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Prolog 1 – Mai 1990

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Angela Ricardi war völlig verzweifelt. Ihren Blick auf den Boden geheftet, nicht starr, sondern unstet flackernd, verließ sie das beschauliche Waldhilsbach* langsam und stolpernd, die Schultern hochgezogen und den Rücken gebeugt, das Gesicht von ihrem langen schwarzen, leicht gelockten Haar fast vollständig verdeckt. Immer wieder sah sie sich scheu nach den Seiten um, als ob sie Angst hätte, verfolgt zu werden.

Sie hatte sich Pater Ignatius in der Beichte anvertraut, der sie schon vor genau zwanzig Jahren zur Erstkommunion geführt hatte. Aber er half ihr nicht, im Gegenteil. Er ließ nicht gelten, dass sie unschuldig an ihrem Unglück war, und fällte sein Urteil gnadenlos und hart: Neues Leben sei immer ein Gottesgeschenk. Die sündigen Menschen hätten nicht zu fragen, ob sie mit den Bedingungen seiner Entstehung einverstanden sind. Das in ihr reifende Kind mochte für sie eine schwere Prüfung sein, aber die müsse sie bestehen. Gott habe selbst seinen Sohn geprüft, da dürften sich die sündigen Menschen seinen Prüfungen nicht widersetzen. Daran auch nur zu denken sei schon schwere Sünde. Als Buße dafür gab er ihr auf, fünfzig Ave Maria und zehn Vaterunser zu beten.

Dabei war früher alles so schön gewesen. Umsorgt und behütet war sie aufgewachsen als einziges, spätes Kind ihrer Eltern. Die waren überglücklich, dass nach zwölf kinderlosen Ehejahren ihr sehnlichster Wunsch doch noch in Erfüllung gegangen war. „Unser Engel“, sagten sie immer, wenn sie von ihr sprachen. Und das meinten sie auch. Denn sie waren tief gläubig. Ein Zweifel an dem, was die Kirche lehrte, wäre ihnen nie gekommen. In dieser Atmosphäre der unbedingten Gültigkeit der Lehren der Kirche war sie groß geworden. Unvergessen

blieb der Tag der Erstkommunion. Das weiße Kleid, der Weihrauch, die vielen Menschen, die auf sie schauten. Die schönen Lieder, die wunderbare Orgel. So ähnlich muss es im Himmel sein, dachte sie damals und fühlte sich wahrlich als Engel.

Sie hatte nie empfunden, wovon erst viele ihrer Mitschüler und später Studienkollegen sprachen: die Enge und Muffigkeit katholischer Erziehung. Die Eltern hatten ihren Glauben so natürlich gelebt, dass sie sich in diesem Leben rundum glücklich fühlte. Sie engagierte sich für Projekte von Adveniat in der Dritten Welt und ließ seit ihrem zwölften Lebensjahr keinen Katholikentag aus. Nach ihrem Abitur war sie mit einer Jugendgruppe nach Rom gereist und dort von dem damals neuen Papst Johannes Paul II. empfangen worden. Sie durften sogar mit ihm sprechen. Vom Charisma dieses Mannes verzaubert, verehrte sie ihn seitdem mehr als den eigenen Vater.

Und dann die große Liebe zu Benni, einer Liebe, mit der der Traum ihrer Kindheit weiterzugehen schien. Es war ausgemacht, dass sie heiraten würden, wenn sie erst im Beruf etabliert wären, dass sie Kinder bekommen und glücklich würden. Nur schmerzte sie es immer wieder, wenn Benni nicht warten wollte, bis der Segen Gottes ihre Verbindung besiegelte. Aber irgendwann schien er es eingesehen zu haben und fing nicht mehr davon an.

In der Schule war sie stets die Klassenbeste, ohne sich wirklich anstrengen zu müssen. Dann hatte sie an der Heidelberger Universität Jura studiert und vor zwei Monaten ihr Doktorexamen summa cum laude abgelegt. Sie war jetzt 28 Jahre alt und ihre Karriereaussichten waren blendend. Was wollte sie mehr?

