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3 – Dezember 2012

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Konstantin Lerner saß in der allerletzten Reihe des Hörsaals II im Psychologischen Seminar der Uni Heidelberg und lauschte der Vorlesung von Professor Dr. Detlev Hager zu den biologischen Grundlagen der menschlichen Persönlichkeit. Es war nicht leicht, seinen Ausführungen zu folgen, denn der Herr Professor vermittelte nicht den Eindruck, dass ihn sein Thema und auch die Studierenden sonderlich interessierten. Er las eher monoton, blieb sehr im Abstrakten und gab sich keine Mühe, die Darstellungen durch Beispiele aus der Praxis lebendig werden zu lassen.

In der ersten halben Stunde versuchte Konstantin noch, Professor Hagers Vortrag in Stichpunkten mitzuschreiben. Dann aber wurden die Aufzeichnungen immer lückenhafter, bis seine Gedanken völlig abschweiften und er vom Inhalt der Vorlesung gar nichts mehr mitbekam.

Er war wieder bei der Frage, die ihn schon seit geraumer Zeit mehr und mehr beschäftigte: Wer bin ich eigentlich?

Vor einigen Tagen war ihm ganz plötzlich klargeworden, dass er sein Studienfach eigentlich nur gewählt hatte, um eine Antwort auf diese Frage zu bekommen. Aber in seinem Fall war klar, dass das nicht möglich war.

Wenn er sich an seine Kindheit erinnerte, so kamen widersprüchliche Gefühle in ihm hoch. Er war in Weinheim* aufgewachsen, einer kleinen Stadt, 18 km nördlich von Heidelberg an der Bergstraße* gelegen, die als besondere Sehenswürdigkeiten gleich ein Schloss und zwei Burgen zu bieten hat. Sein Vater war ein Augenarzt mit gutgehender Praxis, also wohlhabend. Sie wohnten am Berghang in einer hundert Jahre alten Villa mit einem großen Garten. Seine Eltern, vor allem die Mutter, waren immer da, wenn er sie brauchte. Und schon nach seinem ersten Jahr im Kindergarten durfte er oft seine Spielkameraden einla-den, hatten sie doch diesen wunderbaren großen, teils verwilderten Garten, der zu Abenteuerspielen aller Art einlud.

Aber, so erinnerte er sich, schon seit sehr früher Zeit hatte er das Gefühl gehabt, irgendetwas stimme nicht mit ihm, sei falsch an all dem Schönen, was er hatte. Oft spürte er scheinbar grundlose Angst. Wenn er nur kurz allein war, glaubte er schnell, er würde jetzt für immer allein bleiben müssen. Wenn er über eine Brücke ging, stellte er sich vor, sie würde gleich unter ihm einstürzen, und rannte dann so schnell wie möglich hinüber. Wenn er selbst oder jemand, der ihm nahe stand, krank wurde, fürchtete er, er würde niemals wieder gesund werden, sondern an der Krankheit sterben. Wenn dann seine Eltern versuchten, ihn zu beruhigen, und ihm erklärten, wie unbegründet seine Ängste doch wären, so half das nichts. Im Gegenteil. Er wurde tieftraurig, und manchmal wurde er auch einfach nur wütend und zerschlug Spielsachen, hin und wieder sogar Mutters edles Geschirr.

Auch konnte er schon sehr früh beobachten, wie seine Eltern oft leise miteinander sprachen, wenn er in dieser Weise reagierte. Er war sich dann sicher, dass sie über ihn sprachen und dass es etwas Schlimmes war, was sie da zu bereden hatten.

Besonders intensiv war ihm in Erinnerung, wie sein Opa starb, kurz nach seinem zwölften Geburtstag. Er hatte ihn sehr lieb gehabt und war daher unendlich traurig, ja geradezu verstört. Um ihn zu trösten, hatte man ihm erzählt, dass der Opa jetzt beim lieben Gott im Himmel wäre und dass es ihm dort gutginge und man deshalb nicht traurig sein müsse. Dann hatte er einige Tage nach der Beerdigung seinen Vater ganz plötzlich gefragt: „Man kommt in den Himmel, wenn man gestorben ist. Aber woher kommt man dann, wenn man geboren wird?“

Er bemerkte, dass sein Vater über diese Frage furchtbar erschrak und ihr auswich. Zum ersten Mal hatte er sich hier mit einer Frage allein gelassen gefühlt. Und am Abend des gleichen Tages bekam er dann auch noch zufällig einen Gesprächsfetzen mit, als sein Vater zur Mutter sagte: „Ich glaube, wir werden es ihm bald sagen müssen.“

Was werden sie mir bald sagen müssen, hatte er gedacht, aber sich nicht mehr getraut weiterzufragen.

