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Silvesternacht 7
ОглавлениеNoch zwei Stunden bis zum Beginn des neuen Jahres. Vater und Sohn Travniczek waren unterwegs, um vom Philosophenweg* aus das mitternächtliche Feuerwerk über Heidelberg zu genießen. Die Luft war eiskalt, aber klar. Es war eine helle Nacht, denn der Dreiviertelmond stand am wolkenlosen Himmel über dem Königstuhl und sein Licht wurde vom Schnee tausendfältig reflektiert.
Menschenmassen strömten nach oben. Es war, als hätte sich eine Völkerwanderung in Bewegung gesetzt. Aber trotzdem konnten sie gerade noch in Höhe der Alten Brücke* einen Platz in der vordersten Reihe ergattern.
Sie sahen Leute, die ganze Raketenarsenale mitgebracht hatten. Schon jetzt krachten hin und wieder Böller, und vereinzelt gingen Raketen hoch. Der Alkohol floss in Strömen. Flaschen kreisten und es war laut um sie herum. Von allen Seiten hörten sie Lachen, Singen, Kreischen und Grölen.
Die beiden Travniczeks ließen sich noch nicht von dieser Stimmung einfangen, sondern steckten die Köpfe zusammen, um sich über private Dinge zu unterhalten. Bei dem Lärm um sie herum brauchten sie nicht zu befürchten, dass jemand Fremdes mithören könnte.
„Vadder, du machst mir echt Sorgen“, sagte Bernhard irgendwann.
„Das ist ja ganz was Neues. Bisher gab‘s immer nur die andere Richtung“, entgegnete der Senior amüsiert.
„Jetzt entzieh dich nicht. Ich mein das ganz ernst.“
„Soso, und was macht dir Sorgen?“
„Eben du. Du baust ab, bist immer öfter schlecht drauf, bist müde, tust nichts mehr in deiner Freizeit.“
„‚Nichts mehr‘ stimmt nicht“, wehrte sich der Senior. „Ich habe gerade in den letzten Tagen sehr viel Klavier gespielt.“
„O. k., Klavierspielen. Das ist auch so eine Autistenbeschäftigung. Aber wann hast du das letzte Mal Schach gespielt, bist in ein Konzert gegangen, hast Leute getroffen, ich meine, außer deinen lieben Kollegen?“
Dem Alten wurde etwas mulmig. Bernhard traf genau seinen wunden Punkt. Aber zugeben konnte er das natürlich nicht, schon gar nicht vor seinem Sohn.
„Hat sich eben nicht ergeben.“
„Ach, Quatsch! In München warst du in einem Schachclub. Hier hast du ja noch nicht einmal einen gesucht, immer nur davon geredet.“
„Ich habe immerhin schon ein paarmal mit Dr. Melchior gespielt. Ich werde halt auch nicht jünger.“
„Auch Quatsch. Du bist einundfünfzig, das ist doch noch kein Alter zum Schlappmachen. Du hast einen Job, der dir Spaß macht. Also, das kann’s nicht sein. Du musst was ändern, sonst wird das richtig schlimm.“
Bernhard machte sich ja ernsthaft Sorgen um ihn. Das rührte ihn und machte ihn froh. Doch noch konnte er seinen Sohn nicht wirklich ernst nehmen.
„Oh, du dilettierst als Psychotherapeut? Aber sag, was meinst du da genau? Soll ich anfangen, regelmäßig zu joggen?“
„Wär sicher auch nicht das Schlechteste. Aber du weißt genau, was ich meine.“
„Ich? Nee.“
„Verdammt, ich hab’s doch schon mehrmals gesagt. Du brauchst wieder ‘ne Frau.“
„Haha, du brauchst wohl unbedingt eine neue Mama?“
„Jetzt weichst du schon wieder aus. Mir könnte es ja eigentlich egal sein. Aber wenn ich da nichts verpasst hab, lebst du im Zölibat, seit du von München weg bist. Das kann doch nicht gutgehen. Guck dir die katholischen Priester an.“
Jetzt sah der Alte eine Chance zum Gegenangriff.