Doch zwei Wochen nach dem Examen brach in Davos die Katastrophe über sie herein, eine totale Demütigung und ein fürchterlicher Vertrauensbruch. Aber das wäre noch verkraftbar gewesen, hätte nicht die Nachricht ihres Arztes vor fünf Tagen den zweiten Schock gebracht. Davos würde Folgen haben, die sie ihr ganzes Leben nicht loswerden könnte, es sei denn …, es sei denn, sie entschied sich für das, was ihre Religion ihr verbot.

Und jetzt der dritte Schlag: das Verdikt von Pater Ignatius. Ziellos ging sie immer tiefer in den Wald hinein und dachte nicht daran umzukehren, als es dunkel wurde. Sie prüfte immer wieder, ob sie die Forderungen von Pater Ignatius erfüllen könne. Und immer wieder hieß die Antwort: nein. Wie sollte sie ein Kind in Liebe aufziehen, das sie immer an die fürchterlichste Demütigung erinnern würde? Wie sollte dieses Kind Zuversicht zum eigenen Leben finden in dem Wissen, dass es seine Existenz einem Verbrechen verdankte? Und sie glaubte auch nicht, ihm seine wahre Entstehung verschweigen zu können. Diese Lüge würde das Kind für immer unerträglich belasten, selbst wenn sie nie offenbar würde.

Drei Tage und drei Nächte irrte sie schlaflos durch Heidelberg und die angrenzenden Wälder. Zweimal stieg sie auf den Turm der Heiliggeistkirche*, um ein Ende zu machen. Aber auch dazu war sie zu schwach. In der dritten schlaflosen Nacht kam dann überraschend die Wende: Sie hatte oben auf dem Heiligenberg in der Krypta der Michaelsbasilika* Schutz vor einem nächtlichen Gewitter gesucht. Und plötzlich stand in völliger Klarheit ein Erinnerungsbild vor ihr: Rafael Neidhardt, der Bischof von Speyer, ein Hüne von Gestalt, mit schon ergrautem, wallendem Haupthaar und gewaltigem Vollbart, steht vor einem riesigen Auditorium. Es war am letzten Katholikentag, und mit seinem Vortrag über „die Barmherzigkeit Gottes“ zog er seine Hörer in Bann. Mit dem warmen Klang seiner Stimme und dem liebevollen Ausdruck seiner leuchtenden Augen schien er Gottes Barmherzigkeit Gestalt zu geben. Er sprach davon, dass es keine Sünden gäbe, die Gott nicht auch vergeben könne, dass es keine auch noch so verworrene Situation gäbe, in der kein Ausweg zu finden sei. „Wenn du dich wahrhaft ins Gebet versenkst, wird sich dir eine Lösung offenbaren, und je schwieriger das Problem ist, um so einfacher wird sie sein.“

Im gleichen Moment wusste sie: Dieser Mann wird mich verstehen. Er wird mir helfen.

Sie erhob sich von den kalten Steinstufen und merkte nicht mehr, wie in der regennassen Kleidung die Kälte ihren Körper

herauf kroch. Voll neuer Energie trat sie hinaus in den Regen und kümmerte sich nicht um Blitz und Donner. Sie eilte hinunter zur Heidelberger Altstadt, über die Alte Brücke, hinauf zum Schloss und weiter durch den Wald, wo sie sich so gut auskannte, dass sie trotz der stockdunklen Regennacht mit traumwandlerischer Sicherheit den Weg über den Königstuhl zurück nach Waldhilsbach fand.

Kurz nach halb sieben erreichte sie das Elternhaus. Mutter und Vater, die schon die Polizei zu Hilfe gerufen hatten, um ihre verloren geglaubte Tochter zu finden, kamen ihr gleichzeitig erleichtert und erschrocken entgegen und überhäuften sie mit Fragen. Sie wehrte sie wortlos ab, suchte die Kleidung zusammen, die sie sonntags beim Kirchenbesuch zu tragen pflegte, ging ins Bad, duschte lang, kleidete sich an und verließ das Haus so wortlos, wie sie gekommen war, die fassungslosen Eltern mit ihren Fragen ratlos zurücklassend.

