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ОглавлениеNach Adalbert Schittenhelm besuchten die beiden Kommissare dessen Cousin Waldemar. Sie erlebten ihn als aalglatt und völlig selbstbeherrscht. Seine Aussage war mit der seines Cousins nahezu deckungsgleich. Die Absprache war offensichtlich.
Danach wollten sie auch noch Ansgar Schittenhelm, dem Dorfpatriarchen, einen Besuch abstatten. Der hatte zwar den Drohbrief nicht unterschrieben, nahm aber in Waldesruh offenbar eine herausragende Position ein. So musste er von der Aktion wissen, wenn er sie nicht sogar selbst initiiert hatte.
Sein Anwesen lag gut hundert Höhenmeter über dem Dorf und war über eine enge Serpentinenstraße zu erreichen. Es war hier wohl länger niemand mehr hochgefahren, denn hohe Schneeverwehungen erschwerten den Aufstieg und sie hatten nasse Füße, lange bevor sie oben ankamen. Die Betonmauer um das Areal war sicher gut drei Meter hoch, auf der Mauerkrone mit spitzen Glasscherben versehen. Durch ein breites, zweiflügliges Tor aus massivem Stahl konnte man ins Innere gelangen. Grellrote Scheinwerfer gaben Tor und Mauern ein martialisches Gepräge.
Brombach und Travniczek sahen sich kopfschüttelnd an.
„Hast du so etwas schon mal gesehen?“, fragte Brombach.
„Nicht bei einem Wohnhaus.“
„Wenn das hier dem Charakter des Hausherrn entspricht, können wir uns auf was gefasst machen.“
Travniczek lachte. „Das fürchte ich auch. Der Mann muss unglaubliche Angst haben.“
„Wovor? Dass jemand eindringt oder dass jemand wegläuft? Mir kommt hier schon die Assoziation ‚Hochsicherheitstrakt‘.“
Sie näherten sich dem Tor. Brombach zeigte nach oben. „Überwachungskameras. Die folgen genau unseren Bewegungen. Drinnen hat uns schon längst jemand im Visier.“
Travniczek entdeckte eine Klingel nebst Sprechanlage. Erstaunlich schnell meldete sich jemand: „Jeremias Kippenhan. Was führt Sie zu uns?“
Die Stimme wirkte geschäftsmäßig nüchtern.
„Joseph Travniczek, Kripo Heidelberg. Wir würden gern Herrn Ansgar Schittenhelm sprechen.“
„Halten Sie bitte Ihren Dienstausweis vor die Kamera, der Ring oberhalb des Lautsprechers.“
Travniczek tat, wie ihm geheißen.
„In Ordnung. Aber was Herrn Schittenhelm angeht, da muss ich Sie enttäuschen. Wegen des Schnees ist er unten in der Firma geblieben, in Leimen. Aber ich bin, wie man so sagt, seine rechte Hand. Vielleicht kann ich Ihnen auch weiterhelfen. Das Tor wird sich sofort öffnen.“
Mit leisem Surren drehten sich die beiden schweren Torflügel langsam nach innen und gaben den Blick auf das herrschaftliche Haus frei. Ein wahrer Palast. An einen würfelförmigen Mittelbau mit Kuppeldach schlossen sich zwei etwas niedrigere Seitenflügel an. Der Bau war dreistöckig, wobei das Parterre eine Art Keller zu sein schien. Es hatte nur wenige kleine Fenster und die waren vergittert.
Eine großzügige Freitreppe führte zum Eingang, der wie die Stirnseite eines griechischen Tempels nach der korinthischen Ordnung angelegt war.
An der monumentalen hölzernen Eingangstür, deren Fenster durch schmiedeeiserne Gitter mit höchst differenzierter floraler Ornamentik gesichert waren, empfing sie Herr Kippenhan. Er mochte Anfang fünfzig sein, gedrungen, aber muskulös. Sein Gesicht erinnerte Travniczek an einen Dobermann.
„Ich freue mich, Sie im Hause Schittenhelm begrüßen zu dürfen. Kommen Sie bitte weiter.“
Aus der Stimme hörte Travniczek eine seltsame Mischung aus Unterwürfigkeit und Arroganz.
