Читать книгу Der Engel mit den traurigen Augen - Christoph Wagner - Страница 20

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Nachdem Travniczek sich in sein Auto gesetzt hatte, rief er erst einmal in der Chirurgischen Klinik an. Es dauerte lange, bis er endlich einen gewissen Dr. Eberhard Krapp ans Telefon bekam, der über den Zustand von Wendlandt Bescheid wusste. Aber der wollte nichts sagen: „Es tutmir leid, auch wenn Sie Kriminalbeamter sind. Wir dürfen am Telefon nichts sagen, und das ist gut so. Was meinen Sie, für was sich Leute alles ausgeben, nur um an Informationen zu kommen.“

„Herr Dr. Krapp, im Prinzip haben Sie ja recht. Aber ich ermittle hier in Ziegelhausen in einem grauenhaften Mordfall. Ich habe weder Zeit noch Lust, jetzt nach Neuenheim in die Chirurgie zu fahren, um dann möglicherweise gesagt zu bekommen, dass ich mit Herrn Wendlandt heute gar nicht mehr sprechen kann. Machen Sie bitte eine Ausnahme, Herrgott noch mal!“

„Es tut mir wirklich leid, Sie brauchen sich nicht aufzuregen, aber es geht nicht. Ich würde das Gespräch jetzt gerne beenden, denn ich habe auch zu tun.“

„Moment, Herr Doktor, wenn Sie es unbedingt so wollen, dann wird es auch für Sie aufwendiger. Sie rufen jetzt bitte umgehend die Polizeidirektion an, lassen sich dort meinen Namen bestätigen und meine Handynummer geben und rufen dann wieder bei mir an.“

„Aber …“

„Nichts mit ‚aber‘. Ich lege jetzt auf, und wenn Sie mich nicht innerhalb von zehn Minuten zurückrufen, kriegen Sie ein Verfahren an den Hals wegen vorsätzlicher Behinderung der polizeilichen Ermittlungsarbeit. Das kann Sie dann sehr teuer zu stehen kommen. Bis gleich!“

Wütend klappte er das Handy zu, startete den Wagen und fuhr für die Bodenverhältnisse viel zu schnell ins Tal hinunter. Dabei merkte er gar nicht, wie heftig er durchgerüttelt wurde. Erst als schon die ersten Häuser von Ziegelhausen auftauchten, dämmerte ihm, wie unrecht er gerade diesem Arzt getan hatte. Dessen Verhalten war ja völlig korrekt, nur er selbst hatte sich fürchterlich daneben benommen, und das ärgerte ihn jetzt erst richtig. Aber es war eben in den letzten Stunden alles schief gelaufen. Seit Tagen hatte er sich darauf gefreut, endlich seinen Sohn wiederzusehen und einmal richtig Zeit mit ihm verbringen zu können. Er wollte eine neue Basis für ihre Beziehung schaffen. Aber dann kam dieser Anruf und er hatte sich Bernhard gegenüber benommen wie der Elefant im Porzellanladen. Dann noch dieses Bild von der so fürchterlich verstümmelten Leiche …

Das Handy klingelte. Er war kurz vor dem Haus Wendlandt, hielt am Straßenrand und nahm das Gespräch an:

„Hauptkommissar Travniczek.“

„Dr. Krapp hier, Sie müssen schon entschuldigen, aber …“

„Lassen wir die Floskeln. Ich war auch nicht gerade sehr freundlich. Kommen wir zur Sache. Wann kann ich Herrn Wendlandt wieder sprechen?“

„Also, heute mit Sicherheit nicht mehr. Er hat ein starkes Beruhigungsmittel bekommen und schläft jetzt. Aber morgen müsste es wieder gehen. Nach unseren Untersuchungen liegt nichts Ernsthaftes vor. Er hatte wohl einen schockbedingten Schwächeanfall, nichts weiter.“

„Angesichts der Umstände ja kein Wunder. O. k., dann werde ich morgen früh vorbeikommen. Vielen Dank und gute Nacht.“

