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Langsam und leise knarrend setzte sich der über hundert Jahre alte Wagen der ältesten Standseilbahn Deutschlands an der Talstation Molkenkur* auf den Königstuhl* hinauf in Bewegung. Hauptkommissar Joseph Travniczek, seit einem halben Jahr Leiter der Heidelberger Mordkommission, hatte dieses Wochenende Besuch. Erstmals war sein ältester Sohn Bernhard aus München gekommen, um zu sehen, wie es seinem Vater an seiner neuen Wirkungsstätte ging1.

Er hatte vor zwei Monaten den schriftlichen Teil des Abiturs absolviert – erfolgreich, wie er annahm, obwohl die Noten noch nicht bekannt waren. Nun nahte der mündliche Teil, und er dachte, zur Vorbereitung könnte für ein paar Tage ein Tapetenwechsel ganz gut tun.

Er stand nun mit seinem Vater im untersten Abteil dieses uralten Wagens, der ganz aus Holz zu bestehen schien. Die Talstation entfernte sich allmählich. Die Fahrt führte durch dichten Laubwald, der nur in einer schmalen Schneise den Blick auf einen kleinen Ausschnitt von Heidelberg zuließ. Da sah man erst nur auf den Südhang des Heiligenbergs mit den Villen am Philosophenweg und dem Bismarckturm. In der nachfolgenden Kurve verschob sich dann der Blick nach Westen auf den in der Sonne glitzernden Neckar mit der Ernst-Walz-Brücke und dem Wieblinger Wehrsteg sowie Teile des Neuenheimer Felds.

„Kann man diesem knarrenden Ungetüm eigentlich vertrauen?“, fragte Bernhard nach kurzer Fahrtstrecke.

„Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen“, entgegnete sein Vater. „Das Ding verkehrt jetzt schon seit über hundert Jahren und es ist noch nie etwas passiert. Damit ist es wohl eines der sichersten Verkehrsmittel der Welt.“

„Na, dann will ich das mal glauben“, antwortete Bernhard und schoss einige Fotos von der Strecke. Er hatte eine sehr anspruchsvolle Fotoausrüstung, denn die Fotografie war eines

seiner Hobbys. Dann wurde das Rattern plötzlich stärker und er sah seinen Vater etwas verunsichert an. Doch der winkte ab. Alles hatte seine Richtigkeit. Der Wagen bog etwas links ein, in die Ausweiche, wo er den entgegenkommenden Wagen passieren lassen konnte.

„Und was passiert, wenn die sich mal außerhalb dieser Ausweiche treffen?“

„Das ist technisch nicht möglich. Das Drahtseil hat eine feste Länge und ist so bemessen, dass sich die beiden Wagen genau in der Mitte der Strecke treffen müssen.“

„Da bin ich aber beruhigt“, antwortete Bernhard lachend.

„Aber ganz allgemein, wenn ich dich so reden höre, auch vorhin, als wir am Schloss waren: Du hast ganz schön Feuer gefangen für diese Stadt.“

Der Vater schmunzelte. „Das ist sicher richtig. Es war schon so etwas wie Liebe auf den ersten Blick. Es war ganz merkwürdig. Noch keine Stunde war ich in Heidelberg im Dienst, da kam die Meldung von einem Mordfall, für dessen Ermittlungen ich sofort zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten von Heidelberg musste. Und dann hatte ich noch das Glück, dass mein Mitarbeiter, der Brombach, Heidelberg wohl sehr gut kennt und es außerdem sehr gerne zeigt. Er hätte auch Fremdenführer werden können. Und da hat es gleich gefunkt. Der Fall, um den es da ging, war einer von der brutalsten Sorte. Er wäre ohne das Kontrastprogramm ‚Stadt Heidelberg‘ noch schwerer erträglich gewesen.“

„Kannst du es auf eine kurze Formel bringen, was dich an dieser Stadt so beeindruckt?“

Der Senior überlegte eine Weile. „Ich denke schon. Es sind wohl zwei Dinge: Da ist natürlich diese einmalige Lage in dem sich allmählich öffnenden Neckartal aus dem Odenwald in die Rheinebene hinaus. Dazu ein Klima – wir sind hier in einer der wärmsten Gegenden Deutschlands – das der Stadt ein geradezu mediterranes Flair verleiht. Es ist kein Wunder, dass sie durch die Jahrhunderte hindurch von vielen Dichtern2 als eine der schönsten deutschen Städte besungen wurde.

