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Freitag, 31. Mai 2013 1

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Es war ein warmer sonniger Frühsommertag, als gegen zwei Uhr nachmittags ein schwarzer BMW hinter Heidelberg-Ziegelhausen* kurz vor dem Eingang zum Bärenbachtal hielt. Zwei Frauen stiegen aus. Von weitem hätte man sie für Schwestern halten können. Sie mochten um die fünfzig Jahre alt sein, waren von ähnlich großer und schlanker Gestalt und hatten beide schwarze, halblange Haare. Aber wenn man ihnen ins Gesicht sah, war es vorbei mit der Ähnlichkeit. Die Frau, die den Wagen gesteuert hatte, blickte aus tiefliegenden, hellblauen, traurigen Augen scheu wie ein Reh in die Welt. Ihr dünnlippiger Mund war zusammengekniffen und der Ausdruck ihres schönen, ovalen Gesichts verriet deutlich, wie skeptisch sie der Welt gegenüberstand.

Ganz anders ihre Begleiterin. Ihr rundes Gesicht mit einer zierlichen Stupsnase hatte etwas Spitzbübisches. Der fordernde Blick ihrer grünen Augen und die dicken, stets zum Lächeln geöffneten Lippen verrieten, wie sehr sie das Leben genießen konnte. Sie war gewohnt, sich zu nehmen, was sie haben wollte, und war mit sich und der Welt im Reinen.

Die beiden Frauen gingen langsam schweigend nebeneinander her. Der Weg führte sie zunächst schwach ansteigend parallel zum Neckar, ehe er in das schattige, dicht mit Laubwald bestandene Tal einbog. Man hörte das ruhige Plätschern des Bärenbaches. Nach ungefähr zehn Minuten überquerten sie auf einer Naturbrücke den Bach und der Wald lichtete sich und machte zum Talgrund hinunter einer Wiese Platz. Nur noch der Uferbereich war mit Bäumen bestanden. Da brach die Stupsnasige das Schweigen.

„Es war schon schlimm, Angela, was wir damals mit dir gemacht haben. Ich weiß eigentlich auch nicht, wie es geschehen konnte. Aber wir waren damals alle in einer so aufgekratzten Stimmung.“

„Wie war es eigentlich hinterher, Britta?“, fragte Angela zurück. Sie wollte gelassen klingen, was ihr aber nicht wirklich gelang. „Gab es so etwas wie Reue oder Schuldgefühle?“

„Bei mir und Martin sicher schon. Bei den anderen? Weiß ich nicht genau. Erschrocken sind wir alle, als du dann plötzlich spurlos verschwunden warst. Da hatten wir schon Angst, du könntest dir etwas angetan haben. Wo warst du da eigentlich?“

Angela blieb eine Weile stumm. Sie sah oft verstohlen nach links und rechts, als ob sie heimlich etwas suchte. Dann antwortete sie mit leiser, zögerlicher, sehr angespannter Stimme:

„Ihr habt wohl nie begriffen, was damals tatsächlich passiert ist. Diese Nacht hatte Folgen.“

„Was meinst du damit, was für Folgen?“

„Ich wurde schwanger.“

„O Gott!“, entgegnete Britta erschrocken, „jetzt wird mir einiges klarer. Du hast doch dann abgetrieben?!“

Jetzt konnte sich Angela nicht mehr beherrschen und fuhr Britta aggressiv an: „Wie kannst du das nur fragen! Ich bin katholisch, überzeugt katholisch. Da kam eine Abtreibung für mich überhaupt nicht in Frage. … Ich war damals völlig verzweifelt und stand mehrmals am Turm der Heiliggeistkirche und wollte springen. Aber die Angst war stärker. Und daran seid allein ihr schuld!“

Schweigend gingen sie weiter. Britta hatte den Kopf gesenkt und wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Sie fragte dann leise: „Aber irgendwie ist es doch weitergegangen?“

Angela versuchte, ihre Selbstbeherrschung wieder zu finden, und begann nach einer gewissen Zeit doch recht gelassen zu erzählen: „Einmal hatte ich dann großes Glück. Ich offenbarte mich einem Geistlichen, der meine Not erkannte und mir tatsächlich half und nicht nur moralisch daherredete. Er zog

mich zunächst gewissermaßen aus dem Verkehr, brachte mich in einem Kloster unter, hier im Kloster Neuenfels. Dort konnte ich während meiner Schwangerschaft bleiben und dann auch das Kind zur Welt bringen, ohne jemandem etwas erklären zu müssen. Er sorgte dann dafür, dass das Kind sofort adoptiert wurde, von, wie er sagte, wirklich guten Eltern. Und – das war für mich das Wichtigste – er sicherte mir zu, dass es nie erfahren sollte, unter welchen Umständen es gezeugt wurde.“

Was für eine verrückte Geschichte, dachte Britta, wie konnte so etwas gutgehen? Jetzt erst, nach dreiundzwanzig Jahren, wurde ihr klar, was sie damals in Davos wegen einer blödsinnigen Wette angerichtet hatten.

