Читать книгу Waldesruh - Christoph Wagner - Страница 25

18

Оглавление

Erst am hellen Vormittag waren seine drei aufgewacht. Sie frühstückten zusammen in ausgelassener Stimmung und sein Ansinnen, Julia und Christian sollten sich doch gleich einmal im Internet über die Heidelberger Schulen informieren, wurde mit einem empörten „Doch nicht am Sonntag!“ gnadenlos abgeschmettert.

Es war über Nacht kälter geworden und die Sonne schien wieder vom wolkenlosen Himmel. Bernhard schlug einen Stadtbummel vor.

Sie fuhren mit der Straßenbahn zum Bismarckplatz, schlenderten die Hauptstraße entlang, in der die Weihnachtsdekoration immer noch für Stimmung sorgen sollte. Julia und Christian mokierten sich über die Provinzialität der Angebote in den Geschäften, sahen dann aber doch begeistert einem Straßenkünstler zu, der in silbernem Ganzkörperoutfit eine Tanzpantomime vollführte.

Sie bogen dann zum Neckar hin ab und schlenderten gemächlich über die Alte Brücke. Der Blick über den Neckar, die verschneite Stadt und die umgebende Landschaft im strahlenden Sonnenlicht und bei tiefblauem Himmel war einfach grandios.

„Megageil!“, meinte Julia.

„Echt krönungsbedürftig“, steigerte Christian das noch.

O je, dachte der Vater, jetzt muss ich eine neue Sprache lernen.

Auf der nördlichen Neckarseite gingen sie weiter zum Wehr­steg* und der Vater erzählte, wie sein erster, äußerst dramatischer Fall3 in Heidelberg an dieser Stelle beinahe ein katastrophales Ende genommen hätte.

Sie überquerten wieder den Neckar und verweilten am Karlstor. Als der Vater erklärte, dass es nie eine Funktion hatte, sondern als Dankgeschenk der Bürger an Kurfürst Karl Theodor errichtet worden war, regte sich Julia sehr über so viel Verschwendung auf.

Danach fuhren sie mit der Bergbahn zum Schloss hinauf. Wie immer wimmelte es auch an diesem Sonntag von Touristen, doch der viele Schnee dämpfte alle Geräusche, so dass es viel stiller und auch geheimnisvoller wirkte als sonst.

Irgendwann kam das Gespräch auf die Wohnsituation. Die Kinder waren von klein auf gewohnt, jeder sein eigenes Zimmer zu haben. Sie brauchten natürlich bald eine neue, größere Wohnung.

Travniczek war skeptisch, dass sich auf dem Heidelberger Wohnungsmarkt schnell etwas Bezahlbares finden lassen würde. Sein Pessimismus färbte auf Julia und Christian ab. Doch Bernhard hielt dagegen.

„Keine Panik. So schlimm ist das alles gar nicht. Ich bin sicher, wir finden was Gutes, viel schneller als ihr denkt.“

Bernhard schien dabei so sicher zu sein, dass Travniczek stutzte. Schlug hier nur sein übersensibles Kriminalistenhirn an oder hatte der etwa schon was in petto? Er sah zu ihm hinüber, aber der begegnete seinem Blick mit ausgesucht harmloser Miene.

Als es zu dunkeln begann, beschloss der Vater, zur Feier des Tages die ganze Bande zum Abendessen ins Hotel Ritter* einzuladen, eins der edelsten Lokale in Heidelberg. Sie fanden dort tatsächlich Platz. Als ihnen ein schwarzgekleideter Kellner mit roter Fliege die Speisekarte vorlegte, entschied Travniczek sofort, die Preise einfach zu ignorieren. Schließlich konnte er ja mit seiner Kreditkarte bezahlen.

Die Auswahl indessen verlief dann nicht so einfach, da Julia sich bereits seit zwei Jahren nur vegetarisch ernährte. Als sie die Speisekarte studierte und da nur drei vegetarische Gerichte fand, wovon eines auch noch vegan war, wofür sie wiederum überhaupt kein Verständnis hatte, schimpfte sie über die übliche Diskriminierung der Vegetarier und wollte dann erst gar nichts essen. Nur mit Mühe konnte ihr Vater sie doch zu einem „Zucchini Parmiggiani“ überreden4, im Ofen geschmorten Ochsenherztomaten und Zucchini mit schwarzen Oliven, Büffelmozzarella und Kurkumareis. Es blieb ein kleiner Vorbehalt, denn vor dem Bestellen wollte sie erst wissen, was Kurkumareis denn sei.

Christian erwies sich da als sehr viel pflegeleichter. Er entschied sich für Schweinemedaillons auf Filderkrautspätzle, Rotweinsauce und Champignons einzig deswegen, weil er da nicht die ganze Speisekarte lesen musste.