Er stieg aus und ging den restlichen Weg zum Haus Wendlandt zu Fuß, um möglichst wenig aufzufallen. Es dämmerte bereits, aber man konnte sich noch ohne künstliches Licht orientieren. Im Haus betrat er zuerst das Atelier, das hatte er ja noch gar nicht gesehen. Ihm war, als beträte er einen sakralen Raum, aber er wusste nicht, warum. In der Mitte stand eine vielleicht drei Meter hohe, halbfertige Skulptur. Im oberen Teil ragten aus einer schlanken, geschwungenen Säule in unterschiedlichen Winkeln verschiedene längliche, konvexe und konkave Formen hervor, wie Äste, die aus einem Stamm sprießen. Das schien gewachsen zu sein und nicht aus Stein gehauen, eine Pflanze aus einer unbekannten Welt. Der untere Teil war nur ganz grob behauen. Man konnte noch nicht erkennen, was daraus entstehen sollte.

An den Seiten sah er eine Reihe von schon fertigen Arbeiten. Besonders zog ihn eine Gruppe von vier Menschen an. Sie waren stark stilisiert dargestellt, in die Länge gezogen, mit kantigen, verzerrten Gesichtern. Es waren ein Mann, eine Frau und zwei Kinder, ein Abbild der Wendlandtfamilie? Lange versenkte er sich in diese Figuren, ging auf und ab, um sie aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten zu können. Er konnte lange nicht fassen, warum ihn diese Gesichter so stark ansprachen, bis er bemerkte, dass sich ihr Ausdruck mit wechselnder Perspektive änderte. Da waren Freude und Trauer im selben Gesicht. Das fand er grandios. Dieser Wendlandt verdiente die Bewunderung, die ihm überall entgegengebracht wurde.

In einer Ecke des Raums fiel ihm eine Skulptur besonders auf, denn sie war als einzige mit einem großen weißen Tuch bedeckt. Was wollte Wendlandt hier verbergen? Er näherte sich der Figur mit einer gewissen Scheu. Drang er hier nicht in die Intimsphäre des Künstlers ein? Aber er konnte der Versuchung nicht widerstehen und hob das Tuch an. Er erschrak und war gleichzeitig fasziniert. Alle Arbeiten, die er bisher gesehen hatte, waren entweder abstrakt oder höchst stilisiert. Doch hier sah ihn plötzlich aus traurigen Augen eine wunderschöne Frau an. Das musste Angela Wendlandt sein, die gerade erst so grausam verstümmelt vor ihm lag. Lange zog ihn dieses Gesicht in seinen Bann. Sicher, sie sah ihn traurig an, aber war sie das immer oder war es hier nur ein bestimmter Anlass, der sie so stimmte? Er spürte, wie diese Frau zu ihm sprach. Sie hatte unendlich viel und sehr Wesentliches zu sagen. Aber was? Er glaubte zu verstehen, ohne es begrifflich fassen zu können.

Nachdenklich ließ er das weiße Tuch wieder sinken und wandte sich zurück zum Wohntrakt. Dabei kam er noch an einem Tisch vorbei, auf dem eine Reihe kleinerer Figuren, wohl aus Ton, standen. Auch einige Engelsgestalten waren darunter. Nicht alle waren handwerklich gelungen. Aber sie sahen freundlich und vergnügt aus. Die können nicht von Wendlandt stammen, dachte er, das ist eine völlig andere Handschrift. Sollte eines seiner Kinder hier beginnen, in die Fußstapfen des Vaters zu treten?

Zurück in der Wohnung machte er noch einmal einen Rundgang durch sämtliche Räume. Alles war mit viel Geschmack und dabei schlicht, ohne Luxus eingerichtet. Man hätte sich hier rundherum wohl fühlen können, wäre da nicht diese auffällige Ordnung gewesen. Alles war perfekt aufgeräumt. Kein Stäubchen war zu entdecken. Nirgends lag ein erst halb gelesenes Buch. War hier nur ein schon neurotischer Ordnungssinn am Werk oder war das mehr? Wusste hier jemand, dass er nie mehr wiederkommen würde?

