Читать книгу Der Engel mit den traurigen Augen - Christoph Wagner - Страница 18
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ОглавлениеDas Taxi hielt in Rohrbach* an der Eichendorffstraße 12 vor einem schlichten zweistöckigen Wohnhaus mit ausgebautem Dachgeschoss. Bernhard Travniczek zahlte, stieg aus und sah sich etwas um. Dort oben im Dachgeschoss hatte also sein Vater nach langem vergeblichen Suchen endlich eine bezahlbare Wohnung gefunden, die seinen Vorstellungen entsprach. Das Haus stand sicher schon seit weit mehr als fünfzig Jahren, dachte er, als er fünf Stufen einer überdachten Treppe zur Haustür hinaufstieg. Er sah in den Vorgarten auf einen kurzgeschnittenen Rasen und einen alten knorrigen Apfelbaum. Hinter dem Haus war ein großer Nutzgarten mit Gewächshaus angelegt. Dass auch sein Vater einen Teil davon bearbeiten würde, konnte er sich nicht so recht vorstellen. Im engen Treppenhaus knarrten die hölzernen Stufen heftig und die geometrisch gemusterten rötlichen Tapeten schienen schon seit sehr langer Zeit nicht mehr erneuert worden zu sein.
Bernhard öffnete die mit einem Milchglasfenster versehene Wohnungstür und trat ein. Zwar hatte ihn sein Vater vorgewarnt, dass er mit der Einrichtung noch nicht ganz fertig sei, aber tatsächlich hatte er noch gar nicht richtig begonnen. Im Flur blieb nur ein schmaler Gang zwischen ungeordnet herumstehenden und teilweise geöffneten Umzugskisten. Im Zimmer hinter der zweiten Tür links sollte er schlafen. Er ging hinein und fand in dem unerwartet großen Raum mit Dachschräge und Gaubenfenster nur ein Bett und zwei Stühle vor. An der rechten Wand lehnten einige flache Kartons, in denen Möbel der Firma EKAI darauf warteten, zusammengeschraubt zu werden.
Er warf seine blaue Reisetasche auf den Boden und wollte erst einmal die Wohnung weiter inspizieren. Gegenüber von seinem Zimmer lag die Küche. Hier war zu seiner Verwunderung schon alles gemütlich eingerichtet. Muss zur Wohnungsausstattung gehören, dachte er. Auf der Stirnseite lag das große Wohnzimmer, von dem aus man auf einen Balkon gelangen konnte. Hier sah es noch gar nicht wohnlich aus. Ein alter Campingtisch mit zwei wackeligen Stühlen, auf dem Boden ein Fernsehgerät, daneben ein CD-Spieler, um den herum viele CDs lagen, und ein Klavier waren bis jetzt die ganze Einrichtung. Der Balkon war noch vollkommen leer. In das Schlafzimmer seines Vaters, das gleich links neben der Wohnungstür lag, sah er vorsichtshalber erst gar nicht hinein.
Er spürte zunächst den Impuls anzufangen, Möbel zusammenzuschrauben, besann sich dann aber doch eines Besseren, verließ die Wohnung und fuhr mit der Straßenbahn in die Innenstadt. Er wusste aus Erfahrung, dass mit seinem Vater nicht vor spät abends zu rechnen war. So wollte er die Stadt auf eigene Faust erkunden. Am Bismarckplatz stieg er aus und schlenderte gemütlich die Hauptstraße hinauf. Er schaute interessiert in die Schaufenster des ein oder anderen Geschäfts und ging manchmal auch hinein, ohne etwas kaufen zu wollen. Schließlich fand er einen Bankautomaten, wo er mit der Karte seines Vaters hundert Euro zog.
Natürlich entdeckte er wieder viele lohnende Fotomotive, nahm dann einen Kaffee und genoss die lebendige Atmosphäre der Stadt mit ihren vielen jungen Leuten, noch mehr Touristen und wohl eher weniger alteingesessenen Heidelbergern. Am Universitätsplatz drehte er eine Runde, blickte in die Neue Uni*, deren reizlos klobige Architektur ihn abstieß. Sehr viel anziehender fand er die Alte Uni* und ging hinein, um sich etwas umzusehen. Er hatte Glück. Die Alte Aula* war zufällig offen. Er setzte sich ganz hinten in diesen wunderschönen, durchweg holzgetäfelten Saal mit seinen zahlreichen Gemälden und Skulpturen und ließ seine Gedanken schweifen. Unwillkürlich kam ihm sein Opa in den Sinn. Der hatte als Soloflötist in mehreren bedeutenden Orchestern gespielt, bevor er Professor an der Münchner Musikhochschule wurde. Sein Spiel hätte hier sicher wunderschön geklungen. Als kleines Kind hatte er oft unter dem Flügel gesessen und andächtig zugehört, wenn er probte. Später hatte der Opa ihm Flötenunterricht gegeben. Bernhard übte viel, weil ihm nichts wichtiger war, als vom Opa gelobt zu werden. So brachte er es in vier Jahren zu für sein Alter ungewöhnlicher Fertigkeit und war schon zum Wettbewerb „Jugend musiziert“ angemeldet. Doch dann starb sein Idol ganz plötzlich an einem Herzinfarkt und Bernhard wollte seine Flöte nicht mehr anrühren. Da konnte sein Vater noch so viel versichern, wie sehr sich der Opa freuen würde, wenn Bernhard ihm im Flötespielen nacheiferte. Aber es ging einfach nicht mehr.
