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1.3 Normativer Universalismus

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Menschenrechtsdebatten und Zivilgesellschaft

Universalien werden in politischen und religiösen Rahmen oft im Bemühen postuliert, interkulturelles Verstehen zu fördern. Mittels Gemeinsamkeiten sucht man Brücken zwischen den Kulturen zu bauen (zu Möglichkeiten und Grenzen Pohl 1999:28f.). Die Probleme dieses öffentlichen Umgangs mit Universalität zeigen sich schlaglichtartig in den aktuellen Diskussionen um Menschenrechte, Ökologie, Demokratie, politische Ethik und medizinische Ethik. Universale Aussagen zum Menschen bzw. zu menschlichen Gesellschaften wurden besonders Mitte der 1990er Jahre häufig gemacht in Bezug auf das Ziel einer neuen Weltkultur im Sinne einer globalen Solidarität für Frieden oder nachhaltige Entwicklung (Brieskorn 1997, Müller & Reder 2003, Argyrou 2005, Jörke 2005:99-108) oder bezüglich Demokratie oder des Ideals der Menschenrechte (Berg-Schlosser 1997, Derichs 1998). Solche Diskussionen reflektieren oft Vorstellungen der Menschheit als kosmopolitischer Interessengemeinschaft, wie sie schon in der Anthropologie der griechischen Stoa und bei Cicero vertreten wurden (Gladigow 2004:74). Dieter Weiss etwa schreibt in einer entwicklungspolitischen Zeitschrift: „Eine zunehmend interdependente Weltgesellschaft wird ohne die Herausbildung eines elementaren weltweiten Basiskonsensus (unter Wahrung des Reichtums kultureller Vielfalt) schwerlich funktionsfähig sein.“ (Weiss 2000:133)

Menschenrechte werden intensiv diskutiert und trotz aller Differenzen schält sich ein gewisser pragmatischer Konsens heraus; es ergeben sich auch bestimmte normative Grundrichtungen.2 Eine durchgehende, aber bislang weitgehend unbeantwortete Frage ist, ob, und wenn ja welche der Ziele durch empirisch nachweisbare Universalien zu untermauern sind. In der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen (UN) von 1948 werden explizit „Allgemeine Menschenrechte“ aufgestellt: Die Teilhabe an der Würde des Menschen kommt jedem menschlichen Wesen ohne Einschränkung zu. Damit erfüllen die Rechte grundlegende Merkmale des Universalismus, wie sie Tönnies klar fasst:

„Universalismus ist das Kennzeichen dessen, ´quod semper, quod ubique, quod omnibus´, dessen also, das Gültigkeit für immer, überall und für alle beansprucht und deshalb von der Voraussetzung ausgeht, dass die Menschen unter einem gewissen, distanzierten Blickwinkel ´gleich` sind.“ (Tönnies 2001:15)

Menschenrechte können, so ein Argument, auf der Annahme allgemeinmenschlicher Formen des Leidens (und des Glücks) aufbauen. Ein Beispiel einer klaren Aussage hierzu bietet Johannes Müller, der als Philosoph menschliche Leiderfahrung und die Fähigkeit des Mit-Leidens als Basis für gesellschaftliche Entwicklung sieht:

„Die Erfahrung (menschlichen Leidens, Erg. CA) ist unmittelbar und sinnenhaft, sie ist eng mit der physischen Verfasstheit des Menschen verbunden, und alle Menschen teilen sie in irgendeiner Weise. Die durch das Leid ausgelösten Gefühle zeigen sich nach außen überall in weithin gleichen Formen, etwa im Gesichtsausdruck. Die fundamentalste Form ist der physische Schmerz.“ (Müller 2002:51f.; vgl. v. d. Pfordten 1996:124ff.)

