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Brombach und Martina Lange hatten die schwierige Aufgabe übernommen, die Eltern des Opfers zu verständigen. Travniczek hatte deren Adresse im Terminkalender von Angela Wendlandt gefunden. Er selbst wollte, wenn das schon möglich wäre, Freimuth Wendlandt befragen. Andernfalls gedachte er noch einmal in die Villa Wendlandt zu gehen, um nach weiteren Hinweisen zu suchen.

Lange hatte ihren Wagen vor ihrer Haustür in Ziegelhausen abgestellt, und gemeinsam waren sie dann mit Brombachs Porsche weitergefahren. Es kam kein Gespräch auf, obwohl beide mit ganz ähnlichen Gedanken beschäftigt waren. Sie wussten, was jetzt auf sie zukam. Wieder einmal mussten sie Menschen eine Nachricht überbringen, die deren Welt zusammenbrechen ließ. Diese Menschen hatten nichts verbrochen. Sie wollten nur in Ruhe leben und taten vielleicht auch viel Gutes. Und wieder könnten sie ihnen keinen Trost spenden, sondern müssten sie zusätzlich mit Fragen belasten, die diese Menschen jetzt am allerwenigsten interessierten. Sie würden das wie immer begründen mit der Floskel, sie wollten ja alles tun, um den oder die, die das getan hätten, einer gerechten Strafe zuzuführen. Bei so einem Einsatz wurden sie immer wieder zurückgeworfen auf die existentielle Grundfrage: warum?

Warum ist die Welt so eingerichtet, dass immer wieder solche himmelschreienden Ungerechtigkeiten passieren, dass immer wieder Menschen das Leben eines Mitmenschen auslöschen und dabei noch weitere Leben schwerstens beschädigen? Kann man noch vom Menschen als der Krone der Schöpfung sprechen, wenn man das Bild der verstümmelten Leiche vom Nachmittag im Kopf hat?

Solche und ähnliche Gedanken gingen den beiden durch den Kopf, als sie nach Waldhilsbach zu den Eltern der Ermordeten unterwegs waren. Von Kleingemünd* aus überquerten sie auf der Friedensbrücke den Neckar, passierten westlich die Altstadt von Neckargemünd* und fuhren weiter nach Süden in das Elsenztal* Richtung Bammental*. Nach etwa zwei Kilometern ließen sie die wenigen Häuser des Weilers Kriegsmühle links liegen und bogen kurz danach rechts ab, unter der Bahnstrecke hindurch, und erreichten auf ansteigender Straße bald das kleine, beschauliche Waldhilsbach*. Das Navi führte sie quer durch den Ort, dessen Straßenführungen zeigten, dass er langsam und zufällig gewachsen war, bis sie am nördlichen Ende in der Straße mit dem idyllischen Namen ‚Im Biengarten‘ ankamen. Im letzten Haus, bevor die Straße zum Waldweg wurde, wohnten die alten Ricardis. Sie verharrten noch einige Augenblicke im Wagen, ohne sich anzusehen. Dann sagte Brombach tonlos: „Bringen wir’s hinter uns“, und sie stiegen aus. Vor ihnen stand in einem liebevoll angelegten Garten ein bescheidenes Einfamilienhaus.

Es war kurz vor halb zehn. Martina Lange öffnete die Gartenpforte, und über einen natursteingepflasterten Weg, der von mannigfaltigen bunten Blumen gesäumt war, erreichten sie die Haustür. Sie läuteten, und sofort schlug ein Hund an, nach seinem Bellen zu urteilen, ein ziemlich kleiner. Es dauerte eine gewisse Zeit, bis sich die Tür einen Spalt öffnete und eine alte Frau mit ergrauten, dauergewellten Haaren und einer starken Brille erschien. Zu ihren Füßen versuchte ein wütend bellender weißer Spitz nach draußen zu gelangen, um die frechen Eindringlinge zu vertreiben. Erst der laute und sehr aufgeregt klingende Ruf von Frauchen, „Erasmus, aus!“, brachte ihn dazu, sich zu trollen.

„Guten Abend, Martina Lange, Kripo Heidelberg, mein Kollege Michael Brombach. Wir müssten mit Ihnen sprechen. Dürfen wir hereinkommen?“

„O Gott im Himmel, jetzt kommt die Kriminalpolizei! Ist was mit unserer Tochter?“

„Können wir das drinnen besprechen?“, antwortete die Kommissarin. Sie merkte, dass die Ricardis offenbar schon seit geraumer Zeit in heller Aufregung waren, und warf Brombach einen vielsagenden Blick zu.

