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Montag, 29. Dezember 2014 4

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Wird es denn schon hell, fragte sich Joseph Travniczek, Kriminalhauptkommissar und Chef der Mordkommission Heidelberg, als er erwachte. Er sah auf seinen beleuchteten Wecker: 5 Uhr 12. Natürlich, der Schnee draußen reflektierte jedes auch noch so schwache Licht und ließ es nicht richtig dunkel werden.

Er hatte geträumt und versuchte sich zu erinnern. Doch die Bilder waren so undeutlich, dass er sie nicht in Worte fassen konnte. Aber sie hatten wie vom Grund eines tiefen Bergsees Erinnerungen aufgewirbelt, die allmählich an die Oberfläche drangen und immer klarer wurden:

Er war fünf Jahre alt. Familienurlaub auf einem Bauernhof. Es gab viele junge Kaninchen. Fasziniert saß er stundenlang vor den Ställen und beobachtete die Kleinen. Aber er wollte sie unbedingt auch streicheln und öffnete irgendwann doch einen der Ställe – was ihm ausdrücklich verboten worden war. Sofort sprangen welche heraus. Sie waren schon viel flinker, als er gedacht hatte. Vergeblich lief er hinter ihnen her, um sie wieder einzufangen. Und dann war da plötzlich dieser große schwarze Hund, fast so groß wie er selbst. In Panik lief er davon, hörte Bellen und leises Quieken. Dann war es wieder still.

Ängstlich schlich er zurück. Der Hund war fort. Am Boden vor den Ställen lagen vier junge Kaninchen. Der Hund hatte ihnen das Genick durchgebissen. Er stand einfach nur da, ohne sich rühren zu können. Dann kamen die Tränen. Er lief los und suchte die Mutter. Die fragte nicht lange, sondern nahm ihn in ihre Arme und ließ ihn sich an ihrer Brust ausweinen. Die wohlige Wärme ihres Körpers spürte er heute noch.

Warum kommen mir seit einiger Zeit so oft ungerufen Kindheitserinnerungen, fragte er sich. Er war jetzt einundfünfzig. War er zu viel allein, nachdem vor drei Jahren seine Ehe in die Brüche gegangen und er nach Heidelberg geflohen war?

Er hatte über Weihnachten bis jetzt freigehabt. Sein ältester Sohn Bernhard, der seit eineinhalb Jahren bei ihm wohnte und an der Uni Geschichte studierte, war nach München gefahren, um die Feiertage mit seinen Geschwistern und der Mutter zu verbringen.

Die freie Zeit war ihm aber nicht gut bekommen. Zwar hatte er viel gelesen, Klavier gespielt, endlich einmal ausgiebig das Kurpfälzische Museum* durchstreift, am zweiten Weihnachtstag den Lohengrin im Nationaltheater Mannheim gesehen, eine beeindruckende Aufführung. Und dennoch: Alles war irgendwie leer und schal geblieben. Bernhard sagte ja immer wieder: „Vadder, du musst wieder heiraten, so geht das nicht weiter mit dir.“ Wahrscheinlich stimmte das ja. Aber wenn es wieder eine Enttäuschung gäbe? Könnte er die noch einmal verkraften?

Seine Gedanken verloren an Klarheit und er fiel noch einmal in einen leichten Schlaf.

Kurz nach sieben sah er das nächste Mal auf seinen Wecker. Musik hören. Auf seinem Nachttisch stand ein kleiner CD-Spieler. Er wühlte in seinen CDs, die ungeordnet auf dem Boden lagen: die drei letzten Mozartsinfonien? Er schüttelte den Kopf. Jetzt nicht. Oder Orgelchoräle von Bach? Naja, Bach geht immer. Er zögerte, wollte die CD schon aus der Hülle nehmen, da fiel sein Blick auf Schuberts Streichquartett „Der Tod und das Mädchen“ in der unvergleichlichen Aufnahme mit dem Alban Berg Quartett1. Das passt jetzt, dachte er, startete die CD, legte sich wieder ins Bett, und es gelang ihm, sich ganz von der Musik gefangen nehmen zu lassen.

