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Freimuth Wendlandt hatte mehrmals vom Auto aus versucht, seine Frau anzurufen. Aber es meldete sich immer nur der Anrufbeantworter und ihr Handy war tot. Was war passiert? Sie musste doch zu Hause ihren Kurzurlaub nach Rom vorbereiten. Der Flieger ging um 18.30 Uhr ab Frankfurt und sie wollten sofort nach seiner Ankunft losfahren, um ihn sicher zu erreichen. Dieses Rom-Wochenende hatte sich Angela so sehr gewünscht. Sie wollte endlich den neuen Papst Franziskus sehen, in den sie so viel Hoffnung setzte. Sie glaubte, er könnte der katholischen Kirche endlich wieder ihr Ansehen und ihre rechtmäßige Bedeutung zurückgeben. Er selbst war da sehr viel skeptischer, denn er stand der Institution Kirche sehr kritisch gegenüber. Und nach den Missbrauchsskandalen der letzten Jahre wäre er sicherlich ausgetreten, hätte er nicht Rücksicht auf die religiösen Gefühle seiner Frau nehmen wollen.

Kurz vor drei hielt er in seinem roten Mercedes S-Klasse vor ihrer Villa in Heidelberg-Ziegelhausen, am Moselgrund 25 a. Er war von Freiburg gekommen, wo der renommierte Bildhauer vor einigen Jahren eine Professur an der Kunsthochschule angetreten hatte. Das Auto seiner Frau stand nicht in der Garage. Wohin war sie gefahren? Und warum hatte sie sich nicht gemeldet? Er geriet in Panik, denn er war sicher: Es musste etwas Schlimmes passiert sein.

Sein Herz raste, als er das Haus betrat. „Angela, wo bist du?“, rief er immer wieder. Aber es kam keine Antwort. Er lief durch alle Zimmer der Wohnung. Nichts. Kein Hinweis. Überall war es so penibel aufgeräumt wie immer. Nur in der Küche stand auf dem Tisch eine halb geleerte Sprudelflasche unverschlossen neben einem fast leeren Glas. Er rannte in den Keller, wo sie ihre Koffer aufbewahrten. Aber alle standen an ihrem Platz. Angela hatte also keinerlei Reisevorbereitungen getroffen. Das konnte doch überhaupt nicht wahr sein!

War etwas mit den Kindern? Die waren seit gestern Abend bei seinen Schwiegereltern in Waldhilsbach. Er hastete zurück ins Vorzimmer und griff nach dem Telefon. Fünf Mal ertönte das Freizeichen, dann schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Quälend langsam ertönte die Ansage: „Hallo, lieber Anrufer. Wir können im Moment nicht ans Telefon gehen. Hinterlassen Sie bitte nach dem Signalton eine Nachricht. Wenn Sie auch Ihre Telefonnummer angeben, rufen wir Sie sicher bald zurück.“ Ohne zu überlegen, sprach er auf Band: „Ruft bitte sofort zurück, wenn ihr das abhört, es ist wichtig! Freimuth.“

Noch einmal rief er seine Frau an. Aber wieder meldete sich nur die Mailbox. „Die Polizei muss sie suchen“, sagte er vor sich hin und wählte die 110. Aber die wollten nichts unternehmen, solange es keine konkreteren Hinweise auf einen Unfall oder eine Straftat gäbe. Was konnte er noch tun? Er ging ins Wohnzimmer, ließ sich in die tiefe, weich gepolsterte Couch fallen und vergrub sein Gesicht in den Händen.

„Jetzt klar denken!“, forderte er sich auf und erinnerte sich an Übungen, die er früher einmal gelernt hatte. Er schloss die Augen und versuchte, langsam und tief ausund einzuatmen. Nur schwer konnte er sich konzentrieren. Aber nach einer gewissen Zeit gelang es ihm doch, wieder einigermaßen ruhig zu werden.

