Читать книгу Waldesruh - Christoph Wagner - Страница 13

Dienstag, 30. Dezember 2014 6

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Das Wetter hatte sich über Nacht gedreht. Nach mehreren Tagen Dauerschneefall schien die Sonne vom klarblauen Himmel und tauchte die Stadt in eine so nur selten zu sehende weiß glitzernde Pracht.

Travniczek kam nach seinen freien Tagen wieder ins Präsidium, fand aber keine Arbeit vor, die nicht bis nach Neujahr hätte warten können. Er musste schmunzeln bei dem Gedanken, dass die Mörder und Totschläger zwischen den Jahren wohl auch Pause machten. So plauderte er längere Zeit mit seiner Sekretärin Melissa Siebert darüber, was sie Schönes an Weihnachten gemacht hätten. Sein Kollege Michael Brombach hingegen saß einsilbig am Computer und arbeitete verbissen irgendwelche alten Sachen ab. Travniczek ließ ihn in Ruhe, denn er hatte gemerkt, dass er schlechtgelaunt war. Kurz vor Weihnachten war wohl eine Beziehung, die hoffnungsvoll begonnen hatte, wieder in die Brüche gegangen. Und das war nicht die erste.

Martina Lange, die auch zum Team gehörte, war noch eine Woche in ihrem alljährlichen Taucherurlaub auf den Seychellen.

Schon vor dem Mittagessen ging er wieder nach Hause, Überstunden abfeiern, wie er Brombach beim Verlassen des Büros zurief, wobei „abfeiern“ die Sache nicht ganz traf. „Minimal reduzieren“ wäre zutreffender gewesen.

Im Laufe des Vormittags hatte er bereits unauffällig die Akte Maurischat aus dem Archiv geholt. Die wollte er zu Hause in Ruhe durchsehen. Aber da seine Nachbarn immer noch alle in Urlaub waren, musste er einen Teil des freien Nachmittags unbedingt nutzen, um noch einmal ausgiebig Klavier zu spielen.

Die große Schubertsonate, die er tags zuvor gespielt hatte, wollte er jetzt weiter studieren. Als Fünfzehnjähriger hatte er sie bei einem Klavierabend mit Svjatoslav Richter1 gehört. Das hatte ihn so erschüttert, dass er mehrere Tage nicht in die Schule gehen konnte. Seitdem hatte er sie immer mal wieder oberflächlich durchgespielt, aber nie gewagt, tiefer in ihre Geheimnisse einzudringen. Er fürchtete sich vor der Wucht ihrer Emotionen.

Zu Hause angekommen setzte er sich sofort ans Klavier und begann zu spielen. Am Ende des ersten Teils des ersten Satzes2 brach er ab und verfiel in Nachdenken. Er wollte Schubert auf die Spur kommen. Wie ließ er diese ganz spezielle intensive Gefühlswelt entstehen, diese Mischung aus eigentlich Unvereinbarem: tiefste Traurigkeit mit schon fast überirdischer Freude, unendliche, unstillbare Sehnsucht nach Leben, Verzweifeln an der Wirklichkeit und dann immer wieder diese tiefe Angst?

Schon am Vortag war er sich über den ersten Abschnitt klargeworden: Einer Melodie, in der, wie er fühlte, Schubert akzeptierte, dass das Leben vorbei war, folgte eine Entwicklung, die Neues erwarten ließ, aber stattdessen nur zu einer Bekräftigung des schon Gesagten führte. Doch dann eine wahre Eruption: Unvorbereitet brach ein geradezu mystischer Klang3 in die Musik ein, der alles bisher Gesagte radikal in Frage stellte. Daraus entstand durch hämmernde Tonwiederholungen, brutale Akkordschläge, Steigerung ins Fortissimo für Sekunden höchste Dramatik, die die Schönheit der Musik buchstäblich zerschlug, mit geballter Wucht eine dicke Mauer zu durchbrechen schien und den Spieler in die Welt einer völlig abseitigen Tonart (ges-Moll) warf.

Tiefer kann man gar nicht fallen, fand Travniczek und staunte, wie Schubert eine Welt des Ungewissen entstehen ließ: Ganz leise erklangen gleichzeitig zwei verschiedene Melodien. Die eine suchte mit ihren ständig aufsteigenden Linien endlich wieder Lebensfreude, doch die absteigende zweite Linie verharrte in resignierender Apathie. Und in diesen Passagen wechselte die Musik dann wie ein Chamäleon ganz unmerklich ihre Farbe4 und er meinte plötzlich in hellem Licht zu stehen, so als ob ein Bergsteiger beim Aufstieg durch eine Regenfront über die Wolken gekommen war ins helle Licht der Sonne.