Andere dagegen lehnen innerhalb der Menschenrechtsdebatte Annahmen über allgemeinmenschliche Charakteristika vehement ab. Universale Menschenrechte werden von vielen Autoren als diffus gesehen oder die These von der Ubiquität des Menschenrechtsideals wird als vorschnell und empirisch nicht haltbar eingeschätzt. Für einen Universalismus gebe es in nichtwestlichen Kulturen keine Anknüpfungspunkte, so Jean-François Lyotard (*1924; Lyotard 1987). Die ihnen zugrunde liegenden Werte gebe es nur in westlichen oder verwestlichten Gesellschaften. In kritischer Sicht gilt das Postulat universal begründbarer Menschenrechte bei manchen als idealistisch, ideologisch, äufklärerisch, westlich, abendländisch, eurozentrisch oder ethnozentrisch (zur Diskussion vgl. Bielefeldt 1994, 1997; Schönhuth 1997, Beiträge in Hoffmann & Kramer 1995; Nuscheler 1995, Wuketits 2003, Hornbacher 2006 und Rein 2008). Der Vorwurf trifft als Generalverdacht jeglichen Universalismus: als der eines interessegeleiteten Universalisierung des de facto Partikularen. Ein solcher Universalismus wäre als fragwürdige Form von Hegemonie zu bewerten. Das vermeintlich Allgemeine sei faktisch ein partikuläres bürgerliches Freiheitsideal des europäischen 18. Jahrhunderts, des westlichen Individualismus oder Ausdruck des „American way of life“ (Wallerstein 2007:xiiif.,135). Unterstützt wird eine solche Haltung dadurch, dass in humanistischen Bewegungen unter dem Banner des „Universalen“ immer wieder bestimmte Kategorien von Menschen ausgeschlossen wurden, so in den „universalen Rechten“ z.B. Menschen dunkler Hautfarbe und Frauen (Davies 2007:26,167). Selbst der zukunftsweisende „tolerante Universalismus“ des abolitionistischen Abts Grégoire in der Französischen Revolution befürwortete Ideen der Eroberung und Kolonialismus (Goldstein-Sepinwall 2005).

Die Kritik universaler Menschenrechte hat auch in der Ethnologie Tradition. Nach anfänglicher Begeisterung für die Menschenrechte und die Vereinten Nationen (UNO) zogen sich maßgebliche Ethnologen, z.B. Claude Lévi-Strauss, von der Menschenrechtsbewegung zurück (AAA 1947), denn sie verstanden Menschenrechte als auf Kulturgemeinschaften bezogen und nicht im Sinne individuenbezogener und universal gültiger Schutz- und Abwehrrechte (Lévi-Strauss 1996:177; vgl. Hauschild 2004:124f.). Die moralischen Horizonte vieler außereuropäischer Kulturen seien radikal partikularistisch orientiert und auf sich zentriert, was die Menschenrechte ignorierten. Beispiele wie die Kastenordnung in Indien, Frühverheiratung von Mädchen in Arabien oder extrem harte Bestrafungsformen bei australischen Aborigines würden zeigen, dass die Werte, auf denen die Menschenrechte beruhen, zumindest nicht streng universal sind. Sie entsprächen nicht dem Rechtsempfinden aller, ja vielleicht sogar nicht einmal der Mehrheit der Erdbewohner (Wimmer 1997:124). Empirisch geprüft wurden diese Aussagen aber so selten wie die Gegenthesen (vgl. dazu Renteln 1988,1990, Wuketits 2003).

Der Menschenrechtsgedanke ist faktisch ein Kind der abendländischen Geistesgeschichte. Er schreibt Ideen der Gleichheit der Menschen vor Gott und den Universalismus der christlichen Mission fort. Beide Ideen waren zunächst in der europäischamerikanischen Aufklärung und im politischen Liberalismus säkularisiert worden und wurden im 19. Jahrhundert radikalisiert (Wimmer 1997:124). Westliche Theorien hatten Menschenrechte als vorstaatliche Rechte des Einzelnen gesehen und gingen von einem christlich und jüdisch beeinflussten emphatischen Verständnis von Würde aus. Somit stand die unveräußerliche Freiheit des Individuums im Mittelpunkt der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte von 1948 (Graf 2004:211ff.). Mit dem Kalten Krieg und der Dekolonialisierung begann der Konsens zu bröckeln. Erste Einwände kamen aus den kommunistischen Staaten, die soziale Teilhaberechte und individuelle Pflichten gegenüber der Gemeinschaft als Rechtsträger betonten. Neue Staaten der Dritten Welt sahen ebenfalls überindividuelle Einheiten, wie „Gemeinschaft“, „Volk“, oder „Nation“, als primäre Träger der Menschenrechte. Gemeinschaftsbindung, Sozialpflichten und Volkswohl stehen auch im islamischen und chinesischen Verständnis gegen den westlichen Menschenrechtsindividualismus. Die Universalität der Menschenrechte steht zur Debatte, ja es herrscht eine allgemeinere Verunsicherung über den Status des okzidentalen Rationalismus, die Jürgen Habermas (*1929) jüngst so charakterisierte: „Aus dem Normalvorbild für die Zukunft aller übrigen Kulturen wird ein Sonderfall“ (Habermas 2005). Terkessidis schließt: „Es geht nicht länger, wie zu Zeiten der kolonialistischen Ausdehnung um die Universalisierung der partikulären europäischen Kultur, es geht um die Partikularisierung der westlichen Universalität.“ (Terkessidis 1998:229)