„Kreative Problemlösung!“, ermunterte er sich selbst. „Als Künstler machst du das doch dauernd. Denk dir eine Geschichte aus, die zu all dem passt.“ Aber hier versagte seine Fantasie. Da klingelte das Telefon. Mit raubtierhafter Geschwindigkeit sprang er auf, rutschte aber auf einem Teppich aus, schlug der Länge nach auf den Boden und realisierte gar nicht, dass er sich dabei eine Hand verstauchte. Sofort kam er wieder auf die Beine, riss den Telefonhörer an das Ohr und hörte die flüsternde Stimme seiner Frau: „Gott sei Dank bist du da – ich werde verfolgt – da ist ein Mann mit einem Gewehr – der will mich töten – aber ich habe mich versteckt …“

„Wo bist du? Warum bist du nicht zu Hause?“

„Ich bin hier im Bärenbachtal, oben an der Neckarblickhütte.“

„Aber was um alles in der Welt machst du denn jetzt da oben?“

„Das kann ich jetzt nicht erklären – versuch, so schnell wie möglich zu kommen – wenn er mich findet, bin ich verloren!“

„Hast du die Polizei angerufen?“

„Nein, komm bitte schnell! … O Gott, jetzt hat er mich entdeckt – er kommt – jetzt ist es aus!“ Etwas entfernt hörte er eine aggressive Männerstimme: „Jetzt vollzieht sich das Schicksal. Es ist aus mit dir!“ Dann fiel ein Schuss, gleich darauf ein zweiter, und Sekunden später wurde das Handy ausgeschaltet. Nur noch ein schnelles Tüt – tüt – tüt – tüt – … war zu vernehmen.

Einige Sekunden hörte er wie geistesabwesend diesen Tönen zu, bis er langsam realisierte, was offenbar gerade geschehen war. Er warf den Hörer weg und stürmte aus dem Haus. Blitzartig startete er seinen Mercedes und raste mit aufheulendem Motor und quietschenden Reifen los, den Moselgrund hinunter über den Friedhofsweg zur Schönauer Straße. Die Schranke vor der Biegung ins Tal war glücklicherweise nicht geschlossen. Er raste weiter und erreichte bald die Abzweigung des Weges hinauf zur Neckarblickhütte. Oben stieg er aus, sah

sich um, konnte aber zunächst nichts Beunruhigendes entdecken.

Hatte es den Telefonanruf überhaupt gegeben oder war seine Einbildung mit ihm durchgegangen? Langsam und ängstlich zitternd stolperte er hinauf zur Hütte. Als er in ihr Inneres sah, stockte sein Herz. Vor ihm lag seine Frau auf dem Rücken, oder das, was von ihr noch übrig war. Ihr Gesicht war völlig zerstört. Jemand hatte ihr mit einer Schrotflinte in den Kopf geschossen. Ein zweiter Schuss hatte ihre Brust zerfetzt. Und zu allem Überfluss waren ihr dann auch noch die Hände abgehackt worden. Die Zeit stand still. Unendlich lange verharrte er regungslos, ohne wirklich zu begreifen, was geschehen war. Dann sank er auf die Knie, fiel über den noch warmen Leichnam und drückte ihn bitterlich schluchzend an sich.

Völlig bewegungslos blieb er so liegen, bis ihn nach fast einer Stunde zufällig vorbeikommende Wanderer entdeckten und sofort die Polizei alarmierten. Zwanzig Minuten später fand ihn Oberkommissarin Martina Lange von der Mordkommission Heidelberg. Sie wohnte in Ziegelhausen und war schon zu Hause, als sie die Nachricht von der Toten im Bärenbachtal erreichte. Deshalb war sie als Erste am Tatort. Als sie die grausam verstümmelte Leiche, eng umschlungen von einem Mann, sah, wusste sie sofort, dass das eines der Bilder war, die sie für immer im Gedächtnis behalten würde.

Sie brauchte einige Zeit, um sich selbst wieder zu fangen. Dann beugte sie sich zu dem Mann hinunter und versuchte, ihn von der toten Frau zu lösen. Aber er wollte nicht loslas sen. Erst nach vielen guten Worten und auch mit etwas sanf ter Gewalt konnte sie ihn dazu bewegen, die Arme zu öffnen und die Tote freizugeben. Zitternd erhob er sich mit ihrer Unterstützung. Sie führte ihn den Pfad zum Hauptweg hinunter und setzte ihn auf einen der Baumstämme, die längs des Weges lagen. Er ließ den Kopf auf die Brust sinken und weinte mit geschlossenen Augen leise in sich hinein. Martina Lange setzte sich neben ihn und ergriff seine Hand, ohne

darauf zu achten, wie blutbefleckt sie war. Es würde lange dauern, bis man ihn fragen konnte, was hier eigentlich geschehen war.

Inzwischen waren auch zwei Streifenwagen den Berg heraufgekommen. Die Beamten machten sich daran, den Tatort zu sichern.

Der Engel mit den traurigen Augen

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