Sie bestieg ihren weißen VW-Golf und bemerkte, dass es allmählich aufhörte zu regnen, während sie durch Heidelberg über die Speyerer Straße nach Schwetzingen fuhr. Dort sah sie die ersten Sonnenstrahlen durch die vorher so dichte Wolkendecke brechen, wie sie glänzendes Licht über die Kuppel und Minarette der Moschee im Schlosspark warfen, die einst Kurfürst Carl Theodor zum ästhetischen Vergnügen für sich und seine Gäste hatte bauen lassen.

Als sie an den Rhein kam und sich der Blick auf den Kaiserdom* öffnete, hatten sich die Wolken fast vollständig verzogen. Der gewaltige Bau mit seinen vier Türmen und den zwei Kuppeln lag vor ihr im strahlenden Licht der Morgensonne, ein Anblick, der ihr von vielen Besuchen dieses Gotteshauses vertraut war und der ihr immer noch tief aufgewühltes Inneres ein wenig zur Ruhe brachte.

Sie überquerte den Rhein und stellte ihr Auto auf dem großen Besucherparkplatz südlich des Doms ab. Langsam stieg sie aus und merkte jetzt erst, wie müde und hungrig sie eigentlich war, hatte sie doch in den letzten drei Tagen wenig gegessen und so gut wie nicht geschlafen. Aber erst musste sie erkunden,

ob, wann und wie sie dem Bischof ihre Not vortragen konnte. Sie fand am Dom einen Hinweis auf das bischöfliche Ordinariat in der Kleinen Pfaffengasse, nur wenige Meter entfernt. Aber dort öffnete ihr noch niemand, denn es war erst kurz nach acht. Enttäuscht ging sie zurück zum Dom, und plötzlich war da die Angst, sie könnte umsonst gefahren sein. Sie überquerte den Domplatz und fand in der anschließenden Fußgängerzone ein Café, das um diese Zeit schon geöffnet hatte und ein Frühstück anbot.

Etwas gestärkt, aber immer noch bang wandte sie sich zurück zum bischöflichen Ordinariat und bekam die erlösende Nachricht: Am späten Nachmittag um fünf Uhr könne sie im Dom beichten und der Bischof persönlich würde die Beichte abnehmen. Sie glaubte nicht an einen Zufall. Das musste Fügung sein. Mit Gottes Hilfe würde jetzt doch noch alles gut werden.

Für den Moment war alle Müdigkeit verflogen. Mit freudigen Schritten eilte sie zurück zum Dom und betrat ihn durch den Haupteingang in der Westfassade. Als sie in das Hauptschiff des Langhauses sah, in das durch die kleinen Obergadenfenster von Südosten das Sonnenlicht einfiel, blieb sie unwillkürlich stehen. Ihre Augen wanderten an den Fenstern entlang, folgten den Sonnenstrahlen, bis sie die nördliche Pfeilerreihe trafen, und blieben schließlich jenseits der Vierung am Torbogen des Eingangs zum Ostchor haften. Dort war es dunkler. Die Sonnenstrahlen, fein wie Silberfäden, konnten nicht sichtbar machen, was dort im Verborgenen lag.

In diesem Dunkel liegt der Ursprung allen Seins, dachte sie, benetzte zwei Finger der rechten Hand im Weihwasserbecken, schlug ein Kreuz und schritt langsam durch den Mittelgang. Kurz vor dem Volksaltar1 deutete sie einen Kniefall an und stieg linker Hand etliche Treppenstufen zum Querhaus und dem Hauptaltar empor. Sie wäre gerne weitergegangen, um sich vom Dunkel des Ostchores einhüllen zu lassen, fand den Zutritt aber durch eine Eisenkette versperrt. Sie blickte zurück in das Langhaus, ließ sich vom Silberglanz der riesigen Orgel2 gefangen nehmen und versuchte sich vorzustellen, wie ihr Klang durch die Weite dieses Raumes flutet. Schließlich sah sie an der nördlichen Stirnwand des Querhauses zwei kleine Seitenkapellen und trat in die linke von ihnen ein.

Vor dem Altar fiel sie auf die Knie, um zu beten. Aber sie fand keine Worte. Sie erschrak, weil sie das noch nie erlebt hatte. War es schon so weit mit ihr gekommen? Benommen erhob sie sich nach einer Weile wieder, setzte sich auf eine Bank an der Rückwand der Kapelle und ließ ihren Blick durch den weiten Raum des Domes schweifen. Allmählich wurden die realen Bilder durch verschwommene Erinnerungen an die schönen Zeiten der Kindheit überlagert, bis schließlich ihr Kopf auf die Brust sank und sie einschlief.