Es war inzwischen fast dunkel geworden. Travniczek ging noch einmal ins Wohnzimmer, setzte sich auf die Couch und blickte hinaus in Richtung der untergegangenen Sonne. Er ließ seinen Gedanken freien Lauf, und endlich kam ihm auch wieder sein Sohn in den Sinn. Er griff zu seinem Handy, um ihn anzurufen. Doch gerade, als er die Nummer aufgerufen hatte, sah er über den Bächenbuckel ein Auto herauffahren, das keine fünfzig Meter vor dem Wendlandthaus hielt. Er legte das Handy beiseite und sah gespannt hinaus. Ein Mann stieg aus und näherte sich geradewegs dem Haus. Er blickte dabei ständig um sich, wollte offensichtlich nicht entdeckt werden. Was hat der wohl vor, fragte sich Travniczek und vergaß seinen Sohn. Der Mann verschwand aus seinem Blickfeld und musste jetzt vor der Haustür stehen. Wird er läuten? Aber es blieb still. Doch der Mann tauchte nicht wieder auf. Wo war er geblieben? Nach vielleicht einer Minute durchquerte Travniczek tief geduckt das Wohnzimmer und sah in den ansteigenden Garten mit den schlanken Zypressen. Da bewegte sich ein dunkler Schatten. Das musste er sein! Was suchte er hier?

Travniczek schlich zur Zimmertür und eilte die Treppe hinunter nach draußen. Vorsichtig ging er um den Wohntrakt herum und blieb an der Hausecke stehen. Der Mann musterte intensiv das Haus.

Travniczek zog und entsicherte seine Dienstwaffe und schlich sich von hinten an den Mann heran. Als er nur noch wenige Meter von ihm entfernt war, rief er laut: „Polizei! Bleiben Sie stehen! Was suchen Sie hier?“

Erschrocken sah sich der Mann um, reagierte aber schneller als erwartet. Noch ehe Travniczek ihn erreichen konnte, rannte er mit schnellem Antritt Richtung Atelier und der Hauptkommissar hinterher. Der Flüchtende hatte aber nicht damit gerechnet, dass mit dem Atelier das Grundstück abschloss, der Gartenzaun also direkt mit ihm verbunden war. Er saß damit in der Falle. Mit einem mächtigen Sprung versuchte er, das Hindernis zu überwinden. Aber er sprang nicht hoch genug, blieb hängen und schlug auf der anderen Seite so heftig auf dem Boden auf, dass er zunächst benommen liegenblieb. Schnell kletterte Travniczek über den Zaun, sprang dem Mann auf den Rücken und legte ihm Handschellen an.

„So, jetzt laufen Sie mir nicht mehr weg. Sie sind vorläufig festgenommen, mindestens so lange, bis Sie plausibel erklärt haben, was Sie hier suchen. Stehen Sie bitte auf. Übrigens, ich vergaß, mich vorzustellen: Joseph Travniczek, Chef der Heidelberger Mordkommission. Kommen Sie!“

Travniczek half ihm auf die Beine und leuchtete ihm mit seiner Taschenlampe ins Gesicht. Er hatte ein paar Schrammen an der Stirn, schien sich aber nicht ernsthaft verletzt zu haben. Seine blank polierte Vollglatze glänzte im Licht der Taschenlampe. Die kleinen, engstehenden Augen in dem runden Gesicht mit dünnen Lippen und kurzem, ergrautem Schnurrbart blickten ihn ängstlich und auch etwas dümmlich an. Mit einer solchen Begegnung hatte er hier wohl überhaupt nicht gerechnet. Der Kommissar schätzte ihn auf Anfang fünfzig. Er drehte ihn kurzerhand um und sagte: „Wir gehen jetzt ins Haus, und dort erklären Sie mir, was Sie hier zu suchen haben.“

Travniczek öffnete die Haustür und machte Licht. Unsanft packte er ihn am rechten Oberarm und schob ihn die Treppe hinauf ins Wohnzimmer, wo er ihn auf einen der Rattanstühle setzte und eine Stehlampe anknipste.

„Ihr Name, bitte“, begann der Kommissar das Verhör.

„Dr. Benjamin Hagedorn“, antwortete der Mann verschüchtert.