Relativer Universalismus, „negotiated universals“ und multiple Modernitäten

Kulturelle Gegensätze werden in der Diskussion um Menschenrechte typischerweise zu inter-kulturellen Kontrasten erhoben, wo dieselben Kontraste auch intra-kulturell auszumachen sind (Holenstein 1985b:142). Das ist ein allgemeiner Methodenfehler, z.B. bei Roland Barthes´ orientalisierender Darstellung der Unterschiede zwischen Japanern und Europäern. Die Menschrechtsdebatte wird oft als Kulturkonflikt, als „Kampf der Kulturen“, dargestellt. Es gibt jedoch weder eine einheitliche islamische, noch eine allgemeine westliche und sogar keine einfache christliche Position. Die beiden großen christlichen Kirchen gingen erst in den späten 1960er Jahren von der Ablehnung zur Anerkennung der Menschenrechte über. In allen christlichen Konfessionen gibt es nach wie vor erhebliche Widerstände gegen die klassisch liberale Auffassung von Menschenrechten als individuelle Schutz- und Abwehrrechte. Das Christentum hat historisch und ideenpolitisch keine besondere Affinität zum modernen Menschenrechtsindividualismus. Deshalb kann die Diskussion auch nicht einfach als Streit zwischen Kulturen aufgefasst werden (Graf 2004:216f.). Generell gab es in der westlichen Philosophie und Rechtslehre erbitterte Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Auffassungen zum Verhältnis einzelner Rechte. Ähnliches gilt für andere Kulturen: auch in ihnen stehen formal proklamierte Rechte in Konflikt mit ungeschriebenen Traditionen und schierem Unrecht. Mit Elmar Holenstein kann zu Unterschieden der Rechtsideale wie philosophischer Ideen überhaupt Folgendes vermutet werden:

„Was von Kultur zu Kultur variiert, sind nicht die Rechte an sich, wenigstens nicht die fundamentalsten, sondern das Gewicht, das bei einzelnen Konflikten den einzelnen Rechten beigemessen wird.“ (Holenstein 1985b:117)

Der weitgehenden Einigkeit über die universale Geltung bestimmter basaler Werte stand immer die Vielfalt partikulärer Begründungen gegenüber (Maier 1997, Hoppe 1998:32ff.). Dementsprechend geht der gegenwärtige Konsens auf der Ebene UNO pragmatisch dahin, universale Menschenrechte zu fordern, sie aber für begründungsoffen zu halten. Statt also spezifische universelle Werte zu suchen, etwa als kleinsten gemeinsamen Nenner, geht es in der neueren Diskussion eher um die „Universalisierbarkeit“ von Menschenrechten, also darum, Rechte, die in Nordwesteuropa entstanden sind, dadurch überall zu verbreiten, dass man sie attraktiv macht (Bracht 1994:109ff.). Ein „relativer Universalismus“ im Sinne Jack Donellys (2005) verbindet den grundlegenden Konsens über Menschenrechte mit der Option, die Pluralität der Sozialentwürfe zu belassen. „Was für alle gelten soll, kann jeder durchaus auf seine besondere Weise rechtfertigen und so innerhalb der eigenen Gruppe zustimmungsfähig machen“ (Graf 2004:222). Dies deckt sich mit der Position in der Debatte um alternative Modernitäten bzw. multiple Modernität (zusfsd. Eisenstadt 2006), die gemeinsame Werte einerseits und differente Entwicklungen sowie Pluralität andererseits gleichermaßen wertschätzt. Universalien werden auch dort nicht als universalisierte westliche Werte mit universalen Begründungen aufgefasst, sondern als verhandelte Universalien (negotiated universals), denen sich Kulturen aus unterschiedlichen Gründen und mit verschiedenen Begründungen anschließen können (Kocka 2002:124, Riedel 2002:277, Lepenies 2003).