Über eine breite Marmortreppe durch ein Spalier fein ziselierter silberner Kerzenleuchter gelangten sie in sein Büro. Es war überraschend spartanisch ausgestattet: funktionale Sachlichkeit. Ein großer Schreibtisch mit einem bequemen Stuhl, nüchterne Metallschränke, gefüllt mit Aktenordnern, unter den Fenstern ein Sideboard, dann noch ein Glastisch mit vier Stühlen, das Ganze im kalten Licht zweier Neonröhren.
Er forderte sie auf, an dem Tisch Platz zu nehmen.
„Was kann ich Ihnen zu trinken anbieten? Vielleicht einen Whisky? Ich habe da einen edlen Wild Turkey Rare Breed hier, oder wäre eher ein französischer Rotwein genehm, z. B. ein Château Mouton-Rothschild Premier Grand Cru Classé Jahrgang 20023?“
„Nein, danke“, wehrte Travniczek ab und sah im Augenwinkel die Enttäuschung seines Kollegen, der sehr wohl verstand, was Kippenhan ihnen da anbot. „Im Dienst keinen Alkohol. Aber ein Glas Wasser wäre nicht schlecht.“
Etwas enttäuscht holte Kippenhan eine Flasche San Pellegrino aus dem im Sideboard verborgenen Kühlschrank, griff im Fach daneben nach drei Gläsern und stellte alles auf den Tisch, ohne selbst einzuschenken.
„Jetzt bin ich aber sehr neugierig, was die Kriminalpolizei von uns will. Sie sind doch hoffentlich nicht von der Steuerfahndung,“ meinte er augenzwinkernd.
„Nein, da kann ich Sie beruhigen“, übernahm jetzt Brombach die Gesprächsführung. „Wir sind von der Mordkommission.“
Kippenhan erschrak oder tat zumindest so.
„Sie suchen doch nicht etwa bei uns nach einem Mörder?“
„Sie wissen, was heute Nachmittag im Dorf passiert ist?“, warf Travniczek unvermittelt ein. Ohne mit der Wimper zu zucken, antwortete Kippenhan: „Heute Nachmittag? Im Dorf? Nein, ich habe da nichts beobachtet.“
„Das ist aber schon sehr merkwürdig“, übernahm jetzt wieder Brombach. „Es hat doch eine große Aufregung gegeben.“
Kippenhan sah die beiden Kommissare fragend an.
„Es gab einen Mordanschlag – auf Herrn Dieter Maurischat“, sagte Travniczek ganz nüchtern. „Glücklicherweise ist er fehlgeschlagen. Aber immerhin musste Herr Maurischat ins Krankenhaus gebracht werden.“
Kippenhan schien jetzt ehrlich erschrocken. „Das ist ja fürchterlich! Wissen Sie schon, wer es war? Doch wohl niemand aus dem Dorf?“
Travniczek zog sein Notizbuch aus der Tasche und schrieb etwas hinein, ehe er fortfuhr.
„Das wissen wir noch nicht. Wir beginnen erst zu ermitteln, deswegen sind wir auch hier.“
„Wollen Sie damit etwa sagen, dass …“
„Ich will damit gar nichts sagen. Ich frage Sie nur, ob Sie eine Idee haben, wer das getan haben könnte.“
Kippenhan überlegte eine Weile.
„Nein, da kann ich mir niemanden vorstellen.“
„Aber Sie wissen doch sicher“, warf jetzt wieder Brombach ein, „es gibt im Dorf einen heftigen Aufruhr, weil Wolfgang Maurischat nach zehn Jahren Haft wieder bei seinem Vater eingezogen ist?“
„ Ja, das ist mir bekannt. Aber glauben Sie mir, ich kenne die Leute hier seit langem. Das wird sich bald legen.“
„Da wäre ich nicht so sicher. Kennen Sie dieses Schriftstück?“
Brombach legte ihm den Drohbrief vor. Kippenhan las ihn aufmerksam, wohl mehrere Male. Spielte er einfach Theater oder kannte er den Brief tatsächlich noch nicht?
„Das ist ja ein übles Pamphlet“, gab sich Kippenhan entrüstet.
„Sie sehen, wer alles unterschrieben hat“, sagte Travniczek. „Fast das ganze Dorf“, ergänzte Brombach.