„Oh, sogar ein Doktor! Können Sie sich ausweisen?“

„Ja, natürlich, in meinem Portemonnaie in der hinteren Hosentasche ist mein Personalausweis. Da komme ich aber so nicht ran.“ Er fuchtelte hilflos mit seinen gefesselten Händen. Travniczek sah nach und fand Portemonnaie und Ausweis.

„Also, ich nehme Ihnen die Handschellen jetzt wieder ab“, meinte Travniczek lächelnd. „Ich habe den Eindruck, Sie sind vernünftig genug, nicht noch einmal zu versuchen wegzulaufen. Es würde Ihnen auch beim zweiten Mal nichts bringen.“

Sehr erleichtert antwortete Hagedorn beflissen: „Ja, gewiss, natürlich. Mir ist die ganze Sache ohnehin furchtbar peinlich.“

„Das will ich hoffen.“

Als der Kommissar die Handschellen gelöst hatte, streckte sein Gefangener erleichtert die Hände nach vorne und probierte mehrmals, ob sich noch alle Finger richtig bewegen ließen.

„Was sind Sie von Beruf?“

Der Mann bekam einen roten Kopf und blickte verlegen zu Boden. „Äh – Rechtsanwalt.“

„Oh, das überrascht mich jetzt aber doch!“, entgegnete Travniczek und musste lachen. „Ich bin ja schon über zwanzig Jahre im Geschäft. Aber einen Anwalt, der nachts auf fremden Grundstücken herumschleicht, habe ich noch nie festgenommen. Und jetzt erklären Sie mir bitte, was suchen Sie hier eigentlich?“

Ohne auf die Frage des Kommissars einzugehen, entgegnete er sehr erregt: „Stimmt es, dass Frau Wendlandt tot ist? Ich habe vorhin gehört, sie ist ermordet worden, und das hat mich völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen soll.“

„Verehrter Herr Hagedorn, die Fragen stelle hier ich. Aber ich schließe aus Ihrer Frage, dass Sie Frau Wendlandt kennen. In welcher Beziehung stehen Sie zu ihr?“

Etwas zögerlich antwortete der Rechtsanwalt: „Das ist ziemlich kompliziert und schwierig, in Kürze darzustellen.“

„Ich habe heute Abend nichts mehr vor. Sie haben alle Zeit der Welt, mir das in Ruhe zu erklären.“

Hagedorn hielt eine Weile inne und versuchte, seine Gedanken zu sortieren. „Also, wenn Sie mich fragen, ob ich sie kenne, dann antworte ich besser: Ich kannte sie. Wir haben fast die ganze Studienzeit zusammen verbracht, bis zum Doktorexamen. Das waren die Jahre 1985 – 1990. Aber wir waren kein Paar. Wir waren Studienkollegen, vielleicht sogar Freunde, aber mehr war nicht.“

„Also, ich verstehe überhaupt nicht“, unterbrach ihn Travniczek kopfschüttelnd, „was das mit Ihrem Auftritt hier zu tun haben soll.“

„Ich sagte ja, es ist schwierig. Also, ich will ehrlich sein: Als ich Angela damals vor jetzt mehr als fünfundzwanzig Jahren zum ersten Mal gesehen habe, … ich sag das jetzt einfach so, auch wenn Sie mich auslachen: Es war bei mir Liebe auf den ersten Blick. So einer fantastischen Frau war ich noch nie begegnet. Ich war mir sofort sicher, das ist die Frau meines Lebens. Die muss ich heiraten, um glücklich zu werden. Aber als wir uns dann etwas näher gekommen sind, hat sie geblockt. Sie wollte nicht mehr als Kameradschaft. Ich habe alles Mögliche versucht, um sie ganz zu gewinnen. Ohne Erfolg. Ich bin mir ganz sicher, das lag nur an dieser blödsinnigen streng katholischen Erziehung. Diese Pfaffen haben ihr den Kopf verdreht. Es gab keinen Anderen. Und ich bin mir genauso sicher, sie hat mich eigentlich auch geliebt.“

Travniczek hatte das Gefühl, Hagedorn erzählte von etwas, das gerade erst passiert war. Diese alte Geschichte – schließlich war das dreiundzwanzig Jahre her – hatte er offenbar überhaupt noch nicht verarbeitet.