„Oh, was hat der Herr für eine Lebenserfahrung! Lernst du die in deinem Harem?“
„Lass die Mädels aus dem Spiel, das ist ein anderes Problem.“
„Natürlich, es ist deins, da ist immer alles anders.“
„Also, wenn du jetzt aufhörst, ständig zu kneifen, verspreche ich dir, wir können später auch über meinen Harem, wie du das nennst, reden. Da kann ich ja vielleicht wirklich deinen Rat gebrauchen.“
„Angenommen.“
„Gut. Dann Schluss mit dem Palaver. In einer Stunde beginnt das neue Jahr. Da wird alles anders. Als Erstes suchen wir dir eine Frau.“
„Hab ich da auch noch ein Wort mitzureden?“
„Sicher. Natürlich darfst du sie aussuchen.“
„Das ist ja sehr großzügig von dir.“
„Jetzt lass die Ironie. Mir ist es ernst.“
„Einverstanden. Und wo soll ich suchen?“
„Du hast doch ständig mit Menschen zu tun. Darunter wird’s doch gelegentlich attraktive und interessante Frauen geben.“
„Also, das geht jetzt gar nicht. Berufliches und Privates mischen in meinem Job, das gibt immer nur Ärger.“
„O. k., nachvollziehbar. Dann gibt’s aber doch jede Menge Internetportale.“
„Das ist ja fast so wie ‘ne Frau aus dem Versandhauskatalog.“
„Mann, bist du anspruchsvoll. Dann geht noch Kontaktanzeige. Selber eine schreiben oder auf eine antworten.“
Der Vater schwieg nachdenklich. Er merkte, dass er eigentlich gar nicht wusste, was er wirklich wollte.
„Dann kommt mir plötzlich noch ‘ne Idee. Ist vielleicht die beste von allen. Komisch, dass ich noch nicht früher darauf gekommen bin.“
Der Alte hatte das sichere Gefühl, dass diese Idee so spontan nicht war.
„Jetzt bin ich aber gespannt.“
„Du kennst doch den Spruch, wenn ich nicht irre, von Goethe: ‚Warum in die Ferne schweifen, sieh, das Gute liegt so nah.‘ Denk mal nach.“
„Wer soll das denn jetzt sein?“
„Hab ich mir fast gedacht, dass du auf die Idee gar nicht selber kommst. Was hältst du von Martina?“
Jetzt erschrak der Vater ehrlich.
„Wie bitte? Du willst mich mit meiner Kollegin verkuppeln?“
„Was heißt ‚verkuppeln‘? Ich hab dich gefragt, was du von ihr hältst.“
Nach einer kleinen Pause antwortete der Alte: „Also, als Kollegin schätze ich sie sehr. Sie ist hundertprozentig zuverlässig, arbeitet absolut sachbezogen und hat vor allem auch die Fähigkeit, in brenzligen Situationen intuitiv eine Lösung zu finden. Auf diese Weise hat sie in zwei der schwierigsten Fälle, die wir hier hatten, verhindert, dass sie in der Katastrophe endeten1. Und, wie du weißt, …“ seine Stimme wurde jetzt ganz leise „… hat sie mir auch einmal das Leben gerettet.“
„Das ist ja alles ganz schön und gut. Aber eigentlich interessiert mich was Anderes. Und das weißt du auch. Du bist doch schließlich auch ein Mann und ich kann mir nicht vorstellen, dass dir entgangen ist, wie attraktiv sie ist. Also, wenn ich zehn Jahre älter wär …“
„… würdest du sie mir nicht anbieten!“
„Red keinen Quatsch und weich nicht schon wieder aus! Ich will wissen, wie du als Mann auf sie reagierst. Also, stell dir einfach mal vor, mit ihr zu schlafen, mit ihr zusammenzuleben mit allem, was dazugehört. … Wie fühlt sich das an?“
Der Alte war verblüfft. So hätte er sich nie getraut, mit seinem Vater zu reden. Er wusste nicht recht, wie er antworten sollte. Bernhard ließ ihn schmoren und sagte jetzt auch nichts mehr. Es dauerte ein paar Minuten, ehe der Vater sagte: „Ich glaube, du würdest tatsächlich einen guten Kriminalisten abgeben, auch wenn dein erster Versuch in dieser Richtung so kläglich misslungen ist.“2
„Jetzt weichst du schon wieder aus.“
„Nein, nein, ich meine nur, dass du mich sehr geschickt an den Punkt geführt hast, wo ich ein Geständnis ablegen muss. Das ist die Hohe Schule der Verhörtechnik.“
Bernhard lachte.
„Dann gesteh!“
„Ich habe mir diese Fragen so noch nie gestellt, obwohl ich zugeben muss, dass sie tatsächlich naheliegen. Aber … ich habe da doch sicher gar keine Chance.“
Bernhard lachte.