Mehrere Stunden saß sie schlafend in der Seitenkapelle. Einige wenige Touristen hatten sie gesehen und sich auf leisen Sohlen entfernt, um ihren Schlaf nicht zu stören. Die Sonne war sehr viel weiter gezogen und ihre Strahlen fielen nun direkt von Süden durch die Fenster des Langhauses ein. Allmählich erwachte sie und brauchte geraume Zeit, um zu begreifen, wo sie war. Sie sann den seltsamen Traumbildern nach, die sie bewegt hatten. Die meisten waren nicht klar genug, um bleibende Erinnerung werden zu können. Aber die Szene kurz vor dem Erwachen war haftengeblieben. Sie sah sich selbst als Kind im weißen Kleid der Erstkommunion mit anderen gleichgekleideten Mädchen freudig und ausgelassen herumtollen. Da stand plötzlich ein kleiner, schmächtiger Junge zwischen ihnen, gleichfalls im weißen Kleid, das nicht zu ihm passte, und das kindliche Toben erstarrte. Der Junge blickte sie alle aus traurigen Augen an, schüttelte immer wieder den Kopf und entfernte sich allmählich. Als er schon weit weg war, winkte er ihr wie Abschied nehmend zu. Und das Bild zerrann und ging über in die vielen runden Bögen dieses Raumes, in dem sie sich trotz seiner Größe und Höhe beschützt und aufgehoben fühlte.

Lange blieb sie noch sitzen, ehe sie sich endlich erhob und den Dom über das südliche Seitenschiff verließ. Die Mittagssonne schien ihr direkt ins Gesicht. Blinzelnd wandte sie sich nach rechts zu der in Stein gehauenen Ölbergszene3. Auf sechs rechteckigen Säulen ruhte ein Spitzdach, das den mit seinen Jüngern vor der Gefangennahme am Ölberg betenden Jesus schützte. Darunter lag eine kleine, gedrungene, dem Erzengel Michael geweihte Kapelle. Angela Ricardi hatte schon oft in der Vergangenheit viel Zeit damit zugebracht, die verschiedenen Gesichter der Szene zu studieren, und es störte sie nicht, dass die meisten gotischen Originale zerfallen waren und im 19. Jahrhundert durch neue ersetzt werden mussten.

Auch jetzt verweilte sie wieder lange vor den Skulpturen, und besonders beschäftigte sie sich mit dem Engel, der ganz oben auf dem Ölberg stand. Vor ihm kniete Jesus, die Hände erhoben, als würde er ihn, den Engel, anbeten. Aber das konnte nicht sein, dachte Angela Ricardi. Der Schöpfer dieser Szene musste gemeint haben, dass der betende Jesus den Engel nicht sehen kann und natürlich Gott, seinen Vater, anspricht. Aber was war die Bedeutung dieses Engels? Er umfasste mit seiner Rechten ein Kreuz, das auf das bevorstehende Leiden hindeutete. Er zeigte also, was sein würde.

Aber was ist das, fragte sie sich, was ist mit dem Gesicht des Engels? Die Augen sind an den Seiten nach unten gezogen, sie sind todtraurig, nein, noch mehr, auch die Mundwinkel sind nach unten gezogen. Der Engel weint! Aber – warum weint der Engel? Weil er dem betenden Jesus die Botschaft bringen muss: Dein Gebet wird nicht erhört, du musst den Weg des Kreuzes gehen? Aber das ist doch Teil des göttlichen Heilsplans für die Menschen! Wie kann ein Engel darüber weinen? Das hieße ja, Gottes Wege in Frage zu stellen. Oder weint er, weil er Jesus hier schwach sieht?