„Und wie ging das weiter?“

„Kurz nach dem Doktorexamen hatte ich sie dann aber doch so weit. Wir kamen uns näher.“

„Wie nahe?“

„So nah wie möglich! Wir haben miteinander geschlafen, um direkt zu sein.“

„Und dann?“

„Dann? … Dann … war alles vorbei.“ Hagedorn war dem Weinen nahe.

„Was heißt, ‚war alles vorbei‘?“, fragte ihn der Kommissar, um ihn etwas zu beruhigen.

„Sie war nicht mehr bereit, mit mir zu reden. Vielleicht hat sie sich überrumpelt gefühlt oder die Pfaffen haben sie wieder kirre gemacht. Denn ich weiß, dass sie es genossen hat. Kurze Zeit später war sie dann plötzlich verschwunden. Einfach weg. Niemand wusste, wohin. Die Eltern sagten was von einer Weltreise. Das habe ich nie wirklich geglaubt. Aber wie gesagt, sie war weg. Ich musste ja irgendwie weiterleben und das war schwer, kann ich Ihnen sagen, sehr schwer. Kaum zu schaffen. Ich habe durchaus auch überlegt, Schluss zu machen, vor den Zug zu springen, aber dazu war ich dann doch nicht in der Lage.

Ich bin dann irgendwann in Tübingen in eine Anwaltskanzlei eingetreten und habe Angela allmählich doch, wie sagt man so schön, verdrängt. Denn ich habe dort eine andere Frau kennengelernt, bildhübsch, blond, sexy. Ich war plötzlich wie in einem anderen Leben. Alles war einfach, selbstverständlich, Genuss pur. Nur drei Monate später haben wir geheiratet. Das hätten wir lassen sollen. Zwar war der Sex fantastisch, ständiger Rausch, Außersichsein, Ekstase, aber sonst? Da war nicht viel. Geredet haben wir eigentlich kaum miteinander. Und es dauerte nicht lange, bis ich merkte, ein Mann reicht ihr nicht, wenn Sie verstehen, was ich meine. Kinder hatten wir keine. Helena wollte nicht. Das war im Nachhinein sicher gut so, denn es gab dann ein jahrelanges Hickhack. Es war einfach nur furchtbar. Ich will Sie mit Details verschonen.

Vor sechs Jahren habe ich dann endlich die Kurve gekriegt und mich scheiden lassen. Danach wollte ich nur noch aus Tübingen weg, da mich dort alles an diesen schauderhaften Ehekrieg erinnert hat. Aber es dauerte Jahre, bis ich endlich die Möglichkeit bekam, hier in Heidelberg in einer Anwaltskanzlei zu arbeiten. Es waren ganz fürchterliche Jahre! Über zwanzig Kilo zugenommen habe ich in der Zeit.

Und dann hab ich Angela bei einer Gerichtsverhandlung plötzlich wiedergesehen. Blitz und Donner aus heiterem Himmel! Es war, als hätten die letzten zwanzig Jahre nicht stattgefunden, einfach weggefegt. Und sie war sofort wieder da, genau wie zwanzig Jahre vorher, diese alles umfassende Liebe, dieser unbedingte Wunsch, nein, Zwang, nein, nein, … ach, ich, ich, … ich hab keine Worte dafür … Sie musste meine Frau werden, verstehen Sie, sie musste einfach! Sonst hätte das Leben keinen Sinn mehr für mich gehabt.“

Travniczek setzte dazu an, seinen Redeschwall zu unterbrechen, aber Hagedorn nahm das gar nicht wahr, so sehr hatte er sich in seine Emotionen hineingesteigert.

