ob wir eigentlich nur noch den Untergang verwalten. Ich denke darüber nach, dass die Blütezeit „meiner“ Gemeinde doch schon lange vorbei ist und wir besser den Laden dicht machen sollten (was natürlich eine totale Anmaßung bedeutet, weil es ja nicht MEIN Laden ist!). Manchmal bin ich auch einfach nur sauer auf diejenigen, die weggeblieben sind und uns mit dem ganzen Chaos alleingelassen haben. Okay, einfach weggeblieben, das ist wohl niemand. Jeder hatte seine Gründe. Da waren auch Verletzungen, da war Schuld – auch meinerseits. Angesichts der langen Geschichte der Kirche sind meine gut vierzig Jahre lächerlich wenig, aber es hat gereicht, um zu erkennen, dass Kirchengeschichte eine Segensgeschichte ist, aber immer auch eine Schuldgeschichte. So ist das wohl. Weil die Menschen, die da hingehen, so sind. Heilige und Sünder. Und deshalb weiß ich, dass es viele nachvollziehbare Gründe gibt, warum Menschen sich von der Kirche verabschieden. Dass es für manche geradezu heilsam ist, eine Zeit lang wegzubleiben oder die Gemeinde zu wechseln.

Gründe fürs Wegbleiben

Mein Freundeskreis besteht zu einem großen Teil aus Leuten, die erst mal oder endgültig, nicht mehr „da hingehen“. Und jeder hat seine Gründe. Manche sind enttäuscht von den Leuten und tragen schmerzhafte Verletzungen mit sich. Manche sind enttäuscht von Gott und finden in der Kirche keinen Raum für ihre Fragen und Zweifel. Einigen ist die Gemeindestruktur zu hierarchisch und festgefahren. Manche haben im Lauf ihres Lebens andere Prioritäten gesetzt: Der Gottesdienst beugt sich der Konkurrenz von schönem Wetter, Sport und Playdates der Kinder oder Tante Ernas Geburtstag. Andere sind beruflich oder durch die sozialen Netzwerke mit so vielen Menschen verbunden, dass sie einfach keinen Bedarf haben, am Sonntag noch mal einer neuen Gruppe von Menschen zu begegnen. Und viele können sich schlicht nicht mehr aufraffen, sich Kirche weiter anzutun. Irgendwann hat man scheinbar alle guten Predigten gehört. Irgendwann sind wiederkehrende Konflikte nur noch zermürbend und man will sich nicht den Rest des Lebens mit einer Gruppe von Leuten rumschlagen, deren theologische Meinung und Weltsicht sich stark von der eigenen unterscheidet.

Gleichzeitig spüre ich aber bei vielen eine starke Sehnsucht nach ehrlichen und tiefen Gemeinschaften, nach Orten der Gnade, an denen wir angenommen werden, so wie wir sind. Orten, an denen wir unsere Zweifel äußern und uns gegenseitig unterstützen und lieben können. Aber die Kirche scheint für viele nicht mehr der Ort zu sein, an dem sie diese Sehnsucht stillen können. Meine Freundin Veronika Smoor hat in ihrem Buch „Heiliger Alltag“ darüber Folgendes geschrieben: „Leider ist Gemeinde momentan der Ort, an dem ich mich am wenigsten lebendig fühle. Ich habe keine Ahnung, wie ich meine Gemeindemüdigkeit bekämpfen kann oder ob ich sie überhaupt bekämpfen soll. Da sind noch so viele Fragen offen, die ich immer wieder Gott hinhalte. Das Feuer ist aus. Obwohl ich es mir wirklich, wirklich anders wünsche.“1

Unter den ganzen Gründen, warum man da nicht mehr hingeht, ist der Grund „weil es der Ort ist, an dem ich mich am wenigsten lebendig fühle“ ein besonders trauriger. Und irgendetwas in diesem Satz findet ein Echo in meiner eigenen Seele. Ich weiß genau, was sie damit meint. Manchmal ist Gemeinde für mich auch der Ort, der mich nicht lebendig, sondern total fertig macht.

Das Baby, das es zu schaukeln gilt

Aber es ist nicht immer so. Tatsache ist, dass ich die Gemeinde liebe – und das ist vielleicht gar nicht schlecht, wenn man darüber ein Buch schreiben will. Es gibt in meinem Leben nur Weniges, bei dem mich so die Leidenschaft packt, wenn ich darüber rede. Wahrscheinlich kann ich es auf genau drei „Dinge“ reduzieren (meine Begeisterung für Achtziger-Jahre-Tanzfilme, gutes Essen und Kaffee am Morgen mal ausgenommen): auf Jesus, meine Familie und die Gemeinde. Alle drei machen mich zeitweise ganz schön fertig, aber ich bin auch total überwältigt von ihrer Schönheit. Sie gehören zur größten Herausforderung, aber auch zum größten Segen in meinem Leben.

