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2 – Aleppo, 29. September 2012
ОглавлениеPlötzlich sahen sie die Feuerwalze durch den Gang direkt auf sich zukommen. Überall war Rauch. Menschen rannten in Todesangst an ihnen vorbei. Prasselnd verschlang das Feuer Stand um Stand.
„Wir müssen weg, sofort!“, schrie Radi al-Sibai. Aber Faruk, der Vater, zögerte.
„Nein, wir müssen unser Hab und Gut retten!“
Der Sohn ergriff ihn am Arm und versuchte, ihn fortzuzerren. Aber der Alte war trotz seiner siebzig Jahre stark genug, sich loszureißen. Den Sohn packte Todesangst.
„Komm, sonst ist es zu spät!“, beschwor er den Vater.
„Flieh du, ich muss das Erbe meiner Väter und Vatersväter zu bewahren suchen.“
„Hier ist nichts mehr zu bewahren. Hier wütet der Tod.
Komm!“
„Flieh! Einer muss für die Familie sorgen. Wenn ich fliehe, verbrennt hier meine Seele. Ich muss bleiben.“
„Vater, bitte, es hat keinen Sinn, komm!“
„Flieh, ich befehle es dir als Vater!“
Er sah in das zu allem entschlossene Gesicht des Vaters und wusste, dass er ihn nicht mehr umstimmen konnte. Die Feuerwalze kam immer näher.
„Vater, ich schwöre bei Allah und dem Propheten Mohammed, ich werde dich rächen.“
Er warf einen letzten Blick auf den Vater und den Stand, der auch einmal seine Existenz hätte sein sollen. Dann stürzte er sich in den Strom der panisch Fliehenden. Es war die Hölle. Der Gang war zu schmal, um alle Fliehenden aufnehmen zu können. Manche wurden zur Seite in die Stände hineingedrückt. Andere hatten versucht, mindestens einen Teil ihrer Habseligkeiten zu retten, und merkten erst jetzt, wie hinderlich das war. Sie ließen fallen, was sie trugen, und die Nachfolgenden stolperten über Teppiche, Kleidungsstücke, zersplittertes Porzellan, kamen zu Fall, wurden überrannt und hatten keine Chance mehr, wieder auf die Beine zu kommen. Kinder schrien verzweifelt nach ihren Müttern, die sie im Chaos verloren hatten. Aber niemand hörte sie. Viele wurden umgerannt und zertreten. Da sah er vor sich einen alten Mann, der versuchte, in einem kleinen Leiterwagen einige Flaschen erlesener Öle, die alles waren, was er besaß, vor den Flammen zu retten. Dadurch staute sich der Strom der Fliehenden. Wütend stieß ein junger Mann den Wagen mit einem heftigen Fußtritt zur Seite. Er fiel um und die Flaschen zerschlugen. Radi al-Sibai konnte noch das Entsetzen im Gesicht des Greises sehen. Dann wurde er im Strom weitergerissen, strauchelte mehrmals, konnte sich aber auf den Beinen halten. Endlich war das Antiochia-Tor erreicht und er war dem Inferno entkommen.
Der Strom der Fliehenden ergoss sich durch das Tor ins Freie. Plötzlich fielen Schüsse. Niemand wusste, woher sie kamen. Menschen brachen blutüberströmt zusammen. In äußerster Panik stob die Menge auseinander und die Fliehenden versuchten, in kleinen Gassen Schutz zu finden. Auch Radi alSibai rannte um sein Leben. Da spürte er einen glühenden, stechenden Schmerz in der rechten Schulter, sah Blut aus seinem Körper quellen, taumelte, versuchte, sich auf den Beinen zu halten, wurde von anderen gestoßen, und dann wurde es Nacht um ihn.
Es waren Stunden vergangen, als er langsam wieder zu sich kam und die Augen öffnete. Er fand sich in einem langen Gang auf einer dünnen Matratze am Boden liegend unter einer schmutzigen Wolldecke und spürte in seiner rechten Schulter einen bohrenden Schmerz. Er versuchte, den rechten Arm zu bewegen, ließ aber sofort davon ab, weil der Schmerz unerträglich war. Er sah sich um. Wo war er? Was war geschehen?
Allmählich kam die Erinnerung zurück, an das Feuer und an den Vater, der nicht fliehen wollte und der jetzt tot war. Er begriff, er war in einem Krankenhaus. In zwei langen Reihen lagen auf dem Gang viele von denen, die beim Inferno im Basar und dem nachfolgenden Beschuss durch Scharfschützen des Regimes verletzt worden waren, aber immerhin noch lebten. Reguläre Krankenhausbetten gab es schon lange keine mehr. Oft liefen Männer und Frauen hektisch durch den Gang. Sie taten hier wohl als Krankenpfleger Dienst. Aber sie kümmerten sich nicht um die Bitten der Patienten, denn es gab viel mehr Arbeit, als sie bewältigen konnten. Immer wieder wurden weitere Verletzte auf Bahren durch den Gang getragen, stöhnend, schreiend, von denen wohl viele dieses Haus nicht mehr lebend verlassen würden.
