Читать книгу Der Engel mit den traurigen Augen - Christoph Wagner - Страница 17
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ОглавлениеFreimuth Wendlandt hatte sich hinten in seinen Wagen gesetzt und Travniczek das Steuer überlassen. Die Fahrt verlief schweigsam bis auf einige kurze Hinweise Wendlandts zur Fahrtroute. Kurz vor acht erreichten sie den Moselgrund 25 a. Als der Hauptkommissar die Autotür zuwarf und auf das Wendlandtsche Anwesen sah, blieb er unwillkürlich voller Bewunderung stehen. Zwischen schlanken, hoch aufragenden Zypressen stand auf einem großen, leicht ansteigenden Grundstück eine Villa, deren großzügige Anlage verriet, wie gefragt Wendlandt als Bildhauer sein musste. Der Bau war zweistöckig mit flachem, grasbewachsenem Dach. In dem nach Westen gerichteten linken Flügel hatte offenbar der Meister sein Atelier, das über beide Stockwerke reichte. Das nach außen leicht aufsteigende Dach ruhte auf sechs schlanken, silberglänzenden Metallstützen. Hinter den reinen Glaswänden sah Travniczek eine größere Zahl verschieden großer Skulpturen. Die wollte er sich auf jeden Fall bald genau ansehen. Der Wohntrakt war gegen Südosten gerichtet und bildete mit dem Atelier einen stumpfen Winkel. Sein ganzes Obergeschoss nahm das sehr große Wohnzimmer ein. Es war nach außen hin nicht durch eigentliche Wände, sondern durch leicht abgedunkelte Glasfronten begrenzt, die einen nahtlosen Übergang zu einer riesigen, um den ganzen Bau führenden Sonnenterrasse zuließen. Im Untergeschoss waren dann die weiteren Wohnund Schlafräume untergebracht.
Dieser Bau strahlt perfekte Harmonie aus, fand der Hauptkommissar, und hat bei aller Großzügigkeit überhaupt nichts Protziges, sondern wirkt wie eine freundliche Einladung zum Wohlfühlen.
Travniczek fragte den Bildhauer: „Haben Sie den Bau selber entworfen? Die Handschrift eines echten Künstlers ist unverkennbar.“
Wendlandt nickte kaum merklich und murmelte vor sich:
„Und jetzt war alles umsonst.“
Er ging voraus und führte den Kommissar über eine breite Treppe ins Obergeschoss. Im Wohnzimmer empfand Travniczek sofort auch die Einrichtung als geschmackvoll, ja wohltuend. Die hellbraunen, zierlichen Rattanmöbel mit fast weißen Stoffbezügen, zwischen denen einige kleine, aber künstlerisch wertvolle italienische Statuetten den Augen Fixpunkte boten, schufen eine Atmosphäre voller Leichtigkeit, die zum Bleiben einlud. Und dass der ganze Raum auf einen gleichfalls hellbraunen Flügel ausgerichtet war, erregte natürlich zusätzlich Interesse und Sympathie des Hobbypianisten Travniczek.
„Nehmen Sie Platz“, sagte der Künstler und wies mit der rechten Hand auf einige Stühle, während er sich selbst gegenüber auf eine Couch setzte. „Haben Sie nochmals vielen Dank, dass Sie mich nach Hause gebracht haben. Ich merke jetzt, wie verwirrt ich noch bin. Es ist gut, jetzt nicht allein zu sein.“
„Keine Ursache“, entgegnete Travniczek freundlich. „Haben Sie jemand, der sich um Sie kümmern kann?“
„Ich muss sehen. Vielleicht mein Bruder, der in Handschuhsheim wohnt.“
„Erlauben Sie, dass ich mich etwas in Ihrer Wohnung umsehe? Natürlich würde mich besonders das Arbeitszimmer Ihrer Frau interessieren.“
„Sehen Sie sich an, was Sie wollen. Ich habe nichts zu verbergen. Aber verzeihen Sie, wenn ich Sie nicht führen kann, dazu fühle ich mich zu schwach. Das Arbeitszimmer meiner Frau liegt im Kellergeschoss, und wenn Sie etwas zu trinken wollen, bedienen Sie sich in der Küche. Fühlen Sie sich einfach wie zu Hause.“
Travniczek dankte und begab sich in das untere Stockwerk. Er öffnete eine Tür. Offenbar ein Kinderzimmer. Es gab also Kinder in dieser Familie und das bedrückte ihn sofort. Wieder einmal so arme Wesen, die in eine Katastrophe hineingezogen werden und nicht wissen, wie ihnen geschieht. Er musste sich zwingen, seine Aufmerksamkeit wieder auf die reine Beobachtung zu lenken. Da fiel ihm in diesem Kinderzimmer besonders auf, was er schon im Wohnzimmer bemerkt hatte. Alles war von vollkommener, penibler Ordnung. Das war hier besonders verwunderlich. Er musste dabei an das Chaos denken, das grundsätzlich in den Zimmern seiner eigenen Kinder geherrscht hatte. Wie hatte Frau Wendlandt es geschafft, die Kinder so zur Ordnung anzuhalten? War das eigentlich noch normal oder schon zwanghaft?