Bernhard hätte zu gern mit seinem Vater zusammen ein Chateaubriand für zwei Personen mit Sauce bearnaise, Champignons, Paprikagemüse, glasiertem Gemüse und Kartoffelgratin probiert. Aber der Vater wollte da nicht mitmachen, weil er, wie er sagte, sich schon für geschmorte Rinderroulade nach Hausfrauenart, gefüllt mit Gurke, Speck und Zwiebeln, Rotweinsauce, glasiertem Gemüse und Kartoffelpüree entschieden hatte. Rinderroulade habe er früher so gerne gegessen, wäre aber seit Jahrzehnten nicht mehr dazu gekommen. Bernhard glaubte ihm das nicht ganz. Er hatte eher den Eindruck, dass ihm der Preis dann doch etwas den Appetit verdorben hatte. Er tröstete sich dann mit Medaillons vom Seeteufel, Parmesansauce und Zucchinitagliatelle mit Salbei. Als der Kellner ihre Wahl aufnahm, informierte er auch Julia, dass Kurkuma eine dem Ingwer verwandte indische Gewürzpflanze sei, der besondere Heilkräfte innewohnten. Im Kurkumareis würde normaler Langkornreis mit Zwiebel, Butter, gerösteten Cashewkernen und eben Kurkumapulver verfeinert. Das fand sie doch so interessant, dass sie gegen einen Versuch nichts einzuwenden hatte. Vielmehr wollte sie sich genau nach dem Rezept erkundigen.

Als das Essen serviert wurde, stellte der Vater anerkennend fest, dass die Küche hielt, was die Preise versprachen. Er aß mit großem Appetit, Bernhard wohl auch. Aber den beiden anderen merkte er an, dass sie einen Besuch bei McDonalds vorgezogen hätten. Denn während er sich länger mit Bernhard unterhielt, schnappte er Kommentare auf wie „nicht gerade der Gaumenfick“ oder „is was für Kompostis“, und als eine Gruppe älterer Damen das Lokal betrat, „voll das Krampfaderngeschwader“.

Zu Hause verzogen sich dann alle drei erstaunlich schnell in ihre Betten. Schneeluft macht müde, dachte er und wusste, dass er es auch nicht mehr lange machen würde. Er wollte den Abend noch mit schöner Musik ausklingen lassen und entschied sich für Orgelmusik von Bach. Als er gerade eine CD einlegen wollte, klingelte das Telefon.

„O nein, bitte jetzt nichts vom Präsidium!“, erschrak er und sandte ein Stoßgebet gen Himmel.

„Travniczek“, meldete er sich mit neutraler Stimme.

„Marion hier!“

Solms wäre ihm jetzt doch lieber gewesen.

„Sind die Kinder bei dir?“

Marion schien in heller Panik zu sein. Dennoch (oder gerade deswegen?!) antwortete er mit einer Gegenfrage: „Was ist mit ihnen?“

„Was mit ihnen ist? Frag nicht so blöd, sie sind weg! Sonst würde ich dich nicht anrufen.“

„Seit wann?“ Er gab sich provozierend gleichgültig, während seine Ex mit jedem Satz aggressiver wurde.

„Was weiß ich? Ich war mit Florian und dem Kleinen bei den Schwiegereltern. Gestern früh sind wir gefahren und vor einer Stunde zurückgekommen.“

„Es ist doch noch nicht so spät. Vielleicht sind sie ja noch irgendwo unterwegs, so klein sind sie ja schließlich nicht mehr.“

„Das hab ich zuerst auch gedacht, aber dann hab ich gesehen, dass sie ihr Toilettenzeug mitgenommen haben und dass zwei Koffer fehlen!“

„Dann sind sie wohl verreist. Schließlich sind Ferien.“

„Willst du dich über mich lustig machen? Es sind schließlich auch deine Kinder!“

„Schön, dass du dich daran erinnerst.“

„Sehr ungern. Aber was bleibt mir übrig?“

„Ich sag dir mal was.“ Seine Stimme wurde jetzt eiskalt. „Sie sind nicht verreist, sie sind geflohen.“

„Was soll das jetzt?“

„Um deine erste Frage zu beantworten: Seit gestern Abend sind sie hier. Bernhard hat sie rausgeholt.“

„Was heißt ‚rausgeholt‘? Seid ihr jetzt alle verrückt geworden? Warum sagst du nicht gleich, dass sie bei dir zu Besuch sind?“

„Du verstehst mich nicht: nicht zu Besuch. Sie sind geflohen.“

„Du redest Blödsinn! Oder soll das etwa heißen, du willst sie bei dir behalten?“

Travniczek wunderte sich, wie selbstsicher er war. Das war ihm früher bei Gesprächen mit Marion nie gelungen.