Aber nach dem Zweiten Weltkrieg kam noch etwas ganz Wesentliches hinzu. Die deutschen Großstädte wurden ja nahezu alle zerstört. Beim Wiederaufbau ist es in vielen Fällen nicht gelungen, die Seele der Städte wieder zu beleben, wenn ich es etwas pathetisch ausdrücken darf. Aber für Heidelberg gilt das genaue Gegenteil. Hier ist fast keine Bombe gefallen. Die Stadt hat zwar auch ihre große Zerstörung erlebt. Aber das war 1689, also vor weit mehr als dreihundert Jahren. Seitdem konnte sie kontinuierlich wachsen. Und man fühlt sich hier schnell als Teil dieses großen Wachstumsprozesses … und wird von ihm auch ein Stück weit getragen.

Ich kann das auch noch auf eine ganz kurze Formel bringen: In Heidelberg kannst du sehen, was aus unsrem Land hätte werden können, wenn man Hitler nie hätte an die Macht kommen lassen.“

Ihr Gespräch wurde unterbrochen, denn der Wagen verlangsamte seine Fahrt und fuhr in die Bergstation am Königstuhl ein. Sie mussten auf der rechten Seite aussteigen, gingen einige Stufen aufwärts und verließen linker Hand die Station. Der Blick auf den in der Rheinebene gelegenen Teil von Heidelberg wurde frei.

„Wir haben Glück“, schwärmte Travniczek. „Die Sicht ist hervorragend.“

Sein Sohn hatte bereits wieder die Fotokamera am Auge und schoss gleich eine Reihe Bilder, bevor er eigentlich genau wusste, was er da fotografierte. Sein Vater beobachtete ihn wohlwollend lächelnd und sagte erst einmal nichts. Erst als Bernhard die Kamera sinken ließ und eine Weile zu brauchen schien, um ein neues, lohnendes Motiv zu finden, meinte er lachend: „Wenn man dich so sieht, könnte man meinen, du seist ein japanischer Tourist. Die fotografieren auch sofort alles, was ihnen vor die Linse kommt. Aber vielleicht interessiert es dich ja zu erfahren, was du da alles gerade aufgenommen hast.“

„Da hast du sicher recht“, antwortete sein Sohn etwas verlegen. „Aber es ist einfach so: Wenn ich etwas Tolles sehe,

greif‘ ich ganz automatisch zur Kamera. Ich denke da gar nicht mehr nach.“

„Also, das hat mich mein Job gelehrt: Handeln, ohne vorher zu denken, kann problematisch werden. Aber lassen wir das. Erziehen hätte ich dich früher müssen.“

Er hielt einen Augenblick inne und ein Schatten schien über sein Gesicht zu huschen. Dann begann er zu erklären: „Dort drüben rechts siehst du gerade noch hinter den Bäumen den Westhang vom Heiligenberg … und von dort ein Stück weit in die Ebene hinaus die vielen modernen Gebäudekomplexe. Das ist das sogenannte Neuenheimer Feld. Das gehört fast alles zur Universität. Besonders viel Raum nimmt dabei das Universitätsklinikum ein. Und den ganzen Horizont entlang siehst du eine Bergkette. Die sieht man nur selten, da sie meistens im Dunst der Rheinebene verborgen ist. Das ist der Pfälzer Wald, die westliche Begrenzung der Rheinebene. Und siehst du da in der Mitte den hohen Berg mit dem Turm oben drauf? Das ist der Kalmit, der höchste Berg im Pfälzer Wald, deutlich über 600 Meter hoch. Etwas tiefer siehst du einen Straßenzug direkt auf uns zu laufen. Am Ende dieser Straße kann man heute ganz gut einen großen Gebäudekomplex erkennen. Das ist das Schloss von Schwetzingen, vor allem wegen seines Schlossgartens weltberühmt. Sein Haupteingang liegt genau in der Verbindungslinie von Kalmit und Königstuhl.“

Bernhard setzte sein größtes Teleobjektiv mit einer Brennweite von 1:1300 auf seine Kamera und benutzte es zunächst als Fernglas, bis er natürlich auch wieder eine Reihe Fotos machte.

„Sieht interessant aus, können wir da mal hin?“

„Sicher“, antwortete der Vater, „ich war zwar selber noch nicht da, kann also nicht den Fremdenführer geben, aber das schadet ja auch nichts. Ich wollte mir das schon immer mal ansehen. Aber jetzt sollten wir uns erst einmal stärken und einen Kaffee im Restaurant dort drüben nehmen.“

Als sie hinkamen, fanden sie das Restaurant geschlossen mit dem Hinweis, dass es in Kürze grundsaniert würde. Mit der

Wiedereröffnung sei in etwa einem Jahr zu rechnen. Aber vor dem Haus waren einige Tische mit Stühlen aufgestellt, und gewissermaßen als eine Art Notversorgung konnte man an einer Selbstbedienungstheke Getränke und auch einige Speisen bekommen. Sie ließen sich also die Laune nicht verderben, holten Kaffee, Apfelund Käsekuchen, setzten sich auf zwei etwas wackelige Stühle und wollten es sich richtig gutgehen lassen. Da klingelte Travniczeks Handy.