Er sah noch flüchtig in ein zweites Kinderzimmer, das Schlafzimmer, die Küche und das Bad und ging dann ins Kellergeschoss zum Arbeitszimmer von Angela Wendlandt. Natürlich war auch hier alles in völliger Ordnung. Der Raum war sachlich-schlicht eingerichtet. Ein großer dunkelbrauner Schreibtisch, eine Bücherwand, in der viele sauber beschriftete Aktenordner standen und diverse juristische Fachliteratur, und an der Stirnwand als einziger Schmuck eine lebensgroße Reproduktion der Raffaelschen Madonna4.
Er durchsuchte die Schreibtischschubladen und stieß dabei auf einen Terminkalender. Er blätterte ihn sofort durch. Der größte Teil der in gestochener Schrift vorgenommenen Eintragungen waren Gerichtstermine oder Arbeitsbesprechungen. Aber dazwischen fanden sich einige wiederkehrende Kürzel, deren Bedeutung sich nicht unmittelbar erschloss. Von Januar an erschien in unregelmäßigen Abständen bis zu dreimal pro Woche ‚K.‘ und jeden Dienstag und Freitag um 17 Uhr mit nur wenigen Ausnahmen ‚Th.‘.
Aber geradezu verblüffend war der aktuelle Tag. Da stand ‚BH (1)‘ mit der Zeitangabe 13 Uhr 30; danach gab es keinerlei Einträge mehr. Insbesondere fehlte auch ein Hinweis auf die Romreise, von der ihr Mann gesprochen hatte und die ihr so wichtig gewesen sein soll. Was konnte das bedeuten?
Travniczek klappte den Kalender zu und wollte dazu sofort den Ehemann befragen.
Schnell ging er also wieder nach oben und erschrak, als er ins Wohnzimmer trat. Freimuth Wendlandt saß auf der Couch, sein Kopf war nach hinten gefallen und er röchelte. Travniczek
beugte sich zu ihm hinunter und ergriff seinen Kopf mit beiden Händen.
„Herr Wendlandt“, sprach er ihn mit lauter Stimme an, „können Sie mich verstehen?“
Wendlandt öffnete die Augen, sah Travniczek mit glasigem Blick an und sackte dann völlig in sich zusammen. Mit einem Griff an die Halsschlagader überzeugte sich Travniczek, dass er nur bewusstlos war. Allerdings ging der Puls besorgniserregend schwach. Er riss sein Handy aus der Tasche und rief die Zentrale: „Hauptkommissar Travniczek hier, schicken Sie mir sofort einen Notarzt nach Ziegelhausen, Moselgrund 25 a. Kollaps nach schwerem Schock. Ich fürchte das Schlimmste. Also machen Sie Druck!“
Er machte sich Vorwürfe, dass sie Wendlandt nicht sofort, notfalls auch gegen seinen Willen, in die Klinik gebracht hatten. Aber das war jetzt nicht mehr zu ändern. Er hielt die Hand des Bewusstlosen und merkte, dass sein Puls immer schwächer und unregelmäßiger wurde. Da drehte er ihn zur Seite, legte den Kopf auf ein Kissen und hob die Beine auf die Couch. Er bekam furchtbare Angst, dass der Mann ihm hier unter den Händen wegsterben könnte. Sein eigener Puls raste. Da klingelte auch noch das Telefon. Travniczek trat auf den Flur und sah, dass ein Anrufbeantworter geschaltet war. Daher nahm er nicht ab und wartete. Es meldete sich eine Frau, erkennbar in großer Sorge: „Hallo, was ist denn los mit euch? Freimuths Stimme klang vorhin so fürchterlich aufgeregt. Und jetzt haben wir schon x-mal angerufen, auch die Handys. Aber niemand geht ran. Meldet euch bitte! Wir machen uns furchtbare Sorgen.“ Dann Warten. Und schließlich in resigniertem Tonfall:
„Wieder nichts.“ Dann wurde aufgelegt.