Angela Ricardi war verwirrt. Lange blieb ihr Blick auf dem Engelsgesicht haften, bis sie allmählich das Gefühl hatte, dort wie in einem Spiegel das eigene Gesicht zu sehen. Diese traurigen Augen, dachte sie, das sind meine Augen …

Schließlich löste sie sich von dem Bild, wandte sich ab und wanderte dann stundenlang ziellos umher. Auf ihrem Gangdurch die kleinen Gassen der Altstadt stieß sie auf das Kloster der Dominikanerinnen zu St. Magdalena. Still verweilte sie in der Klosterkirche und entdeckte dort nach einer Weile die Hinweise auf Edith Stein. Deren Schicksal erregte ihr besonderes Interesse. Als getaufte Jüdin und Geisteswissenschaftlerin hatte sie an der Klosterschule unterrichtet, erhielt 1933 von den Nazis Berufsverbot und trat dann in Köln in ein Kloster ein. Sie schrieb einen Brief an Papst Pius XI., er möge gegen die Judenverfolgung Stellung beziehen. Erfolglos, wie man weiß. Und 1942 wurde sie in Auschwitz vergast. – Das Gesicht des weinenden Engels stand plötzlich wieder vor Angela Ricardis innerem Auge.

Aber je weiter die Zeit vorrückte, umso unsicherer, verkrampfter, ängstlicher wurde sie. Würde sie wieder zurückgestoßen werden? Hatte Pater Ignatius nicht recht, dass sie einfach schlecht war, weil sie glaubte, Gottes Willen nicht erfüllen zu können?

Dann waren es nur noch zwanzig Minuten und sie ging auf die jetzt in der Nachmittagssonne rötlich schimmernde Sandsteinfassade des Domes zu. Aber sie getraute sich nicht mehr aufzublicken, meinte, beobachtet und verachtet zu werden, glaubte, dass Menschen unterwegs wären, die sie verfolgten, um sie am Betreten des Domes zu hindern; denn sie war eine zu große Sünderin, als dass sie würdig wäre, dieses Heiligtum zu betreten. Dann stand sie kurz vor dem Eingang. Mit einem Mal erschienen ihr die Pforten, die Fenster und die zehnblättrige Rosette unendlich klein. Übermächtig waren die monumentalen Quadersteine der Außenmauer. Sie fühlte sich zurückgestoßen. Schon wollte sie sich abwenden, weglaufen und endgültig die Zerstörung ihres Lebens hinnehmen. Doch da sah sie vor sich in schwarzer Soutane, mit wallendem, grauem Haupthaar die große Gestalt des Bischofs Neidhardt. Sofort war wieder die Erinnerung da an jenen unvergleichlichen Vortrag und die Zuversicht: Ja, er wird mich verstehen, er wird mir helfen können.

So betrat sie zum zweiten Mal an diesem Tag den Dom und wandte sich zum nördlichen Seitenschiff, wo die Beichtstühle standen. Da saßen schon viele, die auch beichten wollten, und sie setzte sich in eine Bank, etwas abseits von den anderen.

Punkt fünf Uhr läutete eine kleine Glocke, und als Erste betrat eine alte Frau den Beichtstuhl. Der Bischof schien sich Zeit zu nehmen für die Beichtenden, denn es dauerte lange, bis sie wieder herauskamen. Während so einer nach dem anderen in den Beichtstuhl trat, wurde es langsam still im Dom. Immer weniger Touristen sahen sich um und Angela Ricardi hatte das Gefühl, auch die Zeit käme zum Stillstand. Sie ließ ihre Gedanken in der Weite des Raumes schweifen und die Natur forderte nach den drei fast schlaflosen Nächten erneut ihren Tribut. Sie schlief ein.

Sie schreckte hoch, als ein älterer Mann sie an der Schulter berührte. „Sie sind jetzt an der Reihe“, sagte er leise. Es war deutlich dunkler geworden. Stunden mussten seit Beginn der Beichte vergangen sein. Als ob sie Angst hätte, doch noch zu spät zu kommen, rannte sie fast zum Beichtstuhl, schlug sich dabei das Schienbein so heftig an der Kante einer Kirchenbank an, dass sie fast gestürzt wäre. Dann trat sie schnell ein, ließ den roten Vorhang hinter sich zufallen und kniete nieder. Bischof Neidhardt bemerkte ihre Atemlosigkeit und ließ ihr etwas Zeit sich zu sammeln. „Gelobt sei Jesus Christus“, begann er schließlich und sie antwortete: „In Ewigkeit, Amen.“

„Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird’s wohl machen4“, sprach der Bischof langsam und leise.