„O nein, bitte nicht heute!“, sagte er erschrocken und nahm das Gespräch zögernd an. Bereits nach wenigen Augenblicken verfinsterte sich sein Gesicht. Er hörte eine Weile zu, dann stellte er einige kurze Fragen: „Wann genau? – – Und wo ist das? – – O. k., ich versuche, so schnell wie möglich da zu sein. Es wird eine Weile dauern, ich bin auswärts unterwegs. Ciao.“

Er steckte sein Handy ein und sah missmutig auf seinen Kuchen. „Mist, verdammter!“, fluchte er, „grausam verstümmelte Frauenleiche irgendwo im Wald hinter Ziegelhausen. Muss gerade erst passiert sein. Hoffentlich geht dabei nicht das ganze Wochenende drauf. Jetzt muss ich natürlich sofort hin. Das verstehst du doch?“

„Ja, ja“, antwortete sein Sohn etwas sarkastisch, „ich bin ja nichts anderes gewohnt.“

„Tja, das ist eben mein Leben“, entgegnete der Vater resigniert. „Aber, die Frau ist tot, ihr kann ich sowieso nicht mehr helfen. Unseren Kuchen essen wir hier noch ganz in Ruhe auf. So lange muss die Leiche warten.“

Langsam und schweigend aßen sie und tranken ihren Kaffee. Es wollte kein Gespräch mehr entstehen. Und irgendwie schmeckte es nicht richtig. Als Teller und Tassen leer waren, erhob sich der Hauptkommissar und meinte betrübt: „Also, dann muss ich mich jetzt auf den Weg machen. Hoffentlich geht die nächste Bergbahn bald. Und du machst dir noch einen schönen Tag. Wir sehen uns heute Abend. Hoffentlich nicht zu spät.“

Er drehte sich abrupt um, ohne noch einmal zurückzuschauen. In der Station stieg er in die bereitstehende Bergbahn,

die sich kurze Zeit später in Bewegung setzte. Er ertrug die gemächliche Fahrt nur noch schwer und war froh, als er am Parkhaus Kornmarkt in sein Auto steigen konnte.

Gerade wollte er losfahren, da klingelte sein Handy. Es war Bernhard.

„Papa“, sagte er etwas aufgeregt, „du hast noch mein Gepäck im Auto. Ich weiß doch gar nicht genau, wo du wohnst. Wir sind ja vorhin direkt vom Bahnhof zum Schloss hochgefahren. Und einen Schlüssel für deine Wohnung habe ich auch noch nicht.“

Travniczek schluckte. Wie konnte er so unaufmerksam sein und seinen Sohn so im Stich lassen?

„Für die Bergbahn hast du ja die Rückfahrkarte. Dann komm jetzt so schnell wie möglich runter. Ich muss hier eben so lange warten. Ich gebe dir dann dein Gepäck, einen Hausschlüssel und spendiere dir ein Taxi zu mir nach Hause.“

„Schade, ich wäre gerne noch etwas hier oben geblieben“, antwortete Bernhard mit vorwurfsvollem Unterton. „Aber dann muss es eben so sein.“

Er legte auf.

Travniczek rief seine Kollegin Martina Lange an, sein Eintreffen am Tatort werde sich weiter verzögern, er sei aufgehalten worden. Dann verließ er mit dem Gepäck seines Sohnes wieder seinen Wagen und ging zurück an die Bergbahnstation. Die Wartezeit schien endlos. Als Bernhard nach einer knappen halben Stunde endlich aus der Bergbahn stieg, übergab er ihm sein Gepäck, den Hausschlüssel und bestellte ein Taxi. Dann wollte er ihn noch mit Geld ausstatten, bemerkte aber, dass er selbst auch nicht mehr viel bei sich hatte. So gab er ihm seine EC-Karte und verriet ihm die Geheimzahl. Er war froh, als das Taxi endlich kam. Langsam ging er zurück zu seinem Auto. Seine Gedanken kreisten in der Vergangenheit. Er musste sich eingestehen, dass ihm die letzte Stunde exemplarisch vor Augen geführt hatte, warum seine Familie in München zerbrochen war. Es war wohl doch seine Schuld.

Der Engel mit den traurigen Augen

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