Nach dem Klang der Stimme musste das eine ältere Frau gewesen sein, dachte Travniczek. Wahrscheinlich die Mutter von einem der Wendlandts. Vielleicht waren dort ja auch die Kinder.
Zurück im Wohnzimmer prüfte er Wendlandts Puls. Er schien noch schwächer geworden zu sein, aber immerhin, er ging noch. Da erklang von weitem ein Martinshorn. Hoffentlich der Notarzt, dachte Travniczek, ging nach unten und trat vor die Haustür. Und wirklich, wenige Augenblicke später erschien das ersehnte Blaulicht. Notarzt und Ambulanz hielten unmittelbar vor der Haustür.
„Wo ist der Bewusstlose?“, war die Frage der Sanitäter. Travniczek schickte sie in den ersten Stock. Kurze Zeit später wurde eine Trage geholt und Wendlandt in den Krankenwagen geschoben.
„Wohin bringen Sie ihn?“, fragte der Hauptkommissar.
„Chirurgie“, war die kurze Antwort. Die Türen wurden geschlossen und der Wagen raste mit hohem Tempo davon. Langsam ging Travniczek wieder zurück ins Haus, stieg die Treppe hinauf und trat ins Wohnzimmer. Unschlüssig blieb er eine Weile stehen. Dann setzte er sich, einem plötzlichen Impuls folgend, an den Flügel, öffnete ihn und intonierte das erste Präludium aus dem Wohltemperierten Klavier von Bach, eines der wenigen Stücke, die er auswendig konnte. Er spielte ganz langsam und leise und fand dabei allmählich zur Ruhe.
**
Gegen halb neun fuhr Travniczek zurück zum Tatort, stellte den Wagen aber bereits unten an der letzten Weggabelung ab. Er wollte zu Fuß zur Hütte hinaufgehen, um seine Gedanken zu ordnen. Er war sich im Klaren: Mit dem Terminkalender des Opfers hatte er einen ersten ganz wichtigen Baustein für die Aufklärung des Falles gefunden. Die Eintragung ‚BH (1)‘ war mit Sicherheit ein Hinweis auf den Täter. Angela Wendlandt musste mit ihm verabredet gewesen sein. Denn dass sie da oben nur spazieren gegangen war und dann ein Zufallsopfer wurde, konnte er wegen der geplanten Romreise ausschließen.
Völlig mysteriös war die Tatsache, dass im Kalender für die Zukunft jeder Eintrag fehlte. Hatte Angela Wendlandt hier nur tatsächlich stattgefundene Termine festgehalten? Das schien ihm eher unwahrscheinlich. Aber dann musste sie gewusst haben, dass es nach dem 31. Mai für sie keine Termine mehr geben würde, zumindest nicht in der bisherigen Form. Er suchte nach einem passenden Szenario. Hatte sie ihren Mörder selber bestellt? War es im Grunde Selbstmord, als Mord getarnt, um Lebensversicherungszahlungen für die Familie nicht zu verlieren? Aber da machte die grausame Verstümmelung keinen Sinn. Wollte sie aus ihrem bisherigen Leben völlig aussteigen, hat sich dazu mit jemandem getroffen und das ist dann aus irgendwelchen Gründen völlig aus dem Ruder gelaufen?
Hier musste er seine Überlegungen abbrechen, da er am Tatort angekommen war. Es herrschte reges Treiben. Der größte Teil der Einsatzhundertschaft und der Hundestaffel hatte ihre Aufgaben bereits erledigt und wartete bei lautstarken Unterhaltungen auf die Kollegen, die noch unterwegs waren. Schließlich fand er Brombach und Lange im Gespräch mit Breithaupt.