Ein deliberativer Universalismus geht soweit, zu sagen, dass es in multikulturellen Gesellschaften einzelne Konfliktfragen geben mag (z.B. zur Humangenetik), die nicht durch Vertrauen auf die Vernunft oder Mehrheitsentscheid entscheidbar sind, sondern nur durch Duldung anderer Positionen oder Respekt (Gutmann 1995:296-304). Allgemeine Ideen der Würde und Rechte würden dann vielleicht den interkulturellen Dialog wie in der christlichen Sozialethik als eine Art „kommunikatives Interface“ ermöglichen (Hoppe 1998:29ff.). Dem universalen Begründungsanspruch können in dieser Sicht partikuläre religiöse oder ethische Begründungen und verschiedene metaphorische Bilder gegenüberstehen. Damit wäre es möglich, vorhandene kulturspezifische Normenordnungen bestehen zu lassen. Eine Universalisierung stützt sich dann also darauf, dass Menschenrechte konventional sind, statt universal zu sein (Bracht 1994:111). Eine teilweise ähnliche Position geht auf Kant zurück und wird derzeit von der Politikphilosophin Seyla Benhabib vertreten. Sie verbindet individuelle Menschenrechte mit dem nationalen Selbstbestimmungsrecht und argumentiert, dass kosmopolitische Normen in demokratischen Systemen weltweit zunehmend in das Recht implantiert werden können. Moralischer Universalismus könne mit dem Prinzip eines föderalistischen Rechtskosmopolitismus zusammengeführt werden (Benhabib 2008). Der Verdacht eines als „Menschenrechte“ verpackten neuerlichen westlichen Imperialismus, jetzt mit kulturellen Werten, könnte so entkräftet werden. Kulturspezifische Begründungen und Metaphern wären demnach auch für das gemeinsame Ziel durchaus bereichernd. Die Grenze solcher Kompromisse ist aber durch den normativen Kern gesetzt, die Idee überpositiver, aus der Natur des Menschen abgeleiteter Rechte der einzelnen Person, die dem allgemein Guten oder dem Gemeinwohl vorgeordnet sind.

Ausweitung des Universalisierungsradius und problematische Grenzen des Menschseins

In jüngerer Zeit hat die Ausweitung der Menschenrechte dazu geführt, dass der „anthropozentrische Universalisierungsradius“ eine neue Grenze erreicht. Zunächst waren die Individualrechte der Menschenrechtskonvention von 1948 in den sog. Menschenrechten der „zweiten“ und „dritten Generation“ auf soziale Kategorien und Kollektive (z.B. Frauen, Kinder, indigene Gruppen) erweitert worden. Dies hat zu einer Diskussion über das Verhältnis zwischen Menschenrechten und Minderheitenrechten geführt (Bielefeldt 2004:32). Stehen universale (allgemeine) Menschenrechte in einem strukturellen Widerspruch zu (besonderen) Minderheitenrechten? Alain Finkielkraut beispielsweise wendet sich gegen eine multikulturalistische Fokussierung auf spezifische Belange einzelner Gruppen. Er sieht hierin eine Erblast des Herderschen Denkens, das nur unendlich viele Erlebniskreise sieht, ein Kaleidoskop von narzisstischen Provinzialismen, aber keine Gemeinsamkeiten. Angesichts der Gefahr, die Menschheit wieder im Plural zu deklinieren, plädiert er dafür, Menschenrechte auf „menschenrechtlichen Universalismus“ zu beschränken (Finkielkraut 1989:19). Die kulturalistische Gegenposition argumentiert mit dem Bedürfnis des Individuums, in seiner Besonderheit anerkannt zu werden. Nach Charles Taylor geht es darum, nicht nur als Mensch, sondern als Individuum anerkannt zu werden – was er übrigens als universal ansieht. Dieses Recht auf Differenz könne nicht auf Individuen beschränkt werden, da seine Sicherung unter Umständen auf kollektiver Vertretung beruhe (Taylor 1997, vgl. Honneth 1992, Schiffauer 1997:144). Die aus dem Recht auf Differenz abgeleitete Position, Menschenrechte als allgemeines Recht zum Anderssein aufzufassen, ist aber problematisch, denn sie ist kaum mit der Begründung universaler Normen zu vereinen (Apel 2005:15f.).

