Читать книгу Der Engel mit den traurigen Augen - Christoph Wagner - Страница 16
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ОглавлениеEs war schon zwanzig nach fünf, als Hauptkommissar Travniczek endlich vom Parkhaus Kornmarkt aufbrechen konnte. Er ließ das Seitenfenster herunter, um sich den Fahrtwind über das Gesicht blasen zu lassen. So wollte er die Gedanken an seine Familienkatastrophe verscheuchen und den Kopf freibekommen für das, was jetzt auf ihn wartete. Und das war wohl auch eine Katastrophe. So viel hatte er durch die Andeutungen seiner Kollegin schon verstanden.
Er überquerte den Kornmarkt und fuhr viel zu schnell durch den hinteren Teil der Hauptstraße, obwohl er in seinem Privatwagen weder Blaulicht noch Martinshorn zur Verfügung hatte. Hinter dem Karlstor wurde der Verkehr wie immer am späteren Freitagnachmittag sehr dicht. Es ging oft nur im Stop-and-go voran. So dauerte es fast zwanzig Minuten, bis er in Schlierbach* über die Neckarbrücke auf die Ziegelhäuser Seite fahren konnte.
Kurz nach der Ausfahrt aus Ziegelhausen wartete linker Hand an einer Abzweigung ein Streifenwagen mit Blaulicht, neben dem etwas gelangweilt ein Beamter stand. Der beschrieb Travniczek den weiteren Weg zum Tatort. Als er in das Bärenbachtal einbog, sog er die angenehme Waldluft ein und vergaß für kurze Zeit fast, warum er hier unterwegs war. Oben am Tatort begegnete er hektischem Treiben. Spurensicherung und Gerichtsmedizin waren intensiv bei der Arbeit.
Er suchte und fand Martina Lange und Brombach, der mittlerweile auch an den Tatort gekommen war.
„Na, hast du es endlich auch geschafft?“, fragte der ihn frotzelnd.
„Nun ja, es ging einiges durcheinander. An diesem Wochenende ist erstmals mein ältester Sohn aus München zu Besuch gekommen und wir haben uns die Zeit natürlich etwas anders vorgestellt.“
„Kriminalistenschicksal“, meinte die Kollegin mitfühlend.
„Aber lassen wir das Geplänkel“, beendete Travniczek dieses Thema, „zur Sache: Wie ist die Lage?“
„Beschissen“, entgegnete Brombach, der mitgenommen aussah. „Das ist mal wieder einer der Fälle, wo es dem Täter nicht reicht, sein Opfer zu töten. Er wollte es offenbar physisch vernichten. Zwei Schüsse mit einer Schrotflinte in Gesicht und Brust. Da ist nichts mehr zu erkennen. Und dann hat er ihr auch noch die Hände abgehackt.“
„Woher weißt du, dass es ein ‚er‘ ist?“, fragte Travniczek provozierend.
„Also“, entgegnete Brombach mit Kopfschütteln. „Ich bin ja sehr für die Emanzipation des Mannes. Aber so etwas bringt wohl doch nur unsere Form der Spezies Mensch fertig.“
„Wissen wir schon, wer sie ist?“
„Mit hoher Wahrscheinlichkeit“, schaltete sich jetzt Lange ein. „Ich war als Erste am Tatort. Von meiner Wohnung in Ziegelhausen ist es ja nur ein Katzensprung. Und was ich hier vorfand, war schon wirklich krass. Auf der verstümmelten Leiche lag ein Mann, der die Tote fest in seinen Armen hielt. Ich brauchte lange, ihn dazu zu bewegen loszulassen. Er steht völlig unter Schock. Wir wollten ihn dann eigentlich gleich in ein Krankenhaus bringen. Aber er wollte nicht. Und dann hat er mir irgendwann wenigstens seinen Namen genannt: Freimuth Wendlandt, und dass die Tote seine Frau sei. Den Namen kenne ich. Er ist ein renommierter Bildhauer, hat hier in Heidelberg unter anderem am Karlsplatz* den Sebastian-Münster-Brunnen3 gestaltet. Er wohnt in Ziegelhausen und gehört zur Heidelberger High Society. Und die Tote müsste dann Dr. Angela Wendlandt sein, Richterin am hiesigen Landgericht. Sie galt als brillante Juristin.“
„Kommt er als Täter in Frage?“, setzte Travniczek nach.