„Warum hast du so wenig männliches Selbstbewusstsein? Wie ich das sehe, irrst du dich da.“
Der Alte stutzte.
„Du scheinst über Informationsquellen zu verfügen, die mir nicht zugänglich sind.“
„Na ja, du weißt, ich kenne Janine jetzt schon recht gut, und die hat ein sehr vertrauensvolles Verhältnis zu ihrer Mutter.“
„Aha, ich verstehe. – Aber ich brauche jetzt, ehrlich gesagt, eine Denkpause. Außerdem geht es auf Mitternacht zu.“
Der Alte wandte sich von Bernhard ab und sah auf die Stadt hinunter. Seine Gefühle fuhren Achterbahn. Verlor er gerade die Entscheidungshoheit über sein Leben? Wollten Bernhard und Janine seine Zukunft bestimmen? Hatten sie Martina gar schon überzeugt? Konnte er überhaupt noch nein sagen? Und vor allem: Wollte er das? Er fand keine Worte für die Gefühle, die ihn überschwemmten.
Immer häufiger stiegen jetzt Raketen in die Luft oder krachten schwere Böller, obwohl es noch mehr als zehn Minuten bis Mitternacht war. Travniczek war froh, dadurch seinen Gefühlswirrwarr etwas beiseiteschieben zu können.
Da stand ganz unversehens ein großer Mann mit langen ungepflegten Haaren und einem wirren Bart neben Travniczek, schwenkte in der Rechten eine große Flasche Rotwein und schlug ihm mit der Linken ohne Vorwarnung heftig auf den Rücken.
„Ich bin der Manfred. Und wer bist du?“, rief er laut, schon etwas lallend.
Travniczek war peinlich berührt. An sich war ihm so eine Annäherung äußerst zuwider. Er wollte aber in der aufgekratzten Stimmung nicht grob und abwehrend reagieren.
„Wir müssen Bruderschaft trinken“, redete der Mann weiter, ohne eine Antwort abzuwarten. Er setzte die Flasche an, nahm einen großen Schluck, rülpste laut und gab die Flasche an Travniczek weiter.
„Jetzt bist du dran.“
Der hielt die Flasche ganz nahe an seinen Mund und tat so, als würde er trinken.
„Danke.“ Und er gab ihm die Flasche schnell zurück. Da umarmte ihn der Mann, der immerhin einen guten Kopf größer war als er, und gab ihm einen feuchten Schmatzer auf die Wange.
„Also dann, Prost Neujahr! … Äh, jetzt hab ich vergessen, wie du heißt, … is auch egal …“
Er wandte sich ab und wankte weiter durch die Menge auf der Suche nach neuen Opfern.
Travniczek sah etwas verschämt zu seinem Sohn hin. Der grinste über beide Ohren. „Wird Zeit, dass wir dir ‘ne Frau suchen. Du fängst ja schon an, mit den Pennern zu schmusen.“
„Werd nicht frech“, flachste der Alte zurück, „sonst setzt’s ein paar hinter die Ohren.“
„Schlagen ist in der Erziehung verboten. Das musst du doch am besten wissen.“
Über der Stadt stiegen jetzt immer mehr bunte Feuerwerksraketen auf, begleitet von ohrenbetäubenden Böllerschlägen. Es schien heller zu werden, da der glitzernde Schnee jedes neue Licht vielfach reflektierte.
Da zog Bernhard eine Sektflasche aus der Manteltasche und machte sich am Korken zu schaffen.
„Gläser hab ich keine mitgenommen. Das muss dann eben so gehen.“
Der Korken knallte. Da begann die Menge mit dem Countdown für das Neue Jahr: „Zehn – neun – acht – …“ Mit jeder Zahl wurde es lauter. Das „Prost Neujahr“ klang dann schon fast wie eine Explosion. Vater und Sohn Travniczek umarmten sich und tranken ihren Sekt.