„Ja, natürlich“, antwortete Frau Ricardi beflissen, und in die Wohnung hinein rief sie: „Scipio, komm bitte, die Kriminalpolizei ist da!“

Dann führte sie die Polizisten in eine geräumige, ganz in geöltem Kiefernholz gehaltene Wohnküche und forderte sie auf, Platz zu nehmen. Wenige Augenblicke später kam ein kleiner weißhaariger Mann mit Spitzbart und hellen, freundlichen Augen herein, gefolgt von zwei Kindern, einem Mädchen von vielleicht elf Jahren mit selbstbewussten, dunklen Augen und langen schwarzen Haaren, die zu einem Pferdeschwanz gebunden waren, und einem sehr viel jüngeren Blondschopf, der sich schüchtern hinter seiner großen Schwester hielt.

Brombach erschrak, als er die Kinder sah, weil das natürlich ihre Mission noch viel schwieriger machte. „Können wir mit Ihnen alleine sprechen?“, fragte er die alten Leute.

Da stampfte das Mädchen mit dem Fuß auf und fuhr den Kommissar schnippisch an: „Nein, ich will auch wissen, was mit Mama los ist!“

Frau Ricardi wollte etwas sagen, aber Martina Lange kam ihr zuvor. Sie wandte sich an das Mädchen: „Ich bin die Martina, und wie heißt du?“

„Angelina“, antwortete das Mädchen, in dem sich schon ganz sachte andeutete, was für eine schöne Frau einmal aus ihr werden würde.

„Und wer bist du?“, fragte sie den Jungen, der sich kaum hinter seiner Schwester hervortraute.

„Rafael“, kam die ganz leise Antwort.

„Und ihr seid die Kinder von Freimuth und Angela Wendlandt?“, fragte Martina Lange ganz ruhig weiter.

„Ja.“

„Angelina, dann tust du mir jetzt bitte einen Gefallen. Geh mal mit deinem Bruder in euer Zimmer und spiel mit ihm etwas. Wir werden erst mit Oma und Opa sprechen, das kann eine Weile dauern. Aber später werde ich dann auch euch beiden genau erklären, was wir zu berichten haben. Glaub mir, es ist besser so.“

Angelina wollte zunächst widersprechen. Doch dann sah sie das sehr ernste, aber freundliche Gesicht der Kommissarin und besann sich anders. Das hochsensible Kind spürte hier wohl bereits, was die Polizisten zu sagen hatten.

„Rafael, komm!“ Die beiden Kinder liefen die Treppe im Flur nach oben und verschwanden hinter einer Tür.

„Dann setzen wir uns doch“, meinte Scipio Ricardi, offensichtlich bemüht, seine Frau etwas zu beruhigen. Aber das gelang nicht.

„Wissen Sie“, sprach sie die Polizisten an, „am frühen Nachmittag hat unser Schwiegersohn angerufen. Aber wir waren unterwegs. Und da hat er sehr aufgeregt auf den Anrufbeantworter gesprochen, wir sollen so bald wie möglich zurückrufen. Wir haben uns gleich Sorgen gemacht, weil wir dachten, es muss etwas passiert sein. Denn er hätte ja schon unterwegs nach Frankfurt sein müssen. Sie wollten ja übers Wochenende nach Rom fliegen. Deshalb sind ja die Kinder bei uns. Und wir haben dann x-mal angerufen, zu Hause, auf seinem und auf Angelas Handy. Aber niemand ging ran … und jetzt sind Sie da!“ Bei den letzten Worten fing sie an zu weinen.

„Ich habe schon die Polizei angerufen“, ergriff Scipio Ricardi das Wort. „Aber die haben uns gesagt, wir sollen uns nicht zu viele Sorgen machen, das stellt sich sicher alles als ganz harmlos heraus. Das hat uns natürlich nicht wirklich beruhigt. Und wenn Sie jetzt nicht gekommen wären, hätte ich mich sehr bald auf den Weg zu unserer Tochter gemacht, um zu sehen, was da los ist. Und Sie kommen doch sicher wegen unserer Tochter?“

„Ja“, übernahm jetzt Brombach das Wort.