Noch kompliziertere Fragen werfen verschiedene und teils erhebliche Ausweitungen der Rechte auf, die in neueren Debatten in der Moral- und Rechtsphilosophie und in der ökologischen Ethik diskutiert werden. Bei der Ausweitung des Universalisierungsradius wird hier nämlich die anthropozentrische Scheidelinie überschritten (v.d. Pfordten 1996:16; vgl. Rolston 1999). So gibt es vor allem eine heftige Diskussion zur Rechtszuschreibung und Gleichberechtigung nichtmenschlicher Wesen. Insbesondere höhere Primaten, wie Schimpansen und Orang-Utans, erscheinen einigen aufgrund ihrer kognitiven wie auch Leidens-Fähigkeiten als Kandidaten. Diese Haltung wendet sich gegen einen auf den Menschen orientierten Speziezismus. Sie ist aber problematisch, denn es erscheint kaum möglich, nichtmenschliche Wesen mit Menschen in eine moralische Kategorie zu stellen, ohne gleichzeitig einige Menschen auszuschließen, etwa Ungeborene oder geistig extrem behinderte Menschen die z.B. potentiell sprechen können, aber nicht de facto (Hull 1998). Zweitens würde damit die Allgemeinheit (Unteilbarkeit) der Menschenrechte aufgehoben und so von Rechten zu Privilegien transformiert (Fernández-Armesto 2005:137). Innerhalb dieser Debatten wird also die grundsätzliche Frage aufgeworfen, ob Homo sapiens eine kohärente moralische Kategorie darstellt, was von vielen Kulturen in der Geschichte immer wieder verneint wurde.

Die Menschenrechtsdebatte ist nur eine der Arenen, in denen universalistische Fragen lebenspraktisch und politisch relevant werden. Universalistische Behauptungen sind oft Ausdruck einer allgemeinen, oft idealistischen, Denkform. Dies wird in der Arbeit der 1989 in Warschau gegründeten „International Society for Universalism“ (vgl. Beiträge in Claessens & Mackensen 1992) exemplarisch deutlich. Eine weitere Arena universalistischer Debatten ist die Biopolitik (Fukuyama 2002:184-251). Das 20. Jahrhundert trägt das Signum einer Epoche, in der der Mensch als ein zu optimierendes Wesen gesehen wurde. Es gab viele Versuche einer „Anthropologie im Gerundivum“ (Bröckling 2004:188). Mit Beginn des 21. Jahrhunderts werden diese Möglichkeiten der Biopolitik und insbesondere Anthropolitik zunehmend realer (Steffens 1999, Lindemann 2001). Der Zivilisationsprozess spitzt alte Fragen durch neue Möglichkeiten und neue globale Gefahren zu: „Was ein Mensch ist und vor allem wer ein Mensch ist, das steht angesichts von Klonen, Cyborgs und vermeintlich intelligenten Computern auf neue Weise zur Disposition“ (Bröckling 2004:174). Die neuen technologischen Möglichkeiten lassen damit die Frage, was die Kategorie Mensch beinhaltet, wieder aufleben und auch gefährdet erscheinen. Fernández-Armesto kommt zum niederschmetternden Schluss: „… we do not know what humankind means; we do not know what it is that makes us human; so naturally, we will not be aware loosing it.” (Fernández-Armesto 2005:155)

Argumentationen, die in antirelativistischer und präskriptiver Absicht nach Universalien suchen, finden sich auch in der aktuellen Debatte um medizinische Ethik (Macklin 1999), in der ökologischen Ethik und in der Diskussion um kommunitaristische Sozialmodelle (Matjan 1995). Eine zentrale Einsicht dabei ist einfach die, dass Menschen als Organismen Teil der Lebenswelt sind und die Biosphäre Grundlage allen menschlichen Lebens ist. Ein in diesen Debatten inzwischen weitgehend etablierter Konsens besagt, dass Menschen vor dem Missbrauch medizinischer Praktiken zu schützen sind (Kather 2008aa:56). Universalistische Annahmen werden in Debatten um ökologisch verantwortliches Handeln etwa in den Positionen einer positiv bewerteten „Anthropozentrik“ verwendet. Anthropozentrismus wird dabei nicht als Herrschaft über die Natur, sondern als Verantwortung gegenüber der Natur gesehen. Natur schließt dabei auch die eigene ein, die durch Biotechnik zunehmend veränderbar ist:

„Alle Kulturen – seien sie auch noch so verschieden voneinander – finden sich unter einem gemeinsamen Dach zusammen, der Anthropozentrik als dem menschlichen Bezugssystem der gesamten Menschheit. (...) Von diesem Dach aus gesehen können in dieser globalen Gemeinschaft nicht einzelne Völker auf Kosten der gemeinsamen Natur oder anderer Völker leben.“ (Schwarz & Pechmann 1995:142; vgl. v. d. Pfordten 1996:18-23, Mittelstraß 2004:27)

Universalreligion, Utopien und neuer Kosmopolitismus

So wie soziale und persönliche Fragmentierung und Instabilität als Charakteristika der Moderne gelten können, so gehört ihr Gegenpol, der Universalismus und die Suche nach einem einheitlichen Menschenbild, in der Sicht heutiger Kulturtheorien ebenfalls zur Signatur der Moderne. Die Spannung zwischen diesen Polen charakterisiert Werke der Literatur, die als archetypisch modern gelten. Im Ulysses beschreibt James Joyce den fragmentierten Bewusstseinsfluss des Selbst in einem nichtrealistischen Erzählstil, aber er stellt dies in den Rahmen des Odysseus-Mythos, den ein universalistisches Menschenbild kennzeichnet (Barker 2003:194). Menschenbilder werden besonders häufig nicht nur als Annahmen über das Wesen der Menschen als sozial Handelnde diskutiert – wie das als Basis jeder Human- bzw. Sozialwissenschaft notwendig ist, sondern als normative Modelle menschlicher Existenz, als universale „Modelle des Menschseins“.3 Auch viele universalistische Theorien aus soziologischer und psychologischer Warte, die rein wissenschaftlich auftreten, beinhalten neben deutenden und beschreibenden Dimensionen unausgesprochen normative Momente.4 Immer lauert die Gefahr der Verwendung unzulänglich überprüfter und ideologisch gefärbter Begriffe des Menschen (Kapp 1983:144, Rippe 1999:11-14). Nur wenige Autoren sagen ausdrücklich, dass sie universalistische Untersuchungen mit dem Ziel verfolgen, bestimmte Werte zu fördern. Ein Beispiel für solche explizit wertsetzenden Ansätze ist Raoul Naroll mit seinem Konzept der „Sociometrics“, indem er mit einem kulturvergleichenden Ansatz für die universale Förderung von individueller und kultureller Autonomie und Vielfalt eintritt (Naroll 1983:27-33,48).

Die bei Menschenbildern notorische Gefahr der Vermischung von Ideal und Wirklichkeitsbeschreibung wird schon deutlich etwa in Johan Georg Adam Forsters (17541794) Vorstellungen vom Fortschritt hin zu einer „universalen Kenntnis des Menschengeschlechts“ (Heintze 1990:77f.). Neuere Beispiele normativer oder utopischer Elemente finden wir in den ansonsten wissenschaftlich orientierten Theorien von Piaget, Kohlberg, Parsons und Inkeles, da sie implizit Entwicklungsziele ausweisen (Schöfthaler 1983:338; vgl. auch Sieferle 1989). Normative universale Vorstellungen zeigen sich auch in den Modellen für eine interpersonelle Sinnkonstitution bzw. für interkulturelle Interpretationsgemeinschaften, wie in Apels „universaler Transzendentalgrammatik“ und Habermas´ „kommunikativer Kompetenz“ (vgl. Masson 1980:135f.; Jörke 2005:7387,127-131). Steven Pinker schließt einen Abschnitt zu überraschenden Gleichheiten entferntester Sprachen mit einer Äußerung, die in der Wahl der Worte und Beispiele schön zeigt, dass in der Universalienforschung immer auch ästhetische und normative Aspekte hereinspielen:

„Mit der Entdeckung dieser tiefgreifenden Parallelen in den Sprachen der Franzosen und Deutschen, der Araber und der Israelis, des Ostens und des Westens, der Menschen aus dem Zeitalter des Internets und der Menschen aus der Steinzeit erhascht man einen Blick auf die psychische Einheit der Menschen.“ (Pinker 2000:287)