Noch lange, nachdem die letzten Töne verklungen waren, blieb er liegen und sann der Frage nach, warum diese schubertschen Klänge, so voller Resignation und Traurigkeit, vom vergeblichen Aufbegehren gegen das Leiden der Welt, ihn immer wieder in ihren Bann zogen. Er fand keine Antwort.

Dafür glaubte er ganz plötzlich zu wissen, woran seine Ehe mit Marion, die doch so schön begonnen hatte, wirklich gescheitert war. Er hatte sie überfordert, hatte von ihr verlangt, was sie nicht geben wollte oder konnte: die voraussetzungslose Geborgenheit, die er als Kind von seiner Mutter erfahren durfte.

Er sprang auf, lief ins Bad und duschte ausgiebig. Dann kochte er einen starken Kaffee und schnitt zwei Scheiben von dem würzigen Bauernbrot ab mit dem uralten Brotmesser, das schon seiner Mutter gute Dienste geleistet hatte. (An die elektrische Brotschneidemaschine, die Marion seinerzeit gekauft hatte, wollte er sich nie gewöhnen.) Er holte den besonders aromatischen Tannenhonig aus der Vorratskammer, Butter aus dem Kühlschrank und ließ es sich erst einmal schmecken.

Nach dem Frühstück ging er ins Wohnzimmer hinüber und setzte sich ans Klavier. Froh, dass wohl noch keiner der anderen Mieter des Hauses aus dem Weihnachtsurlaub zurückgekommen war, schlug er ganz unwillkürlich den zweiten Band von Bachs Wohltemperiertem Klavier2 auf und begann zu spielen. Aber schon nach der zweiten Fuge, der in c-Moll, hielt er inne, schüttelte unzufrieden den Kopf und brummte vor sich hin: „Man kann doch nicht immer nur Bach spielen.“

Er stöberte in seinem Notenregal, blätterte in Chopins Etüden und den sieben Bänden von Schumanns Klaviermusik, den Klaviersonaten von Mozart und Beethoven, konnte sich aber nicht entscheiden. Da fiel sein Blick auf den zweiten Band der Schubertsonaten. Die Klänge von vorhin waren wieder in seinem Ohr.

Er legte die Noten aufs Klavier, blätterte ein wenig darin und hatte dann den Anfang der großen B-Dur Sonate vor sich. Sie gehörte zu den wenigen nicht von Bach stammenden Werken, die er auch in den vergangenen Jahren immer wieder gespielt hatte.

Er wusste um ihre Besonderheit. Vollendet hatte Schubert sie wenige Wochen, bevor er starb, einunddreißigjährig, an den Folgen der Syphilis.

Travniczek begann mit der weit ausschwingenden, in vollen Akkorden ausharmonisierten Eröffnungsmelodie, untermalt mit der klopfenden Wiederholung des fast immer gleichen Tons. Das Schlagen eines beunruhigten Herzens? Unendliche Traurigkeit, ja vollständige Resignation hörte er aus diesen Anfangstakten, doch die Sonate stand in Dur, und Dur drückte ja normalerweise Freude und Lebendigkeit, Übermut oder Triumph aus. Aber bei Schubert? Travniczek erschien dieses Dur wie ein Einverständnis damit, dass alles vorbei war. Der Lebenswille war gebrochen. Nur ein letztes Mal noch sollte Schönheit die Welt verklären. Da war sie, jene einmalige Fähigkeit Schuberts, so in Dur zu schreiben, dass es wie gesteigertes Moll klang.