„Was ist denn geschehen? Doch nichts wirklich Schlimmes?“, fragte Frau Ricardi mit tränenerfülltem Blick. Plötzlich merkte Brombach, wie sich in seinem Inneren das Bild dieser beiden alten lieben Leute mit dem der verstümmelten Leiche ihrer Tochter überlagerte. Er blickte hilfesuchend zu seiner Kollegin, die aber starr vor sich auf den Tisch stierte und seine Not nicht wahrnahm oder wahrnehmen wollte. Er musste seine ganze Konzentration zusammennehmen, um den aufsteigenden Würgereiz zu unterdrücken, und sprach dann mit einer Stimme, die so fatalistisch resigniert klang, dass Martina Lange zutiefst erschrak. So hatte sie ihn noch nie gehört:

„Schlimm? Mehr als das. Sie müssen jetzt versuchen, sehr stark zu sein. Ihre Tochter ist – tot.“

Die beiden alten Leute brauchten eine Weile, um zu realisieren, was Brombach gerade gesagt hatte. Scipio Ricardi fasste sich zuerst und fragte: „Was ist passiert? Ein Unfall?“

Nun griff Martina Lange ein, die gemerkt hatte, wie überfordert Brombach war. „Leider nein. Es ist noch schlimmer. Jemand hat sie getötet.“

Jetzt stand Frau Ricardi langsam auf. Sie zitterte am ganzen Körper. Sie wandte sich zum Küchenschrank, stützte ihre Hände auf die Anrichte und schrie plötzlich ganz laut: „Nein – nein – das kann nicht sein! – Warum Angela? – Warum? – Sie war doch ein Engel – unser Engel – unser Engelchen!“

Ihre Sprache wurde unverständlich und ging über in lautes Schluchzen. Ihr Mann erhob sich, selbst kreidebleich im Gesicht, trat langsam neben seine Frau und legte ihr sachte den Arm um die Schulter.

Da stand plötzlich Angelina in der Küchentür und rief:

„Oma, warum schreist du so, was ist los? Ist Mama tot?“

Die Kommissarin sprang auf, fasste das Kind mit sanfter Gewalt um die Schulter und zog es aus der Küche. Hinter der Tür wartete Rafael, der bereits zu weinen angefangen hatte. Sie sah vor sich die leicht geöffnete Wohnzimmertür, schob die beiden Kinder hindurch und zog die Tür hinter sich zu. Michael musste jetzt mit den beiden alten Leuten alleine klarkommen, dachte sie und setzte sich mit den Kindern auf ein rotes, mit vielen Kissen drapiertes Plüschsofa. Sie hielt in beiden Armen je eines der Kinder und wandte sich langsam Angelina zu. Die sah ihr mit ernsten, sehr erwachsen wirkenden Augen wissend ins Gesicht.

„Mama ist tot, das stimmt doch?“

Ihre Sprachmelodie verriet nicht, ob sie Fragen stellte oder sich bereits mit dem Unabänderlichen abgefunden hatte. Martina nickte wortlos. Da sagte das Mädchen ganz leise flüsternd, als ob es Angst hätte, dass ihr kleiner Bruder sie verstehen könnte: „Ich wusste es, bereits heute Nachmittag, als ich gemerkt habe, dass etwas Schlimmes passiert ist. Oma und Opa haben zwar versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Aber das können die nicht.“

„Und woher wusstest du das?“

„Ich habe geträumt, dreimal, dass Mama weggegangen ist und nicht mehr wiederkommt. Und das letzte Mal war es schön. Statt Mama kam jemand anderes, es war ganz merkwürdig, irgendwie auch gruselig. Ich glaube, es war ein Geist – oder ein Engel. Aber gerade, als er etwas sagen wollte, hat Mama mich geweckt, ich musste zur Schule. Ich war furchtbar zornig, dass ich nicht mehr hören konnte, was der Engel mir sagen wollte.“

„Das war sicher schade“, sagte da Martina gerührt und merkte, wie sich das Mädchen entspannte und sacht den Kopf an ihre Schulter lehnte. Da begann Rafael plötzlich mit weinerlicher Stimme: „Mama hat gesagt, wenn man tot ist, kommt man in den Himmel, und dann wird man ein Engel. Also ist es gar nicht schlimm, tot zu sein. Wie ist das, wenn man ein Engel ist?“

„Ich weiß es nicht. Ich war noch keiner“, meinte Martina nachdenklich. Eine Weile sagte keiner etwas. Inzwischen war es fast dunkel geworden. Da unterbrach plötzlich Rafael die Stille: „Aber der Pfarrer hat auch gesagt, man kommt nur in den Himmel, wenn man immer brav war. Böse Menschen kommen in die Hölle. Dort brennt ein ganz heißes Feuer. Und dort ist der Teufel!“

„War Mama immer brav?“, fragte da Angelina angstvoll.