Kippenhan überflog die Unterschriftenliste.
„Das hat wohl wieder Adalbert inszeniert, der Sohn vom Chef. Der wird dann mal wieder dazwischenfahren müssen.“
„Muss Ihr Chef oft ‚dazwischenfahren‘?“
Kippenhan ärgerte sich über seine unbedachte Äußerung.
„Lassen wir das jetzt. Das sind Familienangelegenheiten, die nicht hierhergehören. Ich hoffe nur, dass Sie jetzt keine falschen Schlüsse ziehen. Adalbert ist zwar ein Feuerkopf, der manchmal handelt, ohne an die Folgen zu denken. Aber er ist mit Sicherheit kein Mörder.“
„Wer dann? Den Drohbrief haben fast alle Bürger von Waldesruh unterschrieben. Haben Sie eine Idee, wer von ihnen als Mörder in Frage käme?“
„Nein, habe ich nicht. Wir leben hier oben recht isoliert, kümmern uns kaum um das, was im Dorf vorgeht. Viele Namen auf Ihrer Liste kenne ich nicht mal, und schon gar nicht die Personen, die dahinterstehen.“
„Meinen Sie, dass Ihr Chef da besser Bescheid weiß?“
„Mit Sicherheit nein. Eher noch weniger.“
Travniczek beendete hier das Gespräch. Es war klar, mehr war aus Kippenhan im Augenblick nicht herauszubekommen.
Als das schwere Stahltor sich wieder hinter ihnen geschlossen hatte, meinte Brombach mit Wut im Bauch: „Der lügt doch wie gedruckt!“
„Natürlich, ich glaub ihm gar nichts. Aber der ist aalglatt und mit allen Wassern gewaschen. Es wird schwer werden, dem eine Lüge nachzuweisen.“
„Und er ist nur der Assistent. Wie ist dann erst der Alte selbst?“
„Wir werden ihn bald kennenlernen. Das wird ein heißer Tanz.“
Brombach hörte nicht mehr zu. Er war mit seinen Gedanken schon ganz woanders.
„Da ist noch etwas“, sagte er dann. „Ich weiß nicht, ob es dir auch aufgefallen ist.“
„Was meinst du?“
„Die Kellertreppe. Sie ist genauso edel ausgestattet wie das übrige Treppenhaus. Ist das nicht merkwürdig?“
Travniczek überlegte einen Moment.
„Zunächst zeigt das doch nur, der Schittenhelm stinkt vor Geld und will das jedem Besucher zeigen.“
Brombach schüttelte unwillig den Kopf. „Sorry, das reicht mir nicht als Erklärung. Die Treppe führt auf eine sehr edle Wohnungstür zu. Dort unten ist nicht nur einfach ein Keller.“
„Was sonst noch?“
„Was weiß ich? An der Außenwand sind da aber nur ein paar kleine vergitterte Fenster. Das passt doch nicht zusammen.“
Travniczek wurde nachdenklich. „Da könnte etwas dran sein.“
„Da würde ich gern gleich mal nachsehen.“
„Das glaub ich dir. Aber bitte nicht wieder im Alleingang. Du weißt, Solms schickt dich sonst zur Verkehrspolizei.“4
„Aber mit diesem Haus ist irgendetwas nicht in Ordnung, da möchte ich wetten.“
„Da kannst du recht haben. Aber ich sage dir, wir werden ganz eindeutige Indizien brauchen, um da einen Durchsuchungsbefehl zu bekommen.“
Einigermaßen frustriert stapften sie durch den tiefen Schnee zurück. Sie hatten nichts erfahren, was sie weitergebracht hätte.
Es war dreiviertel elf. Travniczek setzte einen Rundruf in Gang, dass sich alle um 23 Uhr 15 zu einer Abschlussbesprechung bei Maurischat treffen sollten.
Sie kamen als Erste an und mussten mehrmals klingeln, bevor Maurischat aufmachte. Er war eingeschlafen. Nacheinander trudelten die Anderen ein. Sie hatten ihre Listen weitgehend abarbeiten können.