Nachdem ich schon ein Buch über Jesus und meine Familie geschrieben habe, ist dieses Buch einfach der nächste logische Schritt (womit ich dann auch erst mal alle meine wichtigen Themen verbrannt hätte). Allerdings halte ich dieses Thema noch voller Zweifel in meinen Armen. Ein bisschen so, wie ich meinen kleinen Sohn gehalten habe, als er mir zum ersten Mal kurz nach der Geburt in die Arme gelegt wurde. Ich hatte die romantisch-mütterliche Vorstellung, dass wir von Anfang an diese innige, vertraute Bindung haben würden. Aber dieser kleine Mensch war mir erst mal total fremd. Er schaute mich mit so einem ernsten und besorgten Blick an, dass ich meinte darin zu lesen: „Du willst dich um mich kümmern? Bist du dir sicher, dass du das drauf hast? Hast du in deiner Ausbildung beim Thema Kinderpflege auch aufgepasst? Ich weiß nicht recht. Ich bin kein einfaches Kind, hast du dir das auch gut überlegt?“ Könnte mich dieses Buchthema anschauen, ich bin sicher, es würde mich mehr als besorgt mustern: „Was denn, ist das dein Ernst? Du willst dich um mich kümmern? Ich bin kein einfaches Thema. Hast du wenigstens eine solide, fundierte theologische Ausbildung? Nein? Na prima! Hallo, hört mich jemand?! Ich will zu einem anderen Autor!“

So ungefähr stelle ich mir das vor. Und es ist wahr: Das Thema überfordert mich tatsächlich. Bevor ich richtig angefangen habe, bin ich schon total ins Stocken gekommen. Normalerweise passiert mir das erst, wenn ich mittendrin stecke. Aber dieses Mal hatte ich die Schreibblockade schon, bevor ich überhaupt angefangen habe zu schreiben. Über einen längeren Zeitraum hab ich versucht, alle meine Erfahrung und Gedanken über Gemeinde zu sammeln, aber ich habe einfach keinen roten Faden gefunden. Eigentlich wollte ich das ganze Projekt absagen. Und genau an dem Tag lag er dann plötzlich vor mir, der rote Faden in der Geschichte der Kirche: Es ist – JESUS! Ich weiß: hundert Punkte für diese offensichtliche Antwort. Klar, er ist derjenige, der das Ganze gestartet hat, er hat ein paar Leute um sich gesammelt und zu seinen Nachfolgern gemacht. Und genau das bin ich auch. Ich folge dem Rabbi aus Nazareth, meinem Erlöser. Wenn ich die Evangelien lese, dann merke ich immer wieder: Hier findet nicht nur die Geschichte der zwölf Jünger mit Jesus statt, sondern es ist auch meine Geschichte – nein: Es ist UNSERE Geschichte, wenn wir heute mit Jesus unterwegs sind. Er ruft uns zu sich und wir versuchen, von ihm zu lernen. Er schickt uns los, um Kranke zu heilen und Dämonen auszutreiben, während wir noch mit unseren eigenen Dämonen kämpfen. Wir erleben Stürme und Todesangst und fragen uns, ob Jesus schläft. Wir feiern große Momente zusammen und dann streiten wir wieder und haben keinen Bock, einander die Füße zu waschen. Wir erleben unser Scheitern und Versagen und sitzen gemeinsam im Dunkeln und warten auf die Auferstehung.

Eine Revolution?

C. K. Chesterton schreibt: „Das Christentum hatte eine ganze Serie von Revolutionen und in jeder von ihnen starb die Christenheit. Sie starb viele Male und erlebte ihre Auferstehung, denn sie hat einen Gott, der den Weg aus dem Grab kennt.“2

Vielleicht erleben wir gerade ein wenig von dieser Revolution. Wir hinterfragen Dinge und Abläufe, die über Generationen selbstverständlich waren. Manches kann im Feuer landen und sterben und manches Gold werden wir aus dem Feuer ziehen. Vielleicht ist es für einige von uns wichtig, eine Zeit lang ein paar Schritte zurückzutreten – von der Kirche und allem, was dazu gehört – um einen klaren Kopf zu bekommen, um die Kirche neu zu verstehen und lieben zu lernen. Andere von uns stürzen sich aus verzweifelter Liebe Hals über Kopf in die Sache und stochern im Feuer nach dem Gold. Egal, was wir tun: Am Ende ist das Wichtigste, dass wir den nicht aus den Augen lassen, der den Weg aus dem Grab kennt.

Also will ich versuchen, das Baby zu schaukeln. Ich schreibe das Buch. Ich schreibe es für alle, die ihre Kirche lieben und sich Woche für Woche die Hände dreckig machen und hoffen, dass es die Sache wert ist. Und ich schreibe auch für meine Freunde, die ein paar Schritte zurückgetreten sind von allem, was mit Kirche zu tun hat, die einen klaren Kopf brauchen und die Vergangenes ins Feuer schmeißen. Vielleicht findet ihr hier einige von den Schätzen, die so ein Feuer überstehen könnten. Und ich schreibe vor allem für mich. Weil ich mich selbst, Seite für Seite, davon überzeugen will, warum ich da noch hingehe.

Warum ich da noch hingehe

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