„Hat die Suchaktion etwas gebracht?“, fragte der Hauptkommissar. „Müssen wir sehen“, erwiderte Breithaupt. „Gefunden haben wir eine ganze Menge. Inwieweit die Sachen mit dem Mord tatsächlich in Verbindung stehen, muss die genaue Untersuchung im Labor zeigen. Bei zwei Sachen bin ich mir aber ziemlich sicher. Etwa 500 Meter von hier entfernt hat einer der Suchhunde, die hier Witterung aufgenommen haben, ein Fahrrad aufgestöbert, recht schnittiges Sportmodell. Das lag dort mit Sicherheit noch nicht lange. Und gar nicht weit von hier haben wir ein Handy gefunden. Da hol‘ mich der Teufel, wenn das dort zufällig lag. Dann gab‘s da noch neben einem Eichenstamm mehrere frische Zigarettenkippen. Vom Fundort aus kann man diese Hütte sehen. Vielleicht hat der Täter dort gewartet. Dann haben wir noch eine leere Reisetasche gefunden, und auf einem Trampelpfad, der sicher kaum begangen wird, hat dann noch jemand kurz hintereinander einen Büstenhalter und einen Slip aufgehängt, jeweils in etwa zwei Meter Höhe an einem Ast. Aber da das Opfer bekleidet war, tippe ich hier eher auf Zufall.“
„Zum Handy“, hakte Travniczek ein. „Habt Ihr da schon nach einprogrammierten Nummern, eigener Nummer usw. gesehen?“
„Nein, das geht noch nicht“, wehrte Breithaupt ab. „Wir müssen es erst äußerlich auf Spuren untersuchen.“
„Das sehe ich anders“, entgegnete Travniczek unwirsch.
„Wir können nahezu mit Sicherheit davon ausgehen, dass Opfer und Täter hier oben verabredet waren. Vielleicht bekommen wir über das Handy jetzt einen Hinweis auf den Täter, der viel wesentlicher ist als irgendwelche Mikrospuren auf seinen Tasten.“
„Also, auf Ihre Verantwortung“, meinte Breithaupt muffig. Er konnte es schwer ertragen, wenn ihm jemand widersprach. Er reichte Travniczek das Handy, das in eine Plastiktüte gepackt war. „Aber bitte in der Tüte lassen.“
„Da wäre ich jetzt von selber nicht drauf gekommen. Sie wissen doch, ich bin bei der Polizei“, gab der Hauptkommissar freundlich lächelnd zurück und griff nach der Plastiktüte. Das Handy war eingeschaltet. Er ließ sich die abgegangenen Anrufe anzeigen. Der Letzte ging an eine nicht im Adressbuch gespeicherte Handynummer, Anrufzeit 31. Mai, 10:38 Uhr. Und diese Nummer war in der Zeit davor wiederholt angerufen worden. Auch in der Liste der angenommenen Anrufe fand sich diese Nummer oft.
„Dann rufen wir dort doch gleich einmal an“, brummte er vor sich hin, ohne auf die fragenden Blicke seiner Kollegen zu achten. Zehn Mal ertönte das Freizeichen, dann wurde abgenommen.
„Hallo“, meldete sich eine Stimme, die nach Travniczeks Einschätzung einem jungen Mann gehören musste.
„Mit wem spreche ich?“, fragte der Kommissar und dachte jetzt erst daran, auf Lauthören zu schalten.
„Und mit wem spreche ich?“
„Hauptkommissar Joseph Travniczek, Mordkommission Heidelberg. Und jetzt bitte Ihren Namen!“
„Nicht so aufgeregt, Herr Kommissar, Konstantin … Falter, mein Name. Was kann ich für Sie tun?“
Bei dem Namen dachte Travniczek sofort an das Kürzel ‚K‘ in Angela Wendlandts Terminkalender.
„Ich würde Sie gerne persönlich sprechen. Wo kann ich Sie finden?“
„Und wo sind Sie?“
„Ich sagte doch, Mordkommission Heidelberg.“
„Sie können mich gerne besuchen, aber es wird eine lange Fahrt. Ich bin zurzeit in Kiel.“
Travniczek zögerte eine Weile und fragte dann: „Sagt Ihnen der Name Angela Wendlandt etwas?“
„Hm – Angela Wendlandt? – Nein, hab ich noch nie gehört.“
„Wie kommt es dann, dass Sie in den letzten Tagen wiederholt mit ihr telefoniert haben?“
„Hm – hab ich das? – Hm, dann muss ich das vergessen haben. Wissen Sie, ich habe manchmal Gedächtnisausfälle.“
„Wollen Sie mich veralbern?“
„Ja, sicher.“
Und er fügte in plötzlich sehr aggressivem Ton hinzu: „Jetzt habe ich keine Lust mehr auf diesen Small Talk. Viel Vergnügen bei Ihren weiteren Untersuchungen!“
Aufgelegt.
„Was war denn jetzt das?“, fragte Brombach kopfschüttelnd und Travniczek meinte: „Das wüsste ich auch gern.“