„Das glaube ich schon“, entgegnete Martina. „Sonst hätte sie nicht so liebe Kinder.“

Die beiden kuschelten sich eng an sie und es erstaunte sie, wie gefasst die Kinder waren. Da erst fragte Angelina: „Aber was ist eigentlich passiert? Warum ist Mama tot?“

„Genau wissen wir das noch nicht“, antwortete die Kommissarin. „Irgendein böser Mensch hat sie getötet.“

„Aber der kommt in die Hölle!“, sagte Rafael bestimmt.

„Sicher“, antwortete Martina und merkte, wie sie die beiden um ihren einfachen Kinderglauben beneidete. Sie horchte nach nebenan in die Küche. Es war Michael offenbar gelungen, die alten Leute fürs Erste zu beruhigen. Da fragte sie Angelina:

„Kann ich dich jetzt mit Rafael allein lassen? Ich muss wieder zu Oma und Opa.“

Das Mädchen blickte eine Weile vor sich hin und antwortete dann erstaunlich gefasst: „Das schaff‘ ich schon. Wir gehen jetzt nach oben. Und damit Rafael nicht zu traurig wird, darf er zu mir ins Bett kommen.“ Sie ging mit den Kindern auf den Flur und sah ihnen mitfühlend nach, wie sie oben in ihrem Zimmer verschwanden. Dann öffnete sie die Küchentür und sah die Ricardis mit Brombach im Gespräch um den Küchentisch sitzen.

„Was ist mit den Kindern?“, fragte die Oma sofort.

„Sie haben großartige Enkel“, entgegnete Martina Lange.

„Ich glaube, die ertragen das Geschehen besser als wir Erwachsenen. Wie ist es bei Ihnen?“

Brombach antwortete: „Herr und Frau Ricardi waren so freundlich, mir trotz der schweren Lage schon einige Fragen zu beantworten, und ich denke, wir sollten sie jetzt in Ruhe lassen. Ich erzähle dir danach das Wichtigste.“

„Können wir Sie denn allein lassen?“, fragte Martina Lange. „Wenn Sie wollen, können wir Ihnen jemand schicken, der oder die heute Nacht bei Ihnen bleibt und weiß, wie man in solchen Krisensituationen helfen kann.“

Frau Ricardi wollte davon erst gar nichts wissen, aber ihr Mann meinte: „Isabella, ich glaube, wir sollten uns nicht scheuen, dieses Angebot anzunehmen. Wer weiß, wie die Kinder die Nacht überstehen. Ich kann das vielleicht auch nicht aushalten.“

Ohne weitere Worte abzuwarten, ging Martina Lange auf den Flur und rief beim Kriseninterventionsteam an. Sie bekam die Zusage, dass in spätestens einer Stunde jemand vorbeikäme. Das sagte sie den Ricardis und sie verabschiedeten sich schnell.

Erleichtert, diesen schwierigen Gang einigermaßen überstanden zu haben, stiegen sie in Brombachs Porsche. Keiner von beiden schien reden zu wollen. In Neckargemünd bog Brombach plötzlich rechts in die Altstadt ab.

„Dort vorne kenne ich eine gute Pizzeria. Ich habe seit zehn Stunden nichts mehr gegessen und außerdem – ich kann jetzt noch nicht allein sein.“

Die Kollegin sah ihn dankbar an. „Mir geht es ähnlich. Lass uns dort reingehen.“

Brombach parkte. Es war schwülwarm. Wahrscheinlich würde es später in der Nacht noch ein Gewitter geben. Sie gingen einige Schritte weiter bis zum „Ristorante Roma“ und stiegen über eine Steintreppe zur Terrasse hinauf, wo noch viele Gäste beim Essen saßen. Sie beschlossen, auch draußen zu bleiben und fanden einen Platz, von dem aus sie auf die Straße vor dem Restaurant hinuntersehen konnten. Schnell kam ein Kellner, entzündete die Kerze auf ihrem Tisch und fragte nach ihren Wünschen. Sie bestellten Pizza und einen halben Liter Chianti. Eine Weile saßen sie einander gegenüber, ohne zu sprechen, beide mit ihren Gedanken beschäftigt, bis Martina plötzlich fragte: „Wie ging das denn mit den alten Ricardis weiter, während ich bei den Kindern war?“

Michael war froh, dass Martina ein Gespräch begonnen hatte.