Die Erinnerung an Opas Tod verband sich mit Trauer über den zumindest teilweisen Verlust des Vaters. Seit Oktober letzten Jahres hatte er ihn nur dreimal gesehen. Diese Begegnungen waren zum Teil sehr problematisch, ja unwürdig verlaufen, vor allem an Weihnachten, als es bereits am ersten Feiertag zu einem massiven Streit mit der Mutter kam und der Vater verbittert wieder abgereist war. Und Wolfgang, Mutters Neuer, war zwar ganz nett. Aber ein neuer Vater? Nie und nimmer. Und dass Mutter jetzt schwanger war, beunruhigte ihn zusätzlich. Er konnte sich kaum vorstellen, dieses Kind als neues Geschwister zu akzeptieren, und Julia und Christian, seine jüngeren Geschwister, dachten ganz ähnlich.
Lange blieb er so gedankenverloren sitzen, ehe er ganz plötzlich aufstand und die Uni verließ. Der Trubel in der Hauptstraße vertrieb schnell wieder seine trüben Gedanken. Bernhard schlenderte weiter bis zum Karlsplatz* und ließ natürlich die Fotoklassiker am Kornmarkt, „Madonna* mit Schloss“, und am Karlsplatz, „Sebastian-Münster-Brunnen* mit Schloss“, nicht aus. Auf dem Rückweg verweilte er auf dem Marktplatz, bewunderte dort die Barockfassade des Rathauses und stellte sich das Thema „Leben in der Heidelberger Altstadt“ für eine ausgedehnte Fotoserie. Er warf einen flüchtigen Blick in die Heiliggeistkirche, die ihn nicht sonderlich beeindruckte.
Allmählich bekam er Hunger. Er sah in eine Reihe von Lokalen hinein, ehe er sich schließlich für die Pizzeria ‚Sole d’ oro‘5 kurz hinter der Heiliggeistkirche entschied. Es gab aber keinen freien Tisch mehr. Er sah sich um und fragte ein junges Paar, ob er sich zu ihnen setzen dürfe. Sie luden ihn ein, Platz zu nehmen, und bald entspann sich zwischen den Dreien ein angeregtes Gespräch.
Es waren beides Studenten: Germanistik und Geschichte im zweiten Semester. Sie kam aus Norddeutschland, aus der Nähe von Bremen, und er aus dem Saarland. Sie erzählten von ihren Erfahrungen mit dem Studium in Heidelberg. Wie fast überall gab es auch hier vor allem für die unteren Semester viele überfüllte Lehrveranstaltungen, und als Studienanfänger fühlten sie sich oft ziemlich allein gelassen. Das würde aber mehr als wettgemacht durch das einmalige Ambiente der Stadt. Schon das Germanistische Seminar sei ein Juwel: Es hatte seinen Sitz am Karlsplatz, direkt unterhalb des Schlosses im Palais Boisserée, einem vor mehr als 300 Jahren erbauten palastartigen Barockbau, in dem einst auch Goethe verkehrt hatte. Hier lernte man nicht nur Geschichte, sondern konnte sie in der mannigfaltigen Architektur hautnah erleben.
Schnell käme man auch mit vielen verschiedenen Menschen in Kontakt, nicht nur mit Kommilitonen, sondern auch mit ganz anderen durch die Vielzahl von Konzerten, Theateraufführungen, Kleinkunst und dergleichen mehr. Oder ganz einfach auf der bis spät in die Nacht quicklebendigen Fußgängerzone in der Hauptstraße, auf der sich viele Straßenmusikanten oder andere Künstler tummelten. Überhaupt spiele sich hier vieles im Freien ab, was an italienische Piazzakultur erinnere. Lange saßen sie zusammen und Bernhard erzählte auch von München. Schließlich tauschten sie ihre Telefonnummern aus und versprachen, in Kontakt zu bleiben. Es war schon fast Mitternacht, als Bernhard sich auf den Rückweg zum Bismarckplatz machte, um noch eine Straßenbahn nach Rohrbach zu bekommen.