Nach dieser ersten Phrase hielt die Musik plötzlich an. Sollte man dem Gehörten einfach nur nachsinnen? Doch der Schönheit folgte die Bedrohung: Einen Triller in ganz tiefer Lage so leise wie möglich zu spielen empfand er wie einen unheimlichen, fernen Donner, der ein Unheil ankündigte, dem niemand würde entkommen können. Dann war es still – Fermatenpause. Und als ob nichts geschehen wäre, begann es wieder von vorne, dieselbe Melodie erst ganz am Schluss etwas abgewandelt, das Donnergrollen des Trillers, etwas höher liegend, also nicht mehr ganz so bedrohlich.

Doch so konnte es nicht weitergehen. Fast übergangslos ein Ruck abwärts in eine weit entfernte Tonart (Ges-Dur). Das klang wie Flucht. Ein drittes Mal dieselbe Melodie, aber in völlig anderem Gewand. Schnelle Spielfiguren in der Begleitung. Die Musik nahm jetzt Energie auf, fand Travniczek, schien endlich auf ein Ziel zuzusteuern. Doch was geschah dann wirklich? Die Melodie zerfaserte in Dreiklangsbrechungen und virtuose Spielfiguren. Aber es ging wenigstens vorwärts. Akkordballungen steigerten die Klangintensität. Auf zu neuen Ufern! Aber dann: Es gab nichts Neues, sondern die bekannte Anfangsmelodie, nur jetzt sehr viel lauter, kraftvoller zu spielen. …

Das Klingeln an der Wohnungstür unterbrach sein Spiel.

Mürrisch stand er auf.

„Wer ist denn das jetzt um diese Zeit? Wahrscheinlich der Postbote.“

Er ging an die Wohnungstür und betätigte den Türöffner. Er hörte stolpernde, schwere Schritte und keuchenden Atem. Ein alter Mann in einem abgetragenen Wintermantel kam mit gebeugtem Rücken die Treppe hoch. Seine leicht gelockten weißen Haare hingen ihm wirr ins tief gefurchte Gesicht. Der Vollbart war ungepflegt.

„Maurischat mein Name, Dieter Maurischat“, stellte er sich vor und schüttelte den Schnee vom Mantel. „Entschuldigen Sie, wenn ich störe. Ich muss Sie unbedingt sprechen. Jetzt gleich. Sie sind meine letzte Hoffnung.“

Ganz gleich, was der alte Mann ihm sagen wollte, auf alle Fälle brauchte er Hilfe, und da konnte er ihn doch nicht im kalten Treppenhaus stehenlassen.

„Langsam, langsam. Jetzt kommen Sie erst einmal weiter“, versuchte er den alten Mann zu beruhigen. Er nahm ihm den Mantel ab und hängte ihn an die Garderobe, führte ihn dann in sein Wohnzimmer und bot ihm einen Platz auf der Couch an.

„Möchten Sie einen Kaffee?“

„Nein, danke, ich bin schon so nervös, da macht meine Pumpe nicht mit. Aber ein Glas Wasser, wenn es nicht zu viel Umstände macht.“

„Ach, woher.“

Travniczek holte eine Flasche Mineralwasser nebst zwei Gläsern aus der Küche und setzte sich ihm gegenüber auf einen Sessel.

„Was erregt Sie denn so?“

Der alte Mann brauchte lange, ehe er mit gepresster Stimme begann: „Mein Sohn …“ Seine Hände zitterten. „Mein Sohn … er wird … in einigen Tagen … aus dem Faulen Pelz* entlassen.“

Maurischat atmete flach und hektisch. Travniczek ließ ihm viel Zeit, ehe er dann vorsichtig nachfragte: „Weswegen ist er denn in Haft?“

Da ballte der Alte die Fäuste.

„Das ist es ja! Wegen nichts! Wegen rein gar nichts! Zehn Jahre! Und jetzt ist alles kaputt.“

Travniczek merkte gar nicht, wie sehr ihn die Verzweiflung des alten Mannes berührte. Vorsichtig und ruhig fragte er weiter: „Zehn Jahre … was soll Ihr Sohn denn verbrochen haben?“

Der Alte konnte nicht sofort antworten. Er kämpfte mit den Tränen.