Hier brach Travniczek ab. Wie konnte ein Mensch angesichts des gewissen, viel zu frühen Todes zu einer so hoch differenzierten Gefühlsdarstellung finden? Denn er kannte das künstlerische Gesetz, nach dem ein Gefühl nur derjenige gestalten kann, der es überwunden hat. Oder kam diese Musik einfach rein aus der Intuition, ohne jede gedankliche Arbeit? Aber wer war dann ihr eigentlicher Schöpfer?

Innerlich aufgewühlt begann Travniczek wieder zu spielen, den ganzen langen ersten Satz.

Dann schlug er die Noten zu, ging in die Küche, um sich einen ordentlichen Kaffee zu kochen. Er wollte jetzt endlich die Akte Maurischat studieren.

Aber noch ehe der Kaffee fertig war, kreisten seine Gedanken mal wieder um sein eigenes Familiendesaster. Bernhards Schilderung der Situation in München hatte ihn bedrückt, aber auch nervös gemacht. Wie sollte er jetzt vorgehen? Er musste endlich den ersten Schritt tun und Julia anrufen. Und wenn sie nicht ans Telefon kam?

Er goss sich Kaffee ein, setzte sich ins Wohnzimmer und öffnete die Akte Maurischat. Er erschrak. Auf der ersten Seite war ein Foto von Berit. Sie sah seiner Julia sehr ähnlich. Natürlich war das Zufall. Dennoch spürte er seinen Puls sehr viel schneller gehen.

Aber warum war ihm dieses fremde Mädchen jetzt plötzlich wichtiger als seine Tochter?

Darüber wollte er aber nicht weiter nachdenken. Er musste jetzt einfach wissen, was es mit dem Fall Maurischat auf sich hatte.

Sei vorsichtig und lies sehr kritisch, forderte er von sich, denn du bist nicht mehr unvoreingenommen. Du hast zu Maurischat spontan Vertrauen gefasst, ohne über den Fall wirklich Bescheid zu wissen. Du hast Mitleid mit dem verzweifelten Vater, hast ihm Hoffnungen gemacht. Aber natürlich könnte es auch sein, dass Maurischat senior einfach nicht imstande war zu akzeptieren, dass sein Sohn tatsächlich ein Mörder ist.

Er wollte die Akte zuerst daraufhin prüfen, ob seitens der Ermittler auch gewissenhaft nach Material gesucht worden war, das Wolfgang Maurischat entlastete. Das musste ja grundsätzlich bei allen Ermittlungen geschehen, war aber bei einem Indizienprozess ohne Leiche und Geständnis von ganz besonderer Bedeutung.

Schnell erkannte er, dass genau das nicht geschehen war. Er musste nach Ermittlungsfehlern gar nicht suchen, sie sprangen unmittelbar ins Auge. Fehler Nummer eins: Nachdem sie Maurischats Auto bei Mosbach gefunden hatten, wurde es natürlich gründlich auf Spuren untersucht. Dabei wurde auch genügend DNA-Material gefunden, das weder Berit noch jemandem von der Familie Maurischat zuzuordnen war. Die Ermittler gaben sich mit der Aussage von Maurischat zufrieden, dass oft auch andere Personen in dem Auto mitgefahren seien. Natürlich hätte man klären müssen und können, wer das alles war, um festzustellen, ob nicht doch Fremdmaterial dabei war.

Der zweite Fehler war ein richtig dicker Hund. Am Lenkrad hatte man zwar nur Fingerabdrücke von Wolfgang und seinem Vater gefunden. Die seien aber sehr verwischt gewesen. Das war ein nahezu sicheres Indiz dafür, dass zuletzt jemand am Steuer saß, der Handschuhe getragen haben musste, und das im Sommer. Dem war man aber überhaupt nicht nachgegangen. Unglaublich!

Völlig katastrophal war der Umgang mit den Zeugenaussagen von Adalbert und Waldemar Schittenhelm. Die hatten sich erst gemeldet, nachdem das Auto gefunden worden war. Warum erst da? Danach hätte gefragt werden müssen. Fehlanzeige! Und außerdem: Waldemar Schittenhelm war nach eigener Aussage zum Tatzeitpunkt Berits Freund. Dadurch war er kein neutraler Zeuge mehr, sondern Teil des Falls. Die Ermittler hätten daher seine Aussage genau überprüfen müssen. Bei Lichte betrachtet stand ja Aussage gegen Aussage. Die Eltern von Wolfgang Maurischat gaben ihrem Sohn ein Alibi. Es konnte nur entweder dieses Alibi stimmen oder die Aussagen der Schittenhelms. Diese hätten aber auch Schutzbehauptungen sein können. Es war ja zumindest denkbar, dass Waldemar Schittenhelm mit Berit in Streit geraten war und sie dabei getötet hatte. Man hätte die DNA-Spuren im Auto der Maurischats mit denen der Schittenhelms unbedingt abgleichen müssen. Nichts dergleichen war geschehen.