„Ich war schon erstaunt, wie schnell sich die beiden alten Leute dann doch gefangen haben. Anfangs dachte ich, dass wir zumindest sie in die Klinik bringen müssten. Aber dann schien es ihnen gut zu tun, von ihrer Tochter zu erzählen. Sie war wohl ein ganz besonderes Wunschkind: Zwölf Jahre hatten sie auf sie warten müssen. Dann war von der Geburt bis zum juristischen Doktor summa cum laude alles eitel Sonnenschein. Streng katholisch ist sie aufgewachsen und hat sich als Kind wohl in eine von Feen und Engeln bevölkerte Fantasiewelt hineingeträumt.“

„Glaubst du das?“, unterbrach ihn Martina. „Bei solchen vollkommen positiven Schilderungen gehen bei mir sofort alle Warnlampen an.“

„Nun ja, sicher ist da auch das ein oder andere Problem unter den Tisch gefallen. Aber es ging nicht so weiter. Kurz nach dem Doktorexamen gab es wohl einen Bruch. Ihre Tochter sei plötzlich völlig verstört gewesen und dann von einem Tag auf den anderen spurlos verschwunden. Einige Wochen später kam eine Ansichtskarte aus Paris, mit dem Hinweis, sie müsste mal aus allem raus und hätte eine Weltreise begonnen. Alle paar Wochen kamen dann weitere Karten aus den verschiedensten Metropolen der Welt. Und nach einem Jahr war sie plötzlich wieder da, ohne ihr Kommen anzukündigen. Sie hat sich beharrlich geweigert, irgendetwas von dieser Reise zu erzählen.

Sie hat sich dann mit voller Energie in den Richterberuf gestürzt, ist schneller als die meisten Kollegen die Karriereleiter hinaufgeklettert. Aber die Eltern fürchteten schon, sie würde ledig bleiben, nachdem von einem langjährigen festen Freund nach der Reise keine Rede mehr war. Nach fünf Jahren hat sie dann diesen Wendlandt kennengelernt und bald geheiratet. Und dann war wohl wieder alles eitel Sonnenschein. Ich habe die Altchen natürlich auch gefragt, ob sie irgendeine Idee hätten, warum jemand ihre Tochter umbringen wollte. Da konnten sie sich zunächst gar nichts vorstellen. Doch er berichtete dann, vor etwa einem halben Jahr hätte sie sich plötzlich verändert. Sie klagte über Müdigkeit und war oft schlechtgelaunt, so dass sich die Kinder schon bei den Großeltern beschwert hätten. Die konnten keinen Grund für diese plötzliche Wesensänderung erkennen. Ihre Tochter sagte nur, sie sei überarbeitet und müsse dringend eine längere Auszeit nehmen. Aber der alte Ricardi war sicher, dass das allein nicht der Grund für ihr Verhalten gewesen sein konnte. Was immer dahinter stecken mag, ich denke, das sind erste Ansatzpunkte für unsere Ermittlungen.“

Inzwischen hatte der Kellner die Pizzen serviert und sie bestellten noch eine zweite Karaffe Chianti. Ihr Gespräch löste sich allmählich vom aktuellen Fall. Martina erzählte ausführlich und begeistert von ihrem gerade erst vergangenen Urlaub auf den Philippinen, wo sie auf vielen Tauchgängen Fantastisches erlebt hatte. Michael berichtete von einer Mittelmeerkreuzfahrt, wo er zwar unglaublich viel Neues und Hochinteressantes gesehen hatte, wo es ihm aber auch immer wieder viel zu eng geworden war, weshalb er in Zukunft von solchen Unternehmungen Abstand nehmen wollte.

Später kamen sie auf aktuelle politische Ereignisse zu sprechen, die Absurditäten der Eurorettung, die nicht richtig funktionierende Energiewende, und blieben lange bei der Situation im Nahen Osten, dem unlösbaren Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern, dem Arabischen Frühling und nicht zuletzt den Schrecken des Bürgerkrieges in Syrien.