„Er soll … seine Freundin umgebracht haben“, sagte er leise mit Kopfschütteln. „Aber sie haben nicht einmal die Leiche gefunden.“

„Und Sie glauben also, dass Ihr Sohn unschuldig ist?“

„Ja, da bin ich mir ganz sicher. Wissen Sie, Berit war ein wunderbares Mädchen. Meine Frau und ich waren so froh über diese Beziehung. Die beiden waren ein Herz und eine Seele. Es ist völlig undenkbar, dass er ihr irgendetwas hätte antun können. Er war doch so glücklich ...“

Jetzt konnte er die Tränen nicht mehr zurückhalten.

„Lassen Sie sich Zeit. Versuchen Sie, der Reihe nach zu erzählen, wie alles gekommen ist.“

Der alte Mann wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen.

„Also, alles fing an vor jetzt zwölf Jahren, an einem schönen Sommerabend. Berit wollte da noch einmal Wolfgang besuchen und ist so gegen halb acht von zu Hause weggegangen – sie wohnte damals in Heiligkreuzsteinach* und brauchte zu Fuß etwa zwanzig Minuten. ... Aber sie ist nie bei uns angekommen.“

„Sorry, wenn ich unterbreche. Wo wohnen Sie selbst?“

„Hab ich das noch nicht gesagt? In Waldesruh.“

„Waldesruh? Wo liegt das?“

„In der Nähe von Heiligkreuzsteinach*. Es ist nur ein kleines Dorf, hat gerade mal hundertfünfzig Einwohner.“

„Oh, in der Gegend habe ich einmal sehr unangenehme Erfahrungen gemacht.“

Maurischat sah ihn fragend an.

„Das zu erzählen würde jetzt sicher zu weit führen. Vielleicht nur so viel: Ich bin damals dem Tod gerade noch so von der Schippe gesprungen.3 Aber jetzt erzählen Sie doch bitte weiter.“

„Also, wo war ich? … Ach ja, Berit war also nicht bei uns angekommen. Wolfgang hat dann natürlich bei ihr zu Hause angerufen, aber sie hat sich nicht gemeldet.“

„Was war mit ihren Eltern? Konnten Sie die nicht erreichen?“

„Nein, ihre Mutter war für ein paar Tage weggefahren und der Vater war einige Wochen vorher ausgezogen. Es hatte da wohl einen fürchterlichen Ehestreit gegeben. Näheres darüber weiß ich nicht.“

Maurischat war ins Schwitzen gekommen. Er zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann fuhr er fort: „Wolfgang ist dann nach Heiligkreuzsteinach gelaufen, aber es war alles dunkel. Da war niemand. Später, es muss so um halb elf gewesen sein, wollte ich dann bei der Polizei eine Vermisstenanzeige aufgeben. Aber der Polizist hat mich nicht ernst genommen und von oben herab belehren wollen. Jugendliche verschwänden oft mal eine Weile, hat der gemeint. Das sei in diesem Alter ganz normal. Berit würde schon wieder auftauchen. Wenn nicht, sollte ich dann am nächsten Morgen auf die Polizeiwache kommen.

Ich habe mich darauf eingelassen, leider. Als ich dann am nächsten Morgen zur Polizei fahren wollte, war unser Auto plötzlich weg. Das war schon merkwürdig, aber ich sah zuerst keine Verbindung zu Berits Verschwinden.

Die Polizei wollte immer noch nichts unternehmen. Erst einen Tag später haben die endlich begriffen, dass Berit tatsächlich verschwunden war und ein Verbrechen vorliegen könnte. Sie suchten dann mit mehreren Hundertschaften im weiten Umkreis. Nichts.