„Schwer zu sagen“, antwortete Lange nachdenklich. „Ausschließen kann man es zum jetzigen Zeitpunkt sicher nicht. Aber ich halte es für sehr unwahrscheinlich. Er müsste dann seinen Zusammenbruch perfekt gespielt haben.“
„Müssen wir also klären. Ich will jetzt erst die Tote und den Tatort sehen.“
„Dann mach dich mal auf etwas gefasst“, meinte Brombach, während Travniczek den Pfad zur Hütte hinaufstieg. Als er oben die Leiche sah, die gerade von Dr. Melchior, dem Gerichtsmediziner, untersucht wurde, traf ihn der Schock doch tiefer, als er nach der Vorwarnung angenommen hatte. Er fing sich aber schnell, tippte den Pathologen an die Schulter und fragte: „Dr. Melchior, wie sieht es aus? Können Sie schon etwas sagen?“
Der Angesprochene blickte auf: „Genaues natürlich, wie immer, erst nach der Obduktion. Aber hier scheint die Lage ziemlich klar zu sein. Der Tod dürfte vor zweieinhalb bis drei Stunden eingetreten sein. Die Todesursache ist eindeutig. Beide Schüsse waren für sich genommen tödlich. Weiteres wird sich finden.“
„Und die Hände, wurden sie ihr vor oder erst nach ihrem Tod abgetrennt?“
„Mit Sicherheit nach ihrem Tod. Es gibt keinerlei Kampfoder Abwehrspuren und niemand lässt sich ohne Gegenwehr einfach die Hände abhacken.
„Und noch eines: Gibt es Hinweise auf eine Vergewaltigung?“
„Nein, das Opfer ist vollkommen bekleidet.“
„Das ist doch schon eine ganze Menge. Vielen Dank erst einmal.“
Der Umgang zwischen Dr. Melchior und Travniczek war viel angenehmer geworden, seit sie sich vor einem guten halben Jahr zum ersten Mal begegnet waren. Denn sie hatten eine gemeinsame Passion entdeckt: das Schachspielen. Seitdem sahen sie sich regelmäßig auch außerhalb des Dienstes, und zwischen ihnen begann allmählich eine Freundschaft zu entstehen.
Travniczek wandte sich ab, atmete einige Male tief durch und suchte dann Breithaupt, den Chef der Spusi. Er fand ihn erst nach einer Weile. Er stand mit dem Rücken an einen Bu-
chenstamm gelehnt, rauchte eine Zigarette und blickte düster vor sich hin, was eigentlich gar nicht zu ihm passte. Als er Travniczek sah, wandte er sich ihm zu und sagte: „Ach, Travniczek, gut, dass Sie kommen. Wenn ich so etwas wie hier noch öfter erlebe, quittiere ich meinen Dienst und wandere nach Alaska aus, Ananas züchten. Die Tote erinnert mich an den Winkelmann, damals bei Ihrem ersten Fall19 hier. Ähnlich zugerichtet. Suchen Sie den Täter unter den Heidelberger Metzgern, da dürfte er am ehesten zu finden sein.“
„Jetzt mal ernsthaft: Was haben wir bis jetzt?“
„Erbärmlich wenig, um nicht zu sagen, eigentlich gar nichts. Der Ehemann hat ganze Arbeit geleistet. Sämtliche möglicherweise vorhanden gewesenen Spuren sind rettungslos zerstört. Ich habe eine Einsatzhundertschaft und eine Hundestaffel angefordert. Die sollen hier die ganze Umgebung umkrempeln. Vielleicht finden die ja etwas, was uns weiterhilft. Die Tatwaffe vor allem, das wäre schön.“
„Halten Sie es für denkbar, dass der Ehemann der Täter ist?“
„Wenn sich hier irgendwo in der Nähe die Tatwaffe findet, dann ja. Die kann er schließlich nicht verschluckt haben.“
Da kam Brombach herbeigelaufen und rief: „Joseph, der Wendlandt will mit dir sprechen. Ich habe gerade versucht, ihm ein paar Fragen zu stellen. Aber er hat wohl mitbekommen, dass mittlerweile der Leiter der Ermittlungen da ist, und da wollte er nur mit dem sprechen.“
„Dem Mann kann geholfen werden“, meinte Travniczek etwas sarkastisch und ließ sich von Brombach zu Wendlandt führen, der immer noch auf dem Baumstamm saß, auf den Martina Lange ihn gesetzt hatte.
„Joseph Travniczek mein Name, ich werde die Ermittlungen in diesem Fall leiten. Darf ich mich zu Ihnen setzen?“
Wendlandt hob leicht den Kopf, schaute ihn kurz aus den rot verweinten Augen an und sagte dann nur ganz leise und kaum verständlich: „Ja, gewiss.“
Travniczek setzte sich und musterte ihn. Ein Riese von Mann, sicherlich fast zwei Meter groß, muskulös und respekt-
einflößend. Sein Gesicht war vom Weinen entstellt. Man konnte kaum erkennen, wie es normalerweise aussah. Travniczek dachte unwillkürlich an einen Bären, der so schwer verletzt war, dass er sich nicht mehr wehren konnte.