So ging es weiter bis zu seinem sechzehnten Geburtstag. Da nahm ihn am Nachmittag nach dem familiären Kaffeetrinken sein Vater beiseite und sagte: „Konstantin, du bist jetzt sechzehn Jahre alt und es wird Zeit, dass du etwas Wichtiges über dich erfährst. Deine Mutter und ich, wir haben dich aufgezogen als unser Kind, aber Mama hat dich nicht geboren. Wir haben dich adoptiert, als du acht Wochen alt warst.“

Es hatte ihn getroffen wie ein Hammerschlag. Nach langem Schweigen hatte er gefragt: „Und wer sind meine richtigen Eltern?“

„Deine richtigen Eltern, das sind wir, Mama und ich. Du fragst nach deinen leiblichen Eltern. Und da gebe ich dir mein väterliches Ehrenwort: Wer das ist, das weiß ich selber nicht. Als wir dich damals adoptiert haben, hat man uns gesagt: Es sei für dich und deine leiblichen Eltern besser, wenn du das nie erfährst. Mama und ich haben lange überlegt, ob wir uns darauf einlassen sollten. Aber es ist nicht leicht hierzulande, ein Kind zu adoptieren. Wir hatten schon so viele Jahre gewartet. Und deshalb haben wir uns darauf eingelassen. Vielleicht hätten wir es nicht tun sollen. Aber jetzt ist es eben so.“

Durch diese Nachricht wurde Konstantin völlig aus der Bahn geworfen. Er sprach kaum noch ein Wort mit seinen Eltern. Vorher ein guter Schüler, brach er nun in allen Fächern ein. Zeitweise rutschte er in die Rauschgiftszene ab, fing sich aber nach einer Entziehungskur wieder. Doch das Verhältnis zu seinen Eltern blieb unwiderruflich zerstört.

Und nun saß er im Hörsaal II des Psychologischen Seminars und die Vorlesung über die biologischen Grundlagen der menschlichen Persönlichkeit neigte sich ihrem Ende zu. Da fasste er einen Entschluss. Er musste endlich aufhören nur zu grübeln. Damit konnte er nicht weiterkommen. Er musste handeln. Auch wenn es dreiundzwanzig Jahre her war, musste es doch noch irgendwo Unterlagen geben, aus denen hervorging, wer seine richtigen Eltern waren.

Also entwarf er einen Plan. Er wusste, dass seine Adoption damals über das Jugendamt in Weinheim gelaufen war. Da wollte er zuerst hingehen. Wenn er dort nicht weiterkäme, könnte er einen Privatdetektiv beauftragen, das Geheimnis seiner Geburt zu lüften. Da hörte er das Klopfen seiner Kommilitonen. Die Vorlesung war zu Ende.

Jetzt kein Zögern mehr, dachte er. Weitere Lehrveranstaltungen an diesem Tag mussten eben ausfallen. Er warf sich seine Umhängetasche über die Schulter und verließ das altertümliche, lange als Schule genutzte Gebäude. Zwischen den großen, kahlen Bäumen des Innenhofs hindurch gelangte er auf die Brunnengasse, wo er nach wenigen Metern in die Hauptstraße einbog. Ohne einen Blick für die weihnachtlich dekorierten Schaufenster ging er weiter und stieg bald darauf am Bismarckplatz in die Linie 6 nach Weinheim ein.

Es überkam ihn plötzlich ein immenses Aufbruchsgefühl. Alle Hemmungen und Ängste, die ihn bisher verfolgt und behindert hatten, würden endlich verschwinden, wenn er erst einmal klar sehen konnte, wer er wirklich war und woher er kam. Dass er bei seinen Nachforschungen auf schlimme Dinge stoßen könnte, diesen Gedanken ließ er jetzt nicht zu.