Nach zwei Tagen haben sie dann unser Auto gefunden, im Wald in der Nähe von Mosbach*, wenn Sie wissen, wo das ist. Auf dem Beifahrersitz war ein riesiger Blutfleck. Sie fanden heraus, dass der eindeutig von Berit stammte.“

Maurischats Stimme war schon bei den letzten Sätzen heiser und brüchig geworden. Jetzt konnte er nicht mehr weiter. Fast unverständlich murmelte er vor sich hin:

„Entschuldigen Sie … aber … es ist … zu schwer … warum … warum … musste dieses wunderbare Mädchen sterben? … Das ist so ungerecht … so ungerecht … und jetzt ist … alles vorbei …“

Travniczek wollte den alten Mann irgendwie beruhigen. Aber er fand nicht die richtigen Worte. Er wartete lange, ehe er fragte: „Herr Maurischat, wie ging es dann weiter?“

Der alte Mann schreckte auf, als ob er gar nicht mehr genau wüsste, wo er sich befand.

„Entschuldigen Sie … ich will es versuchen … Da waren dann plötzlich zwei Zeugen, die gesehen haben wollten, wie Wolfgang und Berit mit dem Auto gegen 20 Uhr von Waldesruh in Richtung Heiligkreuzsteinach weggefahren sind. Die haben aber auf jeden Fall gelogen, denn Wolfgang war die ganze Zeit zu Hause gewesen. Einer der Zeugen behauptete dann sogar, die Beziehung zwischen Wolfgang und Berit sei schon zu Ende gewesen. Vierzehn Tage vor ihrem Verschwinden hätte sie mit ihm geschlafen und wäre seitdem seine Freundin gewesen. An dem Abend ihres Verschwindens habe sie Wolfgang sagen wollen, es sei vorbei. Aber auch das war gelogen.“

„Wer waren die Zeugen?“

„Adalbert und Waldemar Schittenhelm, Sohn und Neffe von Ansgar Schittenhelm, dem reichsten Mann im Ort.“

„Und der hat gute Verbindungen?“

„Mit Sicherheit.“

„Sagen Sie, wie alt ist Ihr Sohn eigentlich?“

„Er wird im April zweiunddreißig.“

„Und wie alt war Berit, als sie verschwand?“

„Sechzehn. Aber für ihr Alter seelisch schon sehr reif.“

„Wie lange bestand die Beziehung zu Berit?“

„Etwa ein Jahr.“

„Hatte Ihr Sohn vor Berit schon andere feste Beziehungen?“

„Soweit ich weiß, gab es da außer der einen oder anderen Schwärmerei nichts Ernstes.“

„Eine Frage noch, die Sie mir bitte nicht übelnehmen: Wäre es nicht möglich, dass Berit noch vor ihrem Verschwinden tatsächlich mit dem einen Zeugen zusammen war und dass Sie und Ihr Sohn das nur noch nicht mitbekommen hatten? Manche Jugendliche wechseln heutzutage ja oft recht schnell ihre Partner.“

„Ich halte das für ausgeschlossen. Denn dieser Waldemar ist einfach, entschuldigen Sie, ein arrogantes Arschloch. Mit dem hätte sich Berit nie eingelassen. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer.“

„Wenn wir mal davon ausgehen, dass Ihr Sohn Berit nicht getötet hat, haben Sie irgendeine Vermutung, eine Ahnung oder gar einen konkreten Verdacht, was wirklich passiert sein könnte?“

Der Alte schwieg eine Weile und sagte dann: „Wissen Sie, darüber denke ich seit zwölf Jahren nach, Tag für Tag, und auch Nacht für Nacht. Ich habe zig Szenarien entworfen und alle wieder verworfen, weil ich sie dann doch für unmöglich hielt. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass der alte Schittenhelm da seine Hand im Spiel hatte, obwohl ich überhaupt nicht sagen kann, warum. – Herr Travniczek, Sie müssen mir helfen. Mein Sohn ist unschuldig. Wie soll er weiterleben mit dem Makel eines Mörders?“

Travniczek war geneigt, dem Mann zu glauben. Er versuchte eine Weile ruhig nachzudenken. Dann sagte er: „Ich gehe jetzt mal davon aus, dass Sie recht haben. Ich muss Ihnen aber leider sagen: Wenn es nicht irgendwelche neuen Erkenntnisse gibt, wird es schwer, den Fall neu aufzurollen. Das Beste wäre sicher, Sie suchen sich einen guten Anwalt.“