„Und wie hast du das alles verkraftet?“, fragte sie schuldbewusst.

„Eigentlich gar nicht“, antwortete Angela in schneidendem Ton, denn sie konnte ihre Wut nicht mehr unterdrücken. „So etwas kann man nicht verkraften. Darüber kann man nicht zur Tagesordnung übergehen.“

„Aber du hast doch irgendwie weitergelebt.“

„Ja, sicher, irgendwie. Ich habe mich in den Beruf gestürzt, mit übertriebenem Engagement. Je anstrengender es war, umso besser. Ich wollte keine Zeit haben, um über mich nachzudenken. Und dann hatte ich noch einmal großes Glück. … Ich war mir eigentlich sicher gewesen, dass ich nie mehr mit einem Mann zusammen sein könnte. Aber dann, fünf Jahre nach Davos, traf ich jemanden, mit dem es doch ging. Wir heirateten und bekamen zwei liebe Kinder. Die Vergangenheit schien endlich wirklich abgeschlossen zu sein. Aber je älter die Kinder wurden, umso häufiger kam, wie soll ich sagen, irgendwie bei ihrem Anblick die Erinnerung an mein erstes Kind hoch. Denn trotz allem, ich hatte es geboren. Ich wollte endlich wissen, wie es ihm ging und was aus ihm geworden war. Ich konnte es kaum noch ertragen, dass ich nichts unternehmen durfte, um es zu finden. Denn das hätte ihm furchtbar geschadet. Ich fraß das alles in mich hinein, bekam massive Magenbeschwerden, dachte schon, ernstlich krank zu sein. Aber die Ärzte fanden nichts. Psychosomatisch, hieß es. Ja, und dann begann ich eine Therapie. Der Therapeut riet mir, mit euch Kontakt aufzunehmen, um das Geschehen aufzuarbeiten und endlich abzuschließen. Und deshalb bist du jetzt hier.“

Angela wartete auf eine Reaktion. Aber Britta wusste gar nichts mehr zu sagen, schaute nur zu Boden und wünschte sehnlichst, weit weg zu sein. So bemerkte sie gar nicht, dass von rechts oben ein breiter Fahrweg auf den ihren einmündete. Kaum hatten sie ihn passiert, da schrie plötzlich hinter ihnen jemand: „Halt! Stehenbleiben!“

Jäh drehten sie sich um und sahen einen jungen Mann in schwarzem Lederanzug, dunkler Sonnenbrille und kurzgeschnittenen, schwarzen Haaren. Er hielt ein Gewehr im Anschlag. Angela fasste sich als Erste: „Was wollen Sie von uns?“

„Da lang!“, entgegnete er schreiend und zeigte mit dem Gewehrlauf auf den Weg nach oben. „Hier hoch! Und kein Wort! Wenn ihr redet oder versucht wegzulaufen, schieße ich sofort. Beeilung, ich habe wenig Zeit!“

Die beiden Frauen liefen den steilen Weg hinauf durch dichten Laubwald. Sie wagten nicht, sich anzusehen. Ist das Zufall, ging es Britta durch den Kopf, oder hatte Angela sie in eine Falle gelockt? Nein, das war unmöglich. Sie kannte Angela zu gut als rigorose Moralistin. Dennoch stieg Todesangst in ihr auf und schnürte ihr die Kehle zu. Sie begann zu keuchen und glaubte, jeden Augenblick umfallen zu müssen.

Mit einem Mal ging der Laubwald in einen dunklen Fichtenwald über. Dann erreichten sie den Talausgang, und tief unter ihnen schimmerte der Neckar durch die Bäume hindurch. Der Weg führte nach links in Richtung Neckargemünd und ein zweiter führte bergauf in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Hier sah man nach etwa fünfzig Metern oberhalb des Wegs zwischen den Bäumen eine Schutzhütte für müde Wanderer.

Da drehte Angela sich abrupt um und schrie die schwarze Gestalt an: „Jetzt sag endlich, was du von uns willst! Was soll das hier?“

Britta bewunderte Angelas Zivilcourage. Sie selbst hätte das nie gekonnt.

„Hoch in die Hütte! Aber mit Tempo!“, schrie der Schwarzgekleidete zurück und richtete das Gewehr auf Brittas Kopf. Die Frauen liefen den Fahrweg weiter und dann den schmalen, von einem noch neuen Holzgeländer gesicherten Pfad zur Hütte hoch. Als sie oben angekommen waren, schrie er: „Umdrehen!“

Sie sahen, wie erregt er war.

„Jetzt sag endlich, was willst du?“, schrie Angela ihn wieder an.

„Ausziehen!“, brüllte er. Seine Opfer erstarrten und reagierten nicht sofort. Da schoss er kurz vor ihre Füße in den Boden und schrie erneut: „Versteht ihr kein Deutsch? Ausziehen!“

Der Engel mit den traurigen Augen

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