„Ich hatte bis dahin ja überhaupt keine Ahnung, was aus ihr geworden war, dass sie wieder oder noch in Heidelberg lebte, ja, dass sie überhaupt nach ihrem Verschwinden wieder aufgetaucht war. Und dann war sie plötzlich da, in ihrer schwarzen Richterrobe noch unendlich viel schöner als früher. Mit klopfendem Herzen habe ich sie dann angesprochen, aber das Unfassbare geschah: Sie verleugnete mich! Sie sagte, sie kenne mich nicht, ich müsse sie verwechseln, sie habe mich noch nie gesehen.“

„Und Sie sind sicher, dass Sie sich nicht tatsächlich geirrt haben?“, fragte Travniczek schnell, froh, endlich eine Möglichkeit zum Einhaken gefunden zu haben.

„Ja, vollkommen sicher, ich hatte von Anfang an überhaupt keine Zweifel. Sie hatte sich in der langen Zeit fast gar nicht verändert. Aber um ganz sicher zu gehen, habe ich dann doch genaue Nachforschungen angestellt, und die ergaben zweifelsfrei, dass es sich um Angela Ricardi – so hieß sie früher – handelte.“

„Und Sie konnten nicht einfach akzeptieren, dass sie keinen Kontakt mehr zu Ihnen wollte? Ihre letzte Begegnung war immerhin mehr als zwanzig Jahre her.“

Hagedorn antwortete nicht gleich. Travniczek hatte ihn mit seiner Frage in die Wirklichkeit zurückgeholt und konnte ihm ansehen, wie schwer ihm die Antwort fiel. Hatte er etwas zu verbergen? War seine Erzählung vielleicht nur Wunschdenken und ganz oder in Teilen frei erfunden? Dann brach die Emotion wieder aus ihm hervor.

„Nein, nein und abermals nein!! Seit dem Moment, in dem ich Angela wieder gesehen habe, war ich nur noch von einem einzigen Gedanken erfüllt. Ich habe mir Tag und Nacht das Hirn zermartert: Wie kann ich wieder mit Angela in Kontakt kommen? Wie kann ich ihr endlich beweisen, dass sie die Frau meines Lebens ist, dass sie für mich geschaffen ist und dass auch sie nur mit mir glücklich werden kann?“

„Und dabei war Ihnen gleichgültig, dass Frau Wendlandt inzwischen verheiratet war und Familie hatte?“

Benjamin Hagedorn schwieg. Das Feuer der Begeisterung war plötzlich in seinen Augen erloschen und er blickte nur starr vor sich hin. Dann sagte er ganz leise, scheinbar nur zu sich selbst: „Und – jetzt – ist – sie – tot.“

Der tut sich doch vor allem selber leid, dachte Travniczek wütend und wechselte die Tonlage. Mit scharfer Stimme fuhr er ihn an: „Ja, sie ist tot! Und ich weiß auch, warum. Sie haben irgendwann eingesehen, dass Sie keine Chance mehr bei Frau Wendlandt hatten. Und da schlug Ihr Besitzanspruch, den Sie mit Liebe verwechseln, in Hass um, nach dem Motto: wenn ich sie nicht haben kann, dann auch kein Anderer. Und Sie haben sie erschossen.“

Hagedorn wurde kreidebleich: „Sie wollen mir einen Mord anhängen? Das ist doch völlig absurd! Ich habe Angela über alles geliebt!“

„Sie wären nicht der erste Mörder, der mir erzählt, er habe sein Opfer geliebt. Wo waren Sie heute Mittag zwischen ein und vier Uhr?“

„Ist das die Tatzeit?“

„Wo Sie zwischen ein und vier Uhr waren, habe ich gefragt.“

„Heute Vormittag hatte ich eine Gerichtsverhandlung. Die dauerte bis gegen halb eins. Dann bin ich auf den Bierhelder Hof* gefahren und habe dort zu Mittag gegessen. Anschließend bin ich nach Hause, habe geduscht und dann einen längeren Mittagsschlaf gehalten.“

„Kann das jemand bezeugen?“

„Am Bierhelder Hof bin ich oft. Die Kellnerinnen müssten mich kennen. Da ich alleine lebe, habe ich für die Zeit danach keinen Zeugen.“