Der alte Mann lachte bitter. „Einen guten Anwalt? Und von was soll ich den bezahlen? Ich bin froh, wenn ich einigermaßen über die Runden komme, ohne Hartz IV beantragen zu müssen. Wissen Sie, meine Frau hat das alles nicht verkraftet. Wir wurden ja auch noch wegen Beihilfe mit angeklagt und mussten froh sein, dass wir mit einer Bewährungsstrafe davongekommen sind. Ein Jahr nach dem Prozess wurde sie krank. Magenkrebs. Ich habe alles, was ich an Geld hatte, in verschiedenste Behandlungen gesteckt – umsonst. Zwei Jahre nach der Diagnose ist meine Frau gestorben.“

Maurischat schluckte wieder mehrmals und fügte dann hinzu: „Ich war kurz davor, mich auch davonzumachen. Was mich zurückhielt: Mein Sohn braucht mich doch, wenn er wieder draußen ist.“

Schon während des ganzen Gesprächs hatte Travniczek immer wieder Mühe, Klangfetzen der Schubertsonate aus seinem Bewusstsein zu vertreiben, die ihn vom genauen Zuhören abhielten. Und jetzt war da plötzlich die doch eigentlich abwegige Frage: Konnte es Zufall sein, dass er ausgerechnet jetzt mit der Geschichte des alten Maurischat konfrontiert wurde, da er mit dem Studium der Schubertsonate begann?

Auf jeden Fall war er fest entschlossen, diesem Mann zu helfen, auch wenn es eigentlich nicht sein Job war und es sicher sehr schwierig werden würde. Und er wusste jetzt schon, dass er dabei ohne weiteres auch Dinge tun würde, die er nach der Dienstvorschrift eigentlich nicht tun durfte.

„Also, Herr Maurischat, ich kann Ihnen jetzt erst einmal Folgendes anbieten. Ich werde mir morgen die Akte von dem Fall besorgen. Dann sehe ich, ob es irgendwelche Verfahrensfehler gegeben hat. Das nehme ich fast an. Sie müssen wissen, dass man jemanden ohne Leiche und Geständnis wegen Mord oder Totschlag nur verurteilen kann, wenn es ganz schwerwiegende Indizien gibt und vor allem nichts, was den Täter offensichtlich entlastet.“

Das Gesicht des alten Mannes hellte sich auf: „Sie glauben also, etwas machen zu können?“

„Vorsicht, nicht zu schnell. Ich kann jetzt noch gar nichts sagen. Und, … wann wird Ihr Sohn aus der Haft entlassen?“

„Am Tag nach Neujahr.“

„Gut, dann brauche ich ihn nicht im Gefängnis zu besuchen. Denn – das werden Sie sicher verstehen – bevor ich mich in diesem Fall engagiere, will ich Ihren Sohn persönlich kennenlernen.“

„Ja, natürlich, natürlich versteh ich das. Aber trotzdem haben Sie jetzt schon vielen Dank, dass Sie überhaupt etwas tun wollen. Sie wissen gar nicht, was für eine Last Sie von mir nehmen. Die Beamten damals, die haben mir nie auch nur zugehört. Für die war der Fall von Anfang an klar. Seitdem habe ich kein Vertrauen mehr in die Polizei.“

„Und da kommen Sie zu mir? Ich bin doch auch Polizist.“

„Aber Sie wurden mir als jemand geschildert, der zuhört. Das tun doch die meisten Ihrer Kollegen eher nicht.“

„Na ja, unsere Arbeit ist auch nicht immer leicht. Aber eine letzte Frage noch: Haben Sie zufällig ein Foto von Ihrem Sohn bei sich?“

„Nein. Es gibt gar kein Aktuelles.“

„Ist ja verständlich.“

„Dann will ich Sie jetzt nicht länger stören und mich verabschieden.“

Als Maurischat gegangen war, ließ Travniczek sich auf die Couch fallen und schloss die Augen. Unschuldig im Gefängnis, das musste mit das Schlimmste sein, was einem Menschen passieren konnte. Das Leben war dann zerstört. Er war froh und dankbar, dass er, soweit ihm bekannt war, noch nie zu einer solchen Katastrophe beigetragen hatte.