Normative universalistisch orientierte Anliegen hat es außerhalb der Wissenschaft und der Rechtsnormen ebenso immer wieder in anderen Feldern, wie der Kunst, der Sprache und der Religion, gegeben. Besonders ausgeprägt ist das innerhalb der Theologie und Religionswissenschaft, besonders hinsichtlich Hierophanien, also Ereignissen, in denen das „Heilige“ erscheint bzw. Gegenstände als „heilig“ wahrgenommen werden. Frühere Generationen von Religionswissenschaftlern haben es, vor allem im Gefolge der Aprioritheorie Rudolf Ottos, für selbstverständlich gehalten, dass „das Heilige“ universell ist (Colpe 1997:1). Heute sieht man dies vorsichtiger und diskutiert eine Begrenzung auf die Religionen des Mittelmeerraums (Colpe 1997:12). Sehr aktuell sind solche Fragen im Hinblick auf global gemeinsame religiöse Erfahrungen und eine mögliche Transzendentalpragmatik. In Bemühungen um interreligiösen Dialog wird über die Möglichkeit diskutiert, religiöse Erfahrungen zwischen Religionen „schlicht zu bezeugen“ (Schaeffler 2005:212-218). In den Bereichen Religion, Kunst und Sprache hat das Thema Universalien oft eine besonders stark normative Seite – in praktischer, programmatischer oder utopischer Richtung. Hierzu ein Beispiel: Joseph Campbell verglich in einem bis heute bei Schriftstellern und Drehbuchschreibern populären Buch Mythologien aus allen Teilen der Welt, insbesondere aus dem abendländischen Kulturraum. Campbell nannte die außerwissenschaftlichen Motive seines Projekts ausdrücklich, indem er seine Suche nach geteilten Wahrheiten der Glaubenswelten begründete:

„Meine Hoffnung ist, daß eine vergleichende Durchdringung des Stoffes zu dem vielleicht nicht ganz verzweifelten Anliegen der Kräfte beitragen könnte, die in der Welt von heute auf Einigung hinarbeiten – nicht im Namen irgendeines kirchlichen oder politischen Imperiums, sondern im Sinne des gegenseitigen Verstehens der Menschen.“ (Campbell 1953:8)

Die grundlegenden Probleme und Fragen, etwa die, ob der Mensch ein Kultur- oder Naturwesen ist, scheinen sich in allen Gesellschaften zu stellen. Hinsichtlich der religiösen Traditionen wird beispielsweise immer wieder darauf hingewiesen, dass es eine mystische Einheit zwischen Natur und Mensch gebe (z.B. Tooten 2002). Die wichtigsten Glaubensoptionen sind historisch ubiquitär. Große Universalreligionen scheinen die Fragen, die in allen Glaubensformen vorkommen, nur zu systematisieren, etwa in den Monismen und Monotheismen (Ohlig 2002:229f.,256f.). Im islamischen Konzept der umma gab es schon früh die Vorstellung transkultureller Normen (Bennison 2002:61). Seit dem 19. Jahrhundert exisstieren explizit universalreligiöse Bewegungen, deren Anliegen es ist, die Religionen aus ihrer gemeinsamen Mitte heraus zu verstehen. Diese verfolgen den Ansatz, trotz der Verschiedenheit der Glaubensrichtungen, eine Einheit zwischen allen festzustellen bzw. herzustellen, z.B. durch die allen Menschen unter bestimmten Bedingungen zugängliche Mystik bzw. Transzendenzerfahrung (Figl 1993:146ff.). Auf dem Gebiet der Sprache wurde immer wieder versucht, eine universelle Sprache zu finden oder zu künstlich zu schaffen. Beispiele sind die ekstatische Kabbala, die Grammatik bei Dante oder das Esperanto (Eco 2002) sowie Versuche seit dem 17. Jahrhundert, der babylonischen Sprachverwirrung durch Etablierung einer Gestensprache beizukommen, die auf einer universalen Körpersprache beruht (Hübler 2001:196; 338-361).

Selbst in anthropologischen Werken finden sich normative Verständnisse von Universalien, zum Teil sogar explizit. So bestimmt etwa Xanthopoulos in einem anthropologischen Nachschlagewerk in einem „Universals in Cultures“ (statt „of“) benannten Beitrag Universalien als kumulative künstlerische und intellektuelle Errungenschaften der Menschheit. Er sieht die Bedeutung des Themas vor allem im Beitrag zu einer am Beginn des 21. Jahrhunderts notwendigen Neudefinition des Begriffs „menschlich“. Er betont, dass derart gefasste Universalien nicht nur in der Summe der herausragenden Kunstwerke selbst bestehen, sondern auch in der „globalen Erfahrung“ durch die Wertschätzung der Werke (Xanthopoulos 2006:2244). Dafür mischt er deskriptive Beispiele menschlicher Gemeinsamkeiten, z.B. in Mythen, mit Sollvorstellungen, etwa zur Liebe.