Schweigend saßen sie eine Zeitlang da, ehe Travniczek weitersprach: „Lassen Sie mich Ihnen zunächst meine aufrichtige Anteilnahme am Tod Ihrer Frau aussprechen. Nach dem, was ich da oben gesehen habe, muss das entsetzlich für Sie sein.“
Wendlandt nickte wortlos.
„Fühlen Sie sich trotzdem schon in der Lage, mir einige Fragen zu beantworten?“
„Fragen Sie“, war die tonlose Antwort.
„Sie sind der Bildhauer Freimuth Wendlandt?“
„Ja.“
„Und Ihre Frau war die Richterin am hiesigen Landgericht, Angela Wendlandt?“
Er nickte leicht.
„Wie kamen Sie an den Tatort? Waren Sie Zeuge des Verbrechens? … Herr Wendlandt, waren Sie Zeuge des Verbrechens?“
Jetzt erst murmelte er kaum hörbar: „Ohrenzeuge.“
„Wie soll ich das verstehen?“
Wendlandt richtete sich etwas auf, sprach aber mit vielen kleinen Unterbrechungen: „Ich habe es über das Handy gehört.
… Sie rief an, flüsterte etwas von einem Mann mit einem Gewehr. … Sie sagte noch, wo sie war. … Dann fielen zwei Schüsse, … dann war das Handy aus. … Ich bin dann sofort hier heraufgefahren. … … Es war furchtbar.“
„Haben Sie eine Ahnung, was Ihre Frau hier oben wollte?
Wollte sie vielleicht jemanden treffen?“
„Nein … nein, das glaube ich nicht. … Wir wollten heute noch nach Rom fliegen. … … Meine Frau wollte unbedingt den neuen Papst sehen. Wissen Sie, sie war streng katholisch. Es lag ihr sehr daran. … … … Ich kam um drei nach Hause. Sie hätte alles vorbereiten sollen. … Aber sie war nicht da und es war nichts vorbereitet. … … …Dann hat sie angerufen.“
„Eine letzte Frage für jetzt: Haben Sie irgendeine Ahnung oder Vermutung, wer das getan haben könnte?“
Wendlandt überlegte eine Weile, ehe er antwortete: „Ich weiß nicht. Als Richterin tritt man ja schon Leuten auf die Füße. … Sie hatte gerade ein Verfahren gegen jemanden aus der organisierten Kriminalität. … … Da ist noch etwas: In den letzten Wochen gab es Probleme mit einem Stalker. … Ich weiß nicht, was der von ihr wollte.“
„Doch noch eine letzte Frage, dann lasse ich Sie für heute aber wirklich in Ruhe: Haben Sie in der letzten Zeit irgendwelche Veränderungen an Ihrer Frau bemerkt?“
„Ja, … doch, ja. … Es war in der Vorweihnachtszeit. Da kam sie eines Abends nach Hause und war … irgendwie … völlig verstört. Seit der Zeit war sie … ständig müde und auch, wie soll ich sagen, verschlossen. … Ich habe nicht herausgefunden, was eigentlich los ist. … Sie sagte nur, sie sei überarbeitet und bräuchte bald eine Pause. … … Aber das war sicher nicht alles.“ Es fiel ihm bei den letzten Sätzen immer schwerer zu spre-
chen. Der Mann tat Travniczek einfach unendlich leid.
„Dann will ich jetzt nicht weiter in Sie dringen. Wir müssen uns bald noch einmal sehr ausführlich über Ihre Frau unterhalten. Aber das hat noch etwas Zeit. Vielen Dank für Ihre Bereitschaft, jetzt schon auszusagen. Sie haben mir damit sehr geholfen. Eine Frage noch: Wo wollen Sie jetzt hin?“
„Ich … ich werde nach Hause fahren.“
„Haben Sie da jemanden, der sich um Sie kümmert?“
„Nein.“
„Halten Sie das aus, jetzt allein zu sein?“
„Es muss halt irgendwie gehen.“
„So ganz überzeugt mich das nicht. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ich fahre Sie jetzt runter nach Ziegelhausen. Ich kann mich, wenn ich darf, dann gleich etwas in Ihrer Wohnung umsehen. Es ist für mich wichtig, möglichst schnell auch einen Eindruck zu bekommen von der Umgebung, in der Ihre Frau gelebt hat. Und dann können wir sehen, ob Sie es wirklich allein schaffen oder doch Hilfe brauchen.“