Die Aussage von Waldemar Schittenhelm, zum Tatzeitpunkt sei er bereits der Partner von Berit gewesen, war auch nicht näher überprüft worden. Travniczek fand dazu lediglich eine einzige Zeugenaussage – die von seinem Cousin Adalbert Schittenhelm! Und das, obwohl Wolfgang dieser Behauptung vehement widersprochen hatte. Das war aktenkundig. Zudem hatte Wolfgang noch ausgesagt, Berit hätte vier Wochen vor ihrem Verschwinden Waldemar Schittenhelm in der Diskothek Tarantella vor allen Leuten geohrfeigt, weil er sie begrabscht hätte. Auch dem war keine Beachtung geschenkt worden. Die Ermittler hatten gar nicht erst nach weiteren Zeugen für diesen Vorfall gesucht.

So viele Ermittlungsfehler zuungunsten von Wolfgang Maurischat in einem reinen Indizienprozess, das konnte keine reine Schlamperei mehr sein. Das hatte Methode. Offenbar war Wolfgang Maurischat ein willkommener Täter. Hier war irgendjemand gedeckt worden.

Ein gewisser Sigismund Mampel hatte damals die Ermittlungen geführt. Der Name sagte ihm nichts. Der musste also schon lange vor seiner Zeit Heidelberg verlassen haben oder in Pension gegangen sein.

Er rief Brombach an, denn der kannte die Szene hier schon viel länger. Und der erinnerte sich in der Tat. Dieser Mampel habe fast neun Monate lang die Mordkommission geleitet, als Bamberger, der damalige Chef, schwer erkrankt war. Das war ganz am Anfang seiner Zeit in der Mordkommission. An den Fall Maurischat erinnerte er sich aber nicht mehr. Travniczek bat ihn herauszufinden, was Mampel sonst bei der Kripo gemacht hatte, wann er in den Ruhestand gegangen war und wo er jetzt wohnte. Brombach wollte sofort recherchieren und sich dann gleich wieder melden.

Travniczek pfefferte die Akte auf den Boden und kochte sich einen frischen Kaffee. Wenn ihn etwas richtig in Rage bringen konnte, dann waren es schlampige Ermittlungen. Begriffen diese Kollegen nicht, dass sie damit Menschenleben zerstören konnten? Und dann beschwerten sie sich auch noch, wenn die Bürger kein Vertrauen in die Polizei hatten. Er konnte Maurischats Zorn nur zu gut verstehen.

Er trank seinen Kaffee, fühlte sich danach aber auch nicht besser. Denn je länger er über die Sache nachdachte, umso wütender wurde er. Da war ja nicht nur der Pfusch bei den Ermittlungen, auch irgendein Staatsanwalt hatte darauf seine Anklage aufgebaut. Der hätte die Akten den Ermittlern um die Ohren hauen müssen. Und dann ist der Fall vor einer Landgerichtskammer verhandelt worden. Die Richter hatten also auch nichts gemerkt.

Und der Anwalt von Wolfgang Maurischat? Entweder war das eine völlige Niete oder es gab nur einen Pflichtverteidiger, der seinen Job nicht ernst nahm.

Oder – waren alle einfach gekauft? Ja, was war denn das hier, eine Bananenrepublik?

Brombach rief zurück: „Dieser Mampel ist August 2004 in Pension gegangen. Vorher war er bei der Mordkommission Karlsruhe. Und jetzt wohnt er in einem Ortsteil von Heiligkreuzsteinach. Waldesruh heißt das. Übrigens, ich erinnere mich noch gut: Dieser Mampel war ein echter Kotzbrocken.“

Also das war doch nun mehr als merkwürdig. Der angebliche Täter stammte aus Waldesruh, die Hauptbelastungszeugen stammten aus Waldesruh und der Leiter der Ermittlungen ebenfalls. Dabei lief einiges völlig falsch. Hatte da irgendeine Dorfintrige eine zentrale Rolle gespielt, die mit dem eigentlichen Fall überhaupt nichts zu tun hatte? Waren etwa Richter, Staatsanwalt und Verteidiger auch aus Waldesruh? Aber um das herauszufinden, musste er die Gerichtsakten einsehen. Doch da kam er ohne offizielles Ermittlungsverfahren nicht ran.