In Weinheim angekommen, ging er mit schnellen Schritten vorbei am heruntergekommenen, schon lange geschlossenen alten Bahnhofsgebäude, über die Kopernikusstraße aufwärts zum neugotischen Schloss, wo die Stadtverwaltung ihren Hauptsitz hatte. Dort sagte man ihm, das Jugendamt sei schon lange zusammen mit anderen Dienststellen in einen neuen Gebäudekomplex in der Dürrestraße umgezogen. Über die Grabengasse und Institutsstraße erreichte er die Fußgängerzone in der Hauptstraße, die bald die Dürrestraße kreuzt. Dort stand rechter Hand das gesuchte Gebäude, und im ersten Stock fand er nach längerem Suchen die Dienststelle, die für Adoptionen zuständig war. Er klopfte und wurde nach kurzem Warten hereingebeten.

In einem kleinen und völlig schmucklosen Büro saß hinter einem klobigen Schreibtisch, auf dem sich Aktenberge türmten, eine Frau, die etwa fünfzig Jahre alt sein mochte. Ihre Bewegungen waren hektisch und ihr fleischiges Gesicht war unnatürlich rot angelaufen. Sie schien völlig überarbeitet zu sein. Ohne von ihrem Monitor aufzublicken, sprach sie Konstantin Lerner mit einer Stimme an, die verriet, wie ungelegen ihr diese Störung kam: „Herzog mein Name, was kann ich für Sie tun?“

Obwohl vor dem Schreibtisch zwei Stühle standen, bot sie ihm keinen Sitzplatz an. Konstantin Lerner setzte sich trotzdem und begann zu reden: „Ich bin Konstantin Lerner und wohne hier in Weinheim. Ich habe folgendes Anliegen. Ich wurde im Alter von acht Wochen adoptiert und meine Zieheltern versichern mir, dass sie selbst keine Ahnung haben, wer meine leiblichen Eltern sind. Es sei damals für die Adoption Bedingung gewesen, dass meine tatsächliche Herkunft für immer unbekannt bleibt. Das kann ich aber nicht akzeptieren. Ich will wissen, wer ich eigentlich bin.“

„Bitte noch einmal Ihren Namen und auch das Geburtsdatum“, antwortete Frau Herzog trocken.

„Konstantin Lerner, 20. November 1990.“

„Einen Moment bitte, ich muss prüfen, ob mir der Computer etwas anzeigt.“

Mit schnellen Fingern gab sie seine Daten ein. Nach kurzer Zeit schien sie etwas gefunden zu haben. Sie stutzte, sah noch zweimal genau hin und sagte dann etwas zögernd und befangen:

„Herr Lerner, ich muss Sie da leider enttäuschen, der Vorgang ist zu lange her. Wir haben darüber keine Unterlagen mehr.“

„Könnte es über den Vorgang noch irgendwo anders Unterlagen geben?“

„Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen.“

„Das bedeutet also, ich habe keine Möglichkeit mehr, etwas über meine Herkunft zu erfahren?“

„Ich fürchte, ja.“

„Das kann doch gar nicht sein! In diesem Land wird doch sonst jeder Mist Jahrzehnte lang aufgehoben. Und Sie sind sich sicher, dass Sie mir tatsächlich keine Auskunft geben können und nicht etwa nicht wollen oder dürfen?“

„Ich verbitte mir solche Unterstellungen, ich kann nichts für Sie tun. Damit ist dieses Gespräch beendet. Wie Sie sehen, habe ich viel zu tun. Guten Tag.“

Sie deutete auf die vielen Akten und wandte sich wieder ihrem Computer zu. Konstantin Lerner stand noch einige Augenblicke verdutzt im Raum, bevor er sich umwandte und die Tür recht lautstark hinter sich schloss.

Etwas benommen ging er den langen Gang zum Treppenhaus zurück. Er ließ das Zusammentreffen mit Frau Herzog noch einmal Revue passieren. Warum zögerte sie mit der Antwort, nachdem sie seinen Namen in den PC eingegeben hatte? Und warum reagierte sie so völlig überzogen auf seine letzte Frage? Er war sich sicher, dass sie ihm nicht die Wahrheit gesagt hatte. Aber was sollte er jetzt tun? Wie konnte er sonst noch an Informationen kommen? Da erinnerte er sich, dass es irgendwo ein Stadtarchiv geben musste. Er rief über sein Handy die Stadtverwaltung an und man sagte ihm, es läge in der Schulstraße, in dem gleichen Bau wie die Pestalozzi Grundschule.