Es fröstelte ihn und er hatte furchtbaren Durst. Aber er musste froh sein, zu denen zu gehören, die schon wenigstens notdürftig versorgt waren. Manche schrien noch immer vergeblich vor Schmerzen um Hilfe. Und hin und wieder wurden welche aus den Reihen herausgeholt und weggetragen, wenn ein Pfleger bemerkt hatte, dass sie nicht mehr am Leben waren. Da war dieser fürchterliche Gestank von Schweiß, von Blut, Erbrochenem und Urin. Der nahm ihm die Luft zum Atmen. So dämmerte er erneut in einen leichten Schlaf hinüber, der aber
keine Erholung brachte, weil sich ihm sofort grauenhafte Traumbilder aufdrängten.
Als er wieder erwachte, sah er, dass neben ihm ein Mann lag, den er bisher noch nicht wahrgenommen hatte. Er musste ungefähr in seinem Alter sein, Mitte dreißig.
„Bruder, wer bist du?“, begann er ein Gespräch.
„Mohamed Domani.“
„Ich bin Radi al-Sibai. Was ist dir geschehen?“
„Meine Beine. Diese Assadschweine! Die Kugel eines Scharfschützen hat beide zerschlagen.“
„Warst du auch im Basar?“
„Ich habe dort Gewürze verkauft“, sagte Mohamed Domani tonlos. Das Sprechen schien ihn anzustrengen. „Meine beiden Söhne haben mir geholfen. Dann kam das Feuer. Im Chaos der Flucht habe ich sie verloren.“ Er schwieg. Nach einer Weile setzte er fort: „Wahrscheinlich sind sie tot.“
„Mein Vater ist verbrannt.“
Für lange Minuten sagten sie kein Wort. Dann begann Radi al-Sibai wieder: „Wir müssen unsere Toten rächen.“
„Natürlich!“, setzte Mohamed Domani mit Emphase fort.
„Wenn ich wieder gesund werde, gehe ich zu unseren kämpfenden Brüdern.“
Aber Radi al-Sibai konnte seinen Enthusiasmus nicht teilen:
„Das wird nichts nützen. Die Assadleute haben bessere Waffen.“
„Wenn schon!“, redete sich Mohamed Domani jetzt in Begeisterung. „Wir werden sie dennoch vernichten. Und wenn wir fallen, sterben wir als Märtyrer und gelangen direkt ins Paradies. Hast du etwa Angst zu kämpfen?“
„Nein, aber ich will nicht nur kämpfen, ich will auch siegen.“
„Alle wollen siegen.“
„Aber um zu siegen, brauchen wir die richtigen Waffen.“
„Und woher bekommen wir die?“
„Hör zu! Ich habe vier Jahre in Deutschland studiert, da …“
„Bleib mir mit den westlichen Hurensöhnen vom Hals, die haben uns eh verraten!“, unterbrach ihn Mohamed Domani in tiefer Verachtung.
„Ich hasse sie auch, weil sie den Propheten beleidigen. Aber wir können die benutzen und von denen bekommen, was wir brauchen, um zu siegen.“
„Und das wäre?“
„Ich habe in Deutschland Informatik studiert, …“
„Was ist das?“
„Die Technik, Computer zu bauen, Maschinen, die alles machen, was du willst.“
„Willst du Assad mit Computern besiegen?“ lachte Mohamed Domani den anderen aus.
„Ja, genau.“
„Das ist doch lächerlich!“
„Nein, lass es dir erklären: In einer organisierten Armee wie der von Assad läuft vieles über Computer, vor allem die gesamte Kommunikation: Befehle, Auswahl der Angriffsziele, Erfassung der Standorte des Feindes und so weiter. Alle ihre Computer sind miteinander in einem Netz verbunden. Wenn es uns gelingt, mit unseren Computern in dieses Netz einzudringen, können wir sie völlig verwirren. Wenn in dem Moment unsere Brüder an den Waffen massiv losschlagen, können wir Assad besiegen.“
Mohamed Domani schwieg eine Weile, dann meinte er eher skeptisch: „Ich verstehe das zwar nicht, aber es klingt gut. Du kannst solche Computer bauen?“
„Nein, dazu ist ein Mensch alleine nicht in der Lage. Aber ich habe Kontakte nach Deutschland zu einer Firma, die uns sowas bauen kann.“
„Dann sollen die das machen.“
„So einfach ist das nicht. Wir brauchen dazu Geld, viel Geld.“
„Und woher soll das kommen?“
„Vielleicht von unseren Brüdern in Saudi-Arabien? Auch die hassen Assad. Hör zu: Um ein solches Projekt zu verwirklichen, brauchen wir eine Gruppe von Kämpfern, die das organisieren und schweigen können. Willst du mir helfen?“
„Wenn wir Assad dadurch besiegen können, will ich es.“