„Das ist schlecht für Sie. Denn es gibt noch weitere Indizien, die Sie schwer belasten. Im Terminkalender von Angela Wendlandt war heute um 14 Uhr der Eintrag ‚BH (1)‘. BH – das sind doch Ihre Initialen! Sie wollen mir doch nicht ernsthaft weismachen, dass das Zufall ist!“

Hagedorn wurde noch fahler im Gesicht: „Ich war mit Angela nicht verabredet. Das muss Zufall sein.“

„Werden wir sehen. Noch ein Indiz, das Sie belastet: Der Ehemann der Getöteten sagt aus, seine Frau habe seit einigen Wochen Ärger mit einem Stalker gehabt. Nach der Story, die Sie mir gerade aufgetischt haben, können das doch eigentlich nur Sie sein.“

Wieder hielt Hagedorn inne. Er schien seine Antwort genau zu überlegen.

„Stalker ist mit Sicherheit übertrieben. Ich habe ihr einmal Blumen gebracht und einmal welche geschickt. Ich bin ihr ein paarmal nachgefahren, um ihre Gewohnheiten auszukundschaften. Ich wollte eine Begegnung herbeiführen, die nach Zufall aussah, um endlich mit ihr irgendwie ins Gespräch zu kommen.“

„Das genügt mir für heute Abend. Ich nehme Sie vorläufig fest wegen des dringenden Verdachts, Frau Angela Wendlandt getötet zu haben.“

**

Gegen dreiviertel zwölf kam Travniczek nach Hause. Er sah kein Licht in der Wohnung. Also schloss er ganz vorsichtig auf, um Bernhard nicht zu stören, falls der schon schliefe. Aber sein Sohn war noch nicht da. Dann vergnügt der sich wohl noch irgendwo in der Stadt, dachte er erfreut. Er holte eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, schob im Wohnzimmer eine CD mit frühen Haydnsinfonien in den Player und setzte sich auf einen der wackeligen Campingstühle.

Einen Moment überlegte er, Michael oder Martina anzurufen, um zu erfahren, wie es bei denen gelaufen war. Er besann sich dann aber anders und ließ noch einmal die Begegnung mit Hagedorn Revue passieren. Er war immer noch erstaunt, dass sich Hagedorn widerspruchslos hatte festnehmen lassen. Als Rechtsanwalt hatte der doch mit Sicherheit alle Tricks drauf, so etwas zu verhindern. Was sagte ihm das? Entweder hatte Hagedorn aufgegeben, also quasi gestanden, oder er war im Gegenteil völlig gewiss, unbeschadet aus der Situation herauszukommen.

Traute er ihm einen Mord zu? Sicher, Hagedorn war ein überkandidelter Spinner, aber ein Mörder? Das glaubte er nicht so recht. Aber dennoch war es sicher gut, dass der erst einmal saß.

Und Wendlandt? Ich muss hier sehr aufpassen, dachte er, dass mir der Künstler nicht den Blick auf die Person verstellt. Natürlich sprach erst einmal alles dafür, Wendlandt als bedauernswertes Opfer zu sehen. Aber der Fall war jetzt schon so voller Rätsel, dass er sich sicher war, es würde hier noch manches Unvorstellbare passieren.

Er stand auf und ging unter die Dusche. Lange ließ er angenehm warmes Wasser über seinen Körper laufen und hörte dann die Wohnungstür gehen. Aha, der Nachtschwärmer kommt zurück, dachte er und rief laut: „Es war eine gute Idee, dass du dich auf eigene Faust auf den Weg gemacht hast. Kleinen Moment, ich bin gleich soweit.“

Bernhard, nicht mehr ganz sicher auf den Beinen, da er mit dem Studentenpärchen doch manches Bier getrunken hatte, ging in die Küche, fand im Kühlschrank eine Flasche Mineralwasser, setzte sich an den Tisch und wartete. Bald kam der Vater, nur mit einem Bademantel bekleidet, zu ihm herein.

„Das alte Lied“, meinte er bedauernd. „Es ist Wochenende, man will etwas unternehmen, und prompt wird jemand umgebracht und alles geht durcheinander.“

„Kannst du absehen, was in den nächsten Tagen abläuft?“, fragte sein Sohn.