Es war nur ein kurzer Weg bis dorthin. Aber der Eingang war nicht leicht zu finden, da er versteckt hinter der Schule lag. Als er eintrat, merkte er gleich, dass sich kaum jemand für diese Institution zu interessieren schien. Denn abgesehen von einem Aufsichtsbeamten, der in sein Kreuzworträtsel vertieft war, schien der Raum menschenleer zu sein.

Konstantin Lerner beschloss, hier eine andere Strategie zu steuern als im Jugendamt. Er trat zu dem Aufsichtsbeamten und sprach ihn an: „Guten Tag, Wilfried Fichte mein Name. Ich bin Journalist und recherchiere zurzeit an einer Story über Adoption. Dabei bin ich auf einen interessanten und wohl nicht ganz unkomplizierten Fall gestoßen, der hier in Weinheim gelaufen sein muss. Das ist aber schon eine Weile her, deswegen komme ich zu Ihnen. Es handelt sich um einen gewissen Konstantin Lerner. Die Adoption muss so Ende 1990, Anfang 1991 gewesen sein. Könnte es sein, dass es hier darüber etwas gibt? Ich war schon beim Jugendamt und die haben mich zu Ihnen geschickt.“

„Hmm“, brummte der Beamte und legte etwas unwillig das Kreuzworträtsel beiseite. „Wir haben hier schon solche Sachen. Ist nicht ganz einfach zu finden, wenn es so lange her ist. Ich werde mal meinen Computer befragen, der weiß eigentlich alles. Wie war noch der Name?“

„Lerner, Konstantin Lerner.“

„Und wann, sagten Sie, war der Vorgang?“

„Irgendwann Ende 1990 oder Anfang 1991.“

Der Beamte gab die Daten nur mit dem Zeigefinger der rechten Hand ganz bedächtig in seinen Computer ein. Es dauerte eine geraume Zeit, dann blickte er auf, sah sein Gegenüber eine Weile an und meinte dann: „Wir haben hier tatsächlich eine Akte Lerner, die aus dieser Zeit stammt. Allerdings sehe ich gerade, sie hat einen Sperrvermerk.“

„Und das bedeutet?“

„Dass ohne besondere Genehmigung niemand hier Einsicht nehmen darf.“

„Und wie kann man eine solche besondere Genehmigung bekommen?“

Der Beamte musste sich eine Weile besinnen, da ein solcher Fall schon lange nicht mehr vorgekommen war. Dann hellte sich sein Gesicht auf und er sagte: „Warten Sie einen Moment, jetzt erinnere ich mich, wo die Antragsformulare liegen.“

Er erhob sich, trat an einen Aktenschrank hinter seinem Schreibtisch, öffnete ihn umständlich, suchte eine Weile und kam dann mit einem Blatt Papier zurück.

„Also, hier wäre das Formular. Aber ich sage Ihnen gleich, Sie müssen sehr triftige Gründe angeben, wenn Ihr Antrag positiv beschieden werden soll.“

„An wen ist denn der Antrag zu richten und wie lange wird es dauern, bis das entschieden wird?“

„Also, in diesem Fall wird der Antrag an das Jugendamt zu stellen sein. Und wie lange das dauert? O je, Gottes Mühlen und die der Weinheimer Stadtverwaltung mahlen langsam. So mit sechs bis acht Wochen werden Sie da sicher rechnen müssen.“

„Das dauert mir viel zu lange. In dieser Zeit muss die Story schon längst veröffentlicht sein. Gibt es keinen anderen Weg als den Dienstweg?“

„Natürlich nicht!“, antwortete der Beamte entrüstet.