Zuerst berichtete Brombach, was Adalbert Schittenhelm ausgesagt hatte. Schnell stellte sich heraus, dass alle Aussagen damit nahezu identisch waren. Niemand wollte etwas gesehen oder gehört haben. Alle hatten für die fragliche Zeit ein Alibi, das sie sich gegenseitig gaben. Die Einschätzung von Adalbert Schittenhelm, dass und warum keiner der Bürger von Waldesruh als Täter in Frage kam, wurde durchgängig vorgetragen. Die Streifenpolizisten hatten also richtig beobachtet. Sie stießen auf Absprachen, Lügen und Mauern.
„Das werden sicher noch ganz schwierige Ermittlungen“, fasste Travniczek resigniert zusammen. „Wenn wir morgen die Vernehmungsprotokolle genau untersuchen, können wir vielleicht den einen oder anderen Widerspruch feststellen und daran ansetzen. Aber groß ist meine Hoffnung da nicht. Eine Frage noch: Gab es Auffälligkeiten im Verhalten der Vernommenen, also Personen, die besonders ängstlich beziehungsweise unsicher wirkten oder umgekehrt besonders selbstsicher?“
Auch da hatten die Ermittler wenig Greifbares herausgefunden. Mampel, der Exkommissar, sei sehr laut und auch beleidigend gewesen: Die heutige Kripo hätte eh keine Ahnung, wie man vernünftig ermittle. Auf der anderen Seite habe Jauerneck, der Ortsvorsteher, sehr nervös gewirkt und Eberhard Kurz habe ganz offen zugegeben, dass er den Brief nur wegen des Gruppenzwangs unterschrieben habe. Er wohne erst seit kurzem in Waldesruh und wolle einfach dazugehören. Und vom Maler Mostacci sagten sie, er habe sich über die Ermittlungen nur lustig gemacht.
„Also, diese vier werden wir uns dann auf jeden Fall noch einmal vorknöpfen“, meinte Travniczek. „Vielleicht fallen die ja um. Aber für heute machen wir Schluss.“
Travniczek veranlasste noch, dass bis auf weiteres ein Streifenwagen vor Maurischats Haus Position beziehen sollte.
Kurz vor Mitternacht brachen die Polizisten endlich auf. Als sie die Haustür öffneten, fiel ein Blatt Papier auf den Boden, das wohl jemand in die Türritze geklemmt hatte. Brombach hob es auf.
„Ein Brief“, sagte er und trat zurück in den Flur, um besser lesen zu können. „Handschrift ziemlich ungelenk, könnte von einem Kind stammen.“
„Und was steht da?“, fragte Travniczek.
Brombach las und schüttelte den Kopf. „Lies selbst!“
Bitte helfen Sie uns! Hier herrscht die Hölle,
schon seit Jahrzehnten!
Tagebuch - 19.2.
Weil mir noch alles furchtbar weh tat, bin ich heute Morgen ganz früh aufgewacht. Es war noch stockdunkel. Ich konnte nicht mehr einschlafen. Mir fiel eine ganz alte Geschichte ein. Lange bevor ich in die Schule gekommen bin. Wir waren am Meer. Vater wollte unbedingt, daß ich schwimmen lerne. Aber ich hatte solche Angst. Da zog Vater mich hinaus ins tiefe Wasser. Plötzlich ließ er mich los. Ich zappelte und schrie, konnte mich aber nicht über Wasser halten. Vater ließ mich untergehen und zog mich erst nach einer Weile wieder hoch. Er schrie mich an: „Du sollst schwimmen!“ Und er gab mir zwei Ohrfeigen. Dann ließ er mich wieder los. So ging das ein paarmal. Dann kam plötzlich ein Mann herbeigeschwommen. „Sie hören damit sofort auf!“, schrie er Vater an. „Sonst rufe ich die Polizei.“ Polizei – davor hatte Vater Respekt. Er schwamm mit mir zurück. Am Abend hat er mich dann aber wieder verhauen. Und ich hatte doch gar nichts gemacht.
1 KDD = Kriminaldauerdienst, eine Gruppe von Kriminalisten, die keinem Kommissariat zugeordnet ist, sonst nach Bedarf eingesetzt werden kann. Ist rund um die Uhr einsatzbereit.
2 Siehe erster Fall: „Schlag auf Schlag“
3 Beide Getränke kosten je Flasche weit über 100 €
4 Siehe: dritter Fall: „Metastasen eines Verbrechens“