„Du bist sehr erregt, meine Tochter. Ich sehe, du trägst eine schwere Last. Aber sag mir erst, wie ist dein Name?“

„Angela.“

„Das ist ein schöner Name. Angela, sprich! Was quält dich?“

Sie zögerte erst und sagte dann so leise, dass der Bischof sie kaum verstand: „Exzellenz, ich möchte in Demut und Reue meine Sünden bekennen5. Aber ich weiß nicht, ob es überhaupt recht ist, dass ich hier bin. Ich habe schon unserem Gemeindepfarrer gebeichtet. Aber der war sehr streng mit mir. Ich habe mich drei Tage und drei Nächte geprüft und erkannt, dass ich nicht erfüllen kann, was er von mir gefordert hat. Jetzt weiß ich nicht mehr ein noch aus. Zweimal war ich in der Zeit ganz kurz davor, meinem Leben ein Ende zu setzen.“

„So danke dem Herrn, Angela, dass er dir einen Engel gesandt hat, dich zu bewahren. Ich sehe an deinen traurigen Augen, wie du dich quälst. Du handelst nicht leichtfertig. Es ist keine Sünde, in einer schweren Lage keinen Ausweg zu sehen. Erzähle! Gemeinsam werden wir dann einen Weg aus deiner Not finden.“

Seine ruhige, gütige Stimme hatte ihr die Angst genommen. Sie begann zu erzählen, zum ersten Mal ausführlich, von jener verhängnisvollen Nacht in Davos, von den Demütigungen, vom Verlust an Vertrauen.

„Was das Schlimmste ist“, fuhr sie dann fort. „Ich habe mit einem Mal den Glauben daran verloren, dass die Welt an sich gut ist, dass Böses überwunden werden kann. Und es kam noch schlimmer. Als mir mein Arzt sagte, in mir reift neues Leben heran, habe ich auch mein Vertrauen zu Gott verloren. Warum lässt Gott es zu, dass neues Leben aus einem Verbrechen entsteht? Aber darf ich diese Frage stellen? Oder ist das Hochmut, Exzellenz?“

„Natürlich darfst du so fragen. Es gibt keine Frage, die man nicht stellen darf. Ich bin fast siebzig Jahre alt, und im Beichtstuhl habe ich immer wieder diese Frage nach dem Warum gehört. Und als junger Mann habe auch ich sie in äußerster Verzweiflung selber gestellt. Ich war im Februar 1945 dabei, als Dresden im Feuersturm versank. Und unauslöschlich hat sich in meine Seele eingebrannt, wie dabei der Mensch, der mir damals der Liebste war, als lebende Fackel von mir weglief.“

„Aber wie können wir damit leben?“

„Angela, meine Tochter, ohne die Erlebnisse von 1945 säße ich nicht hier. Damals habe ich gelernt: Gott hat uns Menschen so geschaffen, dass wir viele Fragen zwar stellen, aber nicht beantworten können. Das gilt vor allem für die Frage nach dem Warum. Erst wenn wir aufhören, diese Frage zu stellen, kann

unsere Fantasie uns Wege zeigen, die uns die Frage vergessen lassen.“

„Exzellenz, ich würde dem ja gern folgen. Aber meine Fantasie reicht nicht, mir für mich einen Ausweg vorzustellen.“

„Wir wissen doch beide: Nicht du hast gesündigt, sondern andere Menschen haben sich an dir versündigt. Statt dir eine Buße aufzuerlegen, lade ich dich ein, morgen früh noch einmal zu mir zu kommen. Wir werden gemeinsam einen Weg suchen und finden, der dich trotz allem glücklich leben lässt.“

Er erteilte ihr Absolution und benommen verließ Angela Ricardi den Beichtstuhl. Ganz langsam ging sie in das Mittelschiff und setzte sich in die letzte Bank. Sie wusste, dieser Tag würde einer der wichtigsten in ihrem Leben sein. Sie blieb sitzen, bis ein dienstbarer Geist sie bat, den Dom zu verlassen. Sie trat durch das Tor der Westfassade und blickte in das Rot der untergehenden Sonne.

Der Engel mit den traurigen Augen

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