Aber war Wolfgang Maurischat wirklich unschuldig? Noch kannte er ihn nicht. Doch sein Instinkt sagte ihm, dass in dem Prozess nicht alles korrekt gelaufen war. Sollte er nicht gleich losfahren, um sich die Akte anzusehen? Besser nicht. Das wäre zu auffällig. Noch brauchte niemand zu wissen, dass er sich für diesen mehr als zehn Jahre alten Fall interessierte.

Er setzte sich wieder ans Klavier und spielte die ganze Schubertsonate von Anfang bis Ende. Nahm hier ein Fieberkranker am Rande des Wahnsinns Abschied vom Leben, das doch hätte noch so schön werden sollen?

Noch lange nach dem Schlussakkord blieb er am Klavier sitzen und sann den Klängen nach. Merkwürdig. Dieser Wolfgang Maurischat war genauso alt wie Schubert, als er starb.

Plötzlich merkte er, wie hungrig er war. Er hatte vollkommen das Zeitgefühl verloren. Ein Lokal aufsuchen? Dazu war ihm das Wetter zu schlecht. Er ging in die Küche und inspizierte seinen Kühlschrank. Viel war nicht mehr da, denn eigentlich hatte er heute einkaufen wollen. Doch daraus würde jetzt auch nichts mehr werden. Er fand noch ein großes Stück Greyerzer Käse und eine noch fast volle Flasche Grünen Veltliner. Das ist doch jetzt gerade das Richtige, dachte er, schnitt sich noch zwei dicke Scheiben vom Bauernbrot ab und trug seine Schätze ins Wohnzimmer. Als Tafelmusik startete er eine CD mit frühen Sinfonien von Joseph Haydn.

Er aß mit großem Appetit und genoss die wohlige Wärme, die das erste Glas Wein in ihm verbreitete. Bald waren Brot und Käse verzehrt, und vom Grünen Veltliner würde sicher auch nichts übrigbleiben.

Tagebuch - 27.12.

Was war besonders schlimm? Da fällt mir als erstes diese Geschichte ein. Zu meinem siebten Geburtstag schenkte mir Tante Arabella einen jungen Dackel. Vater wollte aber keinen Hund im Haus. „Hunde machen Dreck“, sagte er. Aber er konnte Tante Arabella nicht von dem Geschenk abbringen. Das machte ihn wütend. Ich hab mich wahnsinnig über den Hund gefreut. Am Abend sagte Vater streng zu mir: „Du bist mir dafür verantwortlich, daß der Hund keinen Dreck macht. Wenn du das nicht schaffst, muß ich dich bestrafen. Das siehst du doch ein.“

Zwei Tage ging alles gut, dann lag morgens ein Häufchen auf dem Perserteppich im Wohnzimmer. Natürlich war Vater wütend. Er kam in mein Zimmer und schrie mich an. „Du hast nicht aufgepaßt!“ Er riß mir Waldi, so hatte ich ihn genannt, aus den Armen und drückte ihn brutal an sich. Er griff ihm unter das Kinn und drückte den Kopf ganz langsam nach oben gegen den Rücken. Waldi jaulte und strampelte heftig. Aber es half ihm nichts. Ich hörte ein Knacken und Waldi bewegte sich nicht mehr. Vater ließ ihn einfach auf den Boden fallen und ging, ohne noch etwas zu sagen, aus dem Zimmer. Aber dann drehte er sich doch noch einmal um und sagte: „Daß du mir ja nichts Tante Arabella erzählst!“

Waldesruh

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