„Wieder falsch. Nicht ich will sie behalten. Sie wollen bei mir bleiben, weil sie’s bei euch nicht mehr aushalten. Und als ihr Vater habe ich das zu akzeptieren.“

„Oh, wie ich dich hasse! Du scherst dich um keine Vereinbarungen. Im Scheidungsurteil steht, die Kinder bleiben bei mir!“

„Stimmt! Das steht dort. Aber wenn du einen neuen Ehemann an Land ziehst, den die Kinder nicht mögen, der auch noch deiner Tochter nachsteigt und du das Problem nicht in den Griff kriegst, darfst du dich nicht wundern, wenn sie abhauen.“

„So ist das doch gar nicht! Das mit dem ‚Nachsteigen‘ ist doch Unfug. Reine Pubertätsphantasie.“

„Woher bist du dir da so sicher?“

„Weil Florian nicht auf kleine Mädchen steht.“

„So, tut er das nicht?“

„Nein. Das würde ich merken, als Frau.“

„Dem Argument kann ich schlecht widersprechen. Da fehlt mir die praktische Erfahrung.“

„Aha, jetzt gibst du doch klein bei.“

„Von wegen. Wir sind eigentlich fertig. Die Kinder wollen hier bleiben. Also bleiben sie hier.“

„Das akzeptiere ich nicht! Morgen gehe ich zu meinem Anwalt.“

„Tu, was du nicht lassen kannst. Aber es ist schade ums Geld. Der wird dir nichts anderes sagen als ich.“

Sie hatte aufgelegt.

Kopfschüttelnd starrte er auf den Telefonhörer, den er noch krampfhaft in der Hand hielt. Wieder so ein Gespräch, wie er es schon tausendmal geführt hatte. Sie schienen verschiedene Sprachen zu sprechen.

„Ich akzeptiere nicht …“. Das war Marions Standardsatz, den er in den Jahren seiner Ehe immer wieder gehört hatte. Und jedes Mal dachte er, ihr doch ganz deutlich klargemacht zu haben, dass es um Tatsachen ging, die man einfach akzeptieren musste. Drückte er sich nicht deutlich genug aus oder hielt er für Tatsachen, was gar keine waren? Versagte im Gespräch mit Marion sein logisches Denkvermögen oder konnte sie seine Gedankengänge nicht nachvollziehen?

Wahrscheinlich, so machte er sich nach einer Weile klar und musste lachen, saß sie jetzt genau wie er vor dem Telefon und beschwerte sich darüber, dass er sie nie verstand, obwohl sie sich doch immer ganz klar und deutlich ausgedrückt hatte.

Mäuschen möchte ich jetzt sein, dachte er, und in München die Gespräche zwischen ihr und ihrem Florian mithören. Wie die wohl abliefen? Völlig anders als gerade eben? Er konnte das nicht wirklich glauben.

Mit einer energischen Bewegung legte er endlich den Hörer auf, öffnete vorsichtig, um niemanden zu wecken, seine Zimmertür und holte mehrere Flaschen von seinem Grünen Veltliner aus dem Keller. Zurück in seinem Zimmer entkorkte er eine, goss sich ein und startete die CD mit Orgelmusik von Bach. Das unerfreuliche Gespräch mit Marion, seine Ängste, den Kindern wieder nicht gerecht zu werden, seine Unfähigkeit, das praktische Leben zufriedenstellend zu meistern, das alles löste sich auf in der unendlichen Klarheit der bachschen Musik.

Tagebuch - 21.2.

Heute war es wieder ganz schlimm. Vater hörte mich englische Vokabeln ab. Lange habe ich alle gewußt. „Freu dich nicht zu früh. Ich finde sicher welche, die du nicht kannst“, hat er dann gesagt und hat böse gelacht. Dann wußte ich nicht, was „siegen“ heißt. Vater wurde zornig und fragte weiter, immer schneller. Und dann wußte ich auch nicht, was „Vaterland“ heißt. Da riß er mich von meinem Stuhl hoch und verprügelte mich in seinem Arbeitszimmer mit seinem Gürtel. Als er endlich fertig war, stieß er mich mit dem Fuß aus dem Zimmer. Ich fiel hin. Jetzt tut der Arm furchtbar weh. Und dann hat mich noch mein Bruder einfach ausgelacht. Ihn schlägt Papa nie.

1 Gemeint ist Theodor Adorno

2 Schubert war gemessen an seiner Lebenszeit der mit Abstand produktivste Komponist der Musikgeschichte.

3 Siehe erster Fall: „Schlag auf Schlag“

4 Die im Folgenden angeführten Gerichte sind allesamt der originalen Speisekarte entnommen.

Waldesruh

Подняться наверх