„Nun“, fuhr Konstantin Lerner mit hintersinnigem Lächeln fort. „Ich nehme an, dass dieser Job sicher nicht gerade fürstlich bezahlt wird. Wann haben Sie hier Feierabend?“

„Um 18 Uhr“, antwortete der Beamte etwas verwirrt. Er konnte sich nicht vorstellen, worauf sein Besucher hinaus wollte. Der griff in seine Hosentasche, holte einen Fünfzigeuroschein heraus und legte ihn auf den Schreibtisch. „Sehen Sie, dieses Scheinchen schenke ich Ihnen, einfach so, und nach Ihrem Dienstschluss werde ich in der Bahnhofstraße in der Pizzeria Milano zu Abend essen. Und wenn Sie da vorbeikommen und mir die Akte mitbringen, dann hab ich noch ein-

mal fünf solche Scheinchen für Sie. Ich geh dann jetzt.“

„Aber das ist doch …!“

„Regen Sie sich nicht auf. Spätestens übermorgen bringe ich Ihnen die Akte zurück und alles ist wieder in bester Ordnung. Wenn jetzt jemand diese Akte sehen will, muss er doch, wie Sie mir sagten, einen Antrag stellen, und es dauert mindestens sechs Wochen, bis der bearbeitet ist. Es kann also gar nichts passieren. Aber damit es Ihnen leichter fällt, bekommen Sie heute Abend noch neun solche Scheinchen. Ich will nicht knickerig sein. Also, bis dann.“

Er drehte sich um und verließ schnell den Raum, den Beamten in Gewissensqualen zurücklassend. Konstantin Lerner hatte jetzt keine Lust, nach Hause zu gehen. Er suchte die Stadtbücherei auf, stöberte eine Weile in diversen Büchern und fand dann in der Fußgängerzone ein Kino, dass zu einer für ihn günstigen Zeit Vorstellung hatte.

Kurz vor 18 Uhr war er in besagter Pizzeria, bestellte ein Bier und wartete gespannt. Und tatsächlich: Bereits wenige Minuten nach sechs kam der Beamte aus dem Archiv, etwas gebückt mit hochgezogenen Schultern und mit einer dünnen Aktenmappe unterm Arm. Er sah sich mehrfach um, ob ihn

nicht doch jemand beobachtet hatte und ihm gefolgt war. Er setzte sich zu Konstantin Lerner an den Tisch.

„Wollen Sie auch ein Bier?“, fragte er den Beamten.

„Also … eigentlich …“

„Herr Ober, bitte noch ein Bier für den Herrn.“

Die beiden saßen sich schweigend gegenüber, bis der Ober das Bier brachte.

„Na, dann prost!“, sagte Konstantin Lerner, hob sein Glas, und dem Beamten blieb nichts anderes übrig, als mit ihm anzustoßen. Danach wieder Schweigen. Schließlich griff Konstantin in seine Tasche und holte einen Umschlag hervor.

„Lassen Sie uns tauschen“, meinte er und sah den Beamten erwartungsvoll an. Dieser legte zögernd die Aktenmappe auf den Tisch, ergriff den Umschlag, blickte hinein und konnte sich überzeugen, dass tatsächlich neun Fünfzigeuroscheine drin waren. Sein Gegenüber öffnete die Aktenmappe ein wenig, nickte kurz, als er seinen Namen las, und steckte sie in seine Tasche.

„Also dann, spätestens in drei Tagen haben Sie die Akte wieder“, sagte Konstantin Lerner, der nicht wissen konnte, dass sie nie wieder an ihren Platz im Archiv zurückkommen sollte.

„Dann geh ich jetzt besser“, meinte der Beamte flüsternd, nahm noch einen großen Schluck Bier und verschwand, ohne sich richtig zu verabschieden. Konstantin Lerner blieb eine Weile ruhig sitzen. Aber dann hielt er es nicht länger aus, nahm die Akte aus seiner Tasche und las.

Bereits nach wenigen Augenblicken ließ er die Papiere völlig entgeistert sinken. Jetzt verstehe ich, warum ich das nie erfahren sollte, dachte er. Ich hätte die Finger davon lassen sollen. Aber jetzt ist es zu spät.

Er erhob sich, trat mit zitternden Knien an die Theke und bezahlte seine Rechnung. Langsam verließ er das Lokal. Draußen schlug ihm die kalte Dezemberluft entgegen. Es hatte angefangen zu schneien. Unschlüssig stand er vor dem Lokal. Er wusste nicht, wo er jetzt hingehen sollte. Nach Hause wollte er auf keinen Fall. Aber eines wusste er ganz sicher: Es würde in Zukunft nichts mehr so sein wie bisher.

Der Engel mit den traurigen Augen

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