Irgendwann waren sie beim neuen Papst gelandet und der Frage, welche Hoffnungen man tatsächlich in ihn setzen konnte. Sie empörten sich gemeinsam über eine doppelbödige kirchliche Sexualmoral, die vergewaltigte Frauen zwingen will, Schwangerschaften durchzustehen, aber Missbrauchsvorwürfe gegen Geistliche eher herunterzuspielen versucht und sich bei Entschädigungen für Opfer knauserig zeigt. Hier streifte Martina noch einmal ihren Besuch bei den Ricardis. Beeindruckt erzählte sie davon, wie die wohl streng katholische Erziehung den Kindern einen sicheren und einfachen Glauben vermittelt hatte, der ihnen jetzt half, den Tod ihrer Mutter zu verkraften.

Während die vierte Halbliterkaraffe Chianti langsam, aber sicher zur Neige ging, gaben sie sich dem immer wiederkehrenden Blues ihres Kriminalistenlebens hin, einem Leben, das zwar äußerst spannende Herausforderungen bot, aber auch sehr einsam machte, weil es zu wenig Privatleben zuließ.

Als dann der Chef des Hauses zu ihnen an den Tisch kam und sie freundlich bat zu zahlen, da er jetzt doch endlich schließen wollte, stellten sie verblüfft fest, dass es bereits nach eins war und sie wohl schon seit geraumer Zeit allein auf der Terrasse saßen. Es kam noch zu einem kleinen Disput, weil Michael unbedingt die komplette Rechnung übernehmen wollte, was Martina strikt ablehnte. Als sie sich dann erhoben, fühlten sie sich etwas unsicher auf den Beinen. Die vier Karaffen Chianti hatten ihre Wirkung nicht verfehlt.

Michael maß dem keine weitere Bedeutung zu und wollte unbedingt ins Auto steigen, Martina nach Hause bringen und dann noch zu seiner Wohnung in die Weststadt fahren. Sie musste ihre ganze Überzeugungskraft aufbieten, damit er einsah, dass ein Kriminalist seine Autorität verlieren würde, wenn ihm wegen Trunkenheit am Steuer die Fahrerlaubnis entzogen wird. Sie schlug vor, mit einem Taxi zu ihr nach Ziegelhausen zu fahren. Er könne da übernachten, müsse aber mit der Couch im Wohnzimmer vorlieb nehmen. Denn ihr Gästezimmer war belegt, weil Berenice Winkelmann nach dem dramatischen Fall vor einem guten halben Jahr* immer noch bei ihr wohnte.

Es war kein Wunder, dass die Lautstärke, in der sie diese schwierigen Verhandlungen führten, der vorgerückten Stunde in keiner Weise angemessen war, sehr zum Leidwesen der Anwohner. Ein alter Mann riss das Fenster auf und schimpfte lautstark über die heutige Jugend, die keinen Anstand mehr habe und rücksichtslos ihren Mitmenschen den Schlaf raube.

Als sie dann per Taxi nach Ziegelhausen kamen, sahen sie in Martinas Wohnzimmer noch Licht brennen. Ihre Tochter Janine und Berenice saßen noch beim Fernsehen. Sie waren im letzten halben Jahr zu unzertrennlichen Freundinnen geworden. Auf dem Couchtisch stand eine geöffnete, aber noch ziemlich volle Flasche Montepulciano. Die Kriminalisten waren sich sofort einig, dass es verantwortungslos wäre, die Mädchen damit alleine zu lassen. Und außerdem: Nach dem langen Abend täte ein kleiner Absacker ohnehin noch gut. So kamen sie jetzt in der Viererrunde noch mal ins Plaudern und es war schließlich lange nach zwei, als sie sich endlich zur Ruhe begaben.

Martina und Michael dankten sich beim Gutenachtsagen gegenseitig für den schönen Abend, sahen sich lange und tief in die Augen und ihre Lippen trafen sich zu einem flüchtigen Kuss. Trotz der späten Stunde und der vielen Gläser Wein fanden sie nicht gleich in den Schlaf. Ohne es zu wissen, dachten sie beide das Gleiche: Noch nie waren sie sich in den fast zehn Jahren ihrer Zusammenarbeit menschlich so nahe gekommen wie an diesem Abend, eine schöne, aber auch verwirrende Erfahrung. Es dauerte lange, bis sie endlich doch einschliefen.

Der Engel mit den traurigen Augen

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