Dazu musste er neue Indizien finden. … Das Auto! Die dort sichergestellten DNA-Spuren mussten noch in der Asservatenkammer aufbewahrt werden. Wenn er nachweisen könnte, dass mindestens einer von den Schittenhelms im Auto von Maurischat gewesen war, brach das ganze Gebäude von der Schuld Wolfgang Maurischats in sich zusammen. Dann wären die beiden nämlich die Hauptverdächtigen und Maurischat wäre aus dem Schneider.

Aber war das Material tatsächlich noch vorhanden?

Er griff zum Telefon und rief Polizeiobermeister Bastorf an, der die Asservatenkammer verwaltete. Der versprach, gleich zu suchen, es könne aber eine Weile dauern. Er würde zurückrufen.

Travniczek kochte sich noch einen Kaffee, und plötzlich waren seine Gedanken wieder bei seiner Tochter. Vielleicht war es doch gut, dass er sie nicht gleich angerufen hatte. Er musste erst Klarheit bekommen, was an Florians Übergriffigkeit tatsächlich dran war. Natürlich glaubte er seiner Tochter. Aber er wusste aus seiner Berufserfahrung nur zu gut, dass vor allem in der Pubertät frei erfundene Vorwürfe sexueller Belästigung häufiger sind, als viele denken.

Also doch erst mit Marion telefonieren? Konnte er sie dazu bringen, Julias Anschuldigungen wenigstens ernst zu nehmen? Ihm graute davor. Mit ziemlicher Sicherheit konnte sie diesen Gedanken gar nicht zulassen, weil sie viel zu viel Angst hatte, auch ihr neues Leben könnte zerbrechen. Zur Abwehr würde sie ihn dann sicher mit einer Kaskade von Vorwürfen überschütten.

Aber Bernhard hatte doch recht. Julia musste dort auf jeden Fall raus, also zu ihm. Dann würde Christian, sein Jüngster, mitkommen, da war er sicher. Und er als alleinerziehender Vater mit drei Kindern?

Das Telefon unterbrach seine Gedanken. Bastorf meldete sich wieder und wirkte irgendwie verunsichert.

„Herr Hauptkommissar, die Sache ist etwas undurchsichtig.“

„Aha, inwiefern?“

„Wir haben hier nichts mehr zum Fall Maurischat.“

„Wie kann das sein?“

Bastorf zögerte etwas. „Das ist es ja. Eigentlich kann das gar nicht sein. Der Eingang der Sachen ist ordnungsgemäß registriert. Wenn jemand etwas entnommen hätte, müsste das im Computer festgehalten sein. Es ist dort aber keine Entnahme vermerkt.“

„Und das heißt?“

„Entweder die Sachen sind irgendwo an völlig falscher Stelle aufbewahrt. Aber das ist in meiner Zeit, also seit dreizehn Jahren, noch nie vorgekommen.“

„Oder?“

„Jemand hat die Sachen weggenommen, ohne dass es vermerkt wurde.“

„Heißt im Klartext, jemand hat die Sachen einfach verschwinden lassen.“

„So sieht es aus.“

Tagebuch - 29.12.

Die Geschichte mit Waldi ging noch weiter. Ich habe ihn am nächsten Tag, als Vater auf der Arbeit war, in unserem Garten begraben. Ganz hinten in der Ecke, neben dem Salat und den Tomaten. Dann habe ich zwei Zweige zu einem kleinen Kreuz zusammengebunden. Und das habe ich auf Waldis Grab gestellt. Ich habe Mama gefragt, ob Hunde in den Himmel kommen. Sie wußte es aber nicht. Erst zwei Tage später entdeckte Vater das Grab. Er war furchtbar wütend.

Wenn man einem Hund ein Kreuz auf das Grab stellt, dann ist das Gotteslästerung, hat er gesagt. Ich wußte gar nicht genau, was das ist. Er hat mir dann befohlen, den toten Waldi wieder auszugraben und in den Mülleimer zu werfen. Da gehören diese Viecher hin, hat er gesagt. Dennoch mußte ich froh sein. Er hat mich diesmal nicht geschlagen.

Am nächsten Tag habe ich den toten Waldi wieder aus dem Mülleimer geholt, bin in den Wald gelaufen und habe ihn dort vergraben, und das Kreuz draufgestellt.

Vater hat das Grab nie entdeckt. Ich war sehr froh.

1 Svjatoslav Richter (1915 – 1997) zählt zu den bedeutendsten Pianisten des 20. Jahrhunderts. Eine Aufnahme der Schubertsonate B-Dur mit Richter 1972 in Prag: https://www.youtube.com/watch?v=ZbJtHzaFpBQ

2 Fachbegriff: Exposition

3 Fachbegriff: Verminderter Septakkord

4 Fachbegriff: Enharmonische Verwechslung

Waldesruh

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