Seit kurzem werden universalistische Ideen im Rahmen einer wiederbelebten Diskussion um Weltbürgertum unter dem Stichwort „Kosmopolitismus“ neu überdacht (z.B. Appiah 2007:122-127). Kosmopolitische Ideen finden sich, wie oben schon angemerkt, bei so verschiedenen Denkern und Traditionen wie den Stoikern, Rabindranath Tagore, Sri Aurobindo, Martha Nussbaum, Amartya Sen und Ananta Kumar Giri. Sie eint die zentrale Aussage, dass alle Menschen zu einer Welt gehören. Nach den Erfahrungen mit globalen Kriegen und Umweltkrisen steht heute der Tatbestand im Mittelpunkt, dass alle Menschen „Bürger“ der einen (gefährdeten) Welt sind (vgl. das „Weltethos“ bei Küng 2008, Küng & Kuschel 2000). Die Menschheit erscheint als globale Interessengemeinschaft (vgl. Ryn 2003). Wahrscheinlich sind deshalb Globen so populär und die Metapher „Alle in einem Boot“ so verbreitet. Ulrich Beck stellt heraus, dass Menschen und politische Gebilde nicht nur in lokale Umfelder eingebettet sind, sondern zunehmend in überlokalen bis hin zu globalen Bezügen stecken. Dies erzeuge einen „kosmopolitischen Blick“ und der sei vor allem skeptisch, selbstkritisch und illusionslos (Beck 2004:7-25,151ff.). Eine bescheidenere Variante des Kosmopolitismus – etwa bei Kwame Anthony Appiah – sucht zwar auch universale Normen und Werte, betont aber, dass zumindest auf der Ebene der Alltagsbegegnungen schon weniger reicht. Die kosmopolitische Neugier auf andere Völker braucht nicht in jeder Begegnung die Suche nach allen Menschen gemeinsamen Charakteristika, denn es gibt näher liegende Anknüpfungspunkte „Wenn zwei Menschen einander begegnen, haben sie oft weit mehr gemeinsam, als die Dinge, die bei allen Menschen gemeinsam sind.“ (Appiah 2007:125) Ein solcher Weg zum Weltbürgertum ist wohl realistischer und eher dagegen gefeit, unbedingt Universales finden zu müssen und damit in die Falle des Wunschdenkens zu tappen.

Postkolonialistische Vertreter eines Kosmopolitismus monieren, dass der koloniale Kontext, in dem sich diese Ideen großteils entwickelten, als auch die unterschiedlichen Erfahrungen verschiedener Kulturen in westlichen Kosmopolitismuskonzepten außen vor blieben (Giri 2006). Es ist dazu allerdings festzuhalten, dass kosmopolitische Kultur im Beck´schen Kosmopolitismus als transnationale, pluralistische und offene Kultur gesehen wird, in der die Vielfalt nicht in einer Einheit integriert ist. Im Feld politischer Philosophie ist Universalität jedenfalls umstritten. Judith Butler (*1956) kann beispielhaft für eine derzeit sehr verbreitete Haltung gelten: „… the exclusion of certain contents from any given version of universality is itself responsible for the production of universality in its empty and formal vein.“ (Butler 2000:137) Manche Vertreter der politischen Linken befürworten dagegen den Aufbau einer Konzeption von Universalität, was andere wiederum strikt ablehnen, wie aktuelle Debatten zeigen (vgl. Laclau 2000 vs. Butler 2000, Assiter 2003:32-52). Zusammengenommen zeigt sich, dass Annahmen zu Universalien so verbreitet wie umstritten sind und es erweist sich, dass relativistische und universalistische Perspektiven auf schwierige Weise verquickt sind:

“Relativismus und Universalismus sind nicht so einfach zusammenzubringen, wie man uns glauben machen möchte, wenn wir politischen Deklarationen oder grundlegenden Aussagen über aufgeklärtes, liberales oder progressives Denken zuhören.” (Hauschild 2005b:66)

Was ist den Menschen gemeinsam?

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