„Nein, überhaupt nicht. Ein fürchterlicher Mord. Eine so zugerichtete Leiche habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Eigentlich haben wir noch keine Ahnung. Ich habe zwar heute Abend ganz überraschend noch einen Tatverdächtigen festnehmen können, glaube aber selbst nicht recht daran, dass er der Täter ist. Und wenn, wird’s sicher schwer, ihm etwas nachzuweisen. Der Mann ist Rechtsanwalt.“

„Also keine klare Perspektive?“

„So ist es. Ich muss auf jeden Fall morgen früh um acht im Büro sein, und dann sehen wir, wie es weitergeht. Aber sag, was hast du erlebt?“

Bernhard begann begeistert zu erzählen. Erst lange nach zwei kam er zum Schluss und sagte dann noch: „Ich mach mich morgen dann wieder allein auf den Weg, oder soll ich dir ein paar Möbel zusammenschrauben?“

„Gott bewahre! Du willst doch Heidelberg kennenlernen und bist nicht zum Arbeiten hergekommen. Aber jetzt verzeih, die letzten Stunden waren knochenhart, und um sieben ist die Nacht schon wieder rum. Ich muss schlafen, bin jetzt ohnehin nicht mehr ergiebig.“

„Warum tust du dir das an?“

„Darüber müssen wir uns bald mal unterhalten. Vielleicht kannst du dann auch besser verstehen, warum mit unserer Familie alles so schiefgelaufen ist. Ich verspreche dir, ich werde alles Menschenmögliche tun, um mir wenigstens den Sonntag freizuhalten. Da müssen wir ausgiebig reden. Aber jetzt ziehe ich mich zurück. Gute Nacht!“

Bernhard blieb allein in der Küche. Er fand noch eine Flasche Bier im Kühlschrank. Die Gedanken kreisten um seine Kindheit und um seine Zukunft. Diese Travniczeks schienen alle gleich zu sein, dachte er. Für den Großvater kam zuerst seine Flöte und dann lange nichts. Er erinnerte sich nicht, dass der sich für sonst etwas interessiert hätte. Und für Vater waren es die Toten und ihre Mörder, die vor allem anderen unbedingte Priorität hatten. Und er selbst war auch ein Travniczek. Würde er auch einmal so werden? Er wollte später unbedingt als Fotojournalist arbeiten, in Krisengebieten die Wahrheit dokumentieren. Aber er wollte es besser machen als Vater und Großvater. Er schlief mit der Befürchtung ein, dass ihm das auch nicht gelingen würde.

1 Zur Biographie von Joseph Travniczek siehe www.heidelbergkrimi.de

2 Alle Gedichte über Heidelberg zu nennen, würde den Rahmen eines Kriminalromans sprengen. Zwei von ihnen (von Victor von Scheffel und Friedrich Hölderlin) finden sich im Anhang des ersten Falles von J. Travniczek, „Schlag auf Schlag“, weitere Texte und Hinweise unter www.heidelbergkrimi.de.

3 Sebastian-Münster-Brunnen

Der Brunnen in der Mitte des Karlsplatzes erinnert an den Humanisten und Kosmographen Sebastian Münster (1488-1552), der Anfang des 16. Jahrhunderts einige Jahre im hier gelegenen Franziskanerkloster (Barfüßerkloster) wirkte. Michael Schoenholtz schuf den Brunnen 1978, als der Karlsplatz im Zuge des Neubaus einer Tiefgarage neu gestaltet wurde. Der Bildhauer möge mir verzeihen, dass ich den Brunnen zu einem Werk des natürlich fiktiven Bildhauers Freimuth Wendlandt mache.

4 Gemeint ist die Sixtinische Madonna von 1512/13 (Gemäldegalerie Dresden), eines der berühmtesten Marienbilder überhaupt.

5 Alte Heidelberger werden es wissen: Das Sole d’oro in der Hauptstraße war jahrzehntelang eine der beliebtesten Pizzerien der Stadt. Der Autor hat sich die Freiheit genommen, es noch existieren zu lassen, obwohl sich dort mittlerweile ein asiatisches Restaurant befindet.

Der Engel mit den traurigen Augen

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