Von fast allen Punkten der Stadt wurden jetzt im Dauerfeuer Raketen gezündet, besonders viele von der Alten Brücke, den beiden Neckarufern und dem Schloss, auch vom Königstuhl* und der Molkenkur* und natürlich auch von hier oben am Philosophenweg. Gleich neben ihnen jagte einer eine Batterie nach der anderen in die Luft. Über die Stadt bis hinaus in die Rheinebene legte sich ein wogendes Meer aus buntem Licht. Raketen starteten mit kaum sichtbarer Leuchtspur oder mit sich drehendem Kometenschweif, bevor sie explodierten. Es entstanden vielfarbige Sterne, von denen einige sehr schnell zerplatzten, andere sich Zeit ließen und ihre Strahlen in Goldregen verwandelten. Dazwischen schossen grellbunte Leuchtkugeln in den Himmel, Kanonenschläge wurden gezündet, Bengalos und Fontänen von Sternen wurden am Boden abgebrannt. Und ganz allmählich legte sich wie ein leichter Nebelschleier der Pulverdampf über dieses Spektakel aus Licht und Radau, der auch die Nase mehr und mehr irritierte.
„Ist doch doll!“, meinte Bernhard. „Oder?“
Der Senior verfolgte das ganze Theater eher mit gemischten Gefühlen. „Klar, wie alles, was mit Feuer zusammenhängt, hat es eine magische Anziehungskraft. Das ist seit Urzeiten so. Aber warum machen die Leute das eigentlich?“
„Ach, man muss doch nicht alles hinterfragen. Einfach Spaß haben, das ist doch o. k.“
Bernhard schien sich richtig zu ärgern.
„Wahrscheinlich hast du recht. Ich bin mal lieber ruhig, bevor ich zur Spaßbremse werde.“
Auch wenn er das ganze Treiben mit einer gewissen Faszination verfolgte, war ihm dieses pure Spaßhabenwollen irgendwie suspekt. Er konnte nicht verhindern, dass die Knallerei in ihm Bilder von echtem Granatendonner und Bombenexplosionen an vielen Orten der Welt wachrief, und er dachte daran, dass mit dem Geld, das hier im wahrsten Sinne des Wortes verpulvert wurde, sehr viel Not gelindert werden könnte.
Irgendwann hörten sie das erste Martinshorn.
„Siehst du?“, sagte Travniczek zu seinem Sohn. „Da wollte jemand zu viel Spaß haben. Hat glatt vergessen, dass Feuerwerkskörper mit Feuer zusammenhängen. Und jetzt ist Schluss mit lustig.“
Bernhard sah ihn stirnrunzelnd an, sagte aber nichts.
Schließlich waren sie beide froh, als das ganze Tamtam allmählich abebbte und sich die ersten Leute auf den Heimweg machten. Ihre Sektflasche war natürlich auch schon lange leer.
„Ich habe jetzt einfach Hunger“, meinte Vater Travniczek. Bernhard nickte und sie machten sich ganz gemächlich auf den Weg Richtung Neuenheim, vorbei an der Winkelmannvilla3, auf die beide aus ganz unterschiedlichen Gründen jetzt nicht zu sprechen kommen wollten.
Kurz vor der Einfahrt in die Brückenstraße sahen sie in die Pizzeria da Claudia und entdeckten in einer Ecke tatsächlich noch einen leeren Tisch für zwei Personen.
Schnell nahmen sie ihn in Beschlag, ein Kellner begrüßte sie mit „Buona sera“, legte ihnen die Karte vor und entzündete die Kerze, die auf einem gedrungenen Holzleuchter stand.
Sie entschieden sich für einen halben Liter Montepulciano, Travniczek senior nahm eine Pizza capricciosa und Bernhard wollte eine Calzone.
Es dauerte nur kurze Zeit, bis der Kellner die Halbliterkaraffe mit dem Wein sowie zwei große langstielige Gläser brachte und ihnen stilvoll einschenkte. Sie stießen an.
„Auf die Zukunft!“, sagte der Vater.
„Auf amore!“, entgegnete Bernhard mit herausforderndem Lachen. Der Alte ließ sich dadurch aber überhaupt nicht aus der Ruhe bringen, genoss den ersten Wärme verbreitenden Schluck und wollte dann seinen Sohn beim Wort nehmen.
„Apropos Amore. Sorry, wenn ich jetzt etwas direkt bin. Aber ich frage mich schon seit einiger Zeit, ob ich mir über deine, sagen wir, etwas ungewöhnliche Kleeblattsituation mit Janine und Berenice Sorgen machen muss oder mich einfach amüsieren kann4.“
Jetzt wurde Bernhard etwas mulmig und er entgegnete verlegen: „Merkwürdige Alternative.“
„Naja, als das anfing, dachte ich, du wirst dich doch bald einmal für die eine oder die andere entscheiden. Aber es tut sich nichts. Sag mal, kannst du nicht oder willst du nicht?“
Damit brachte ihn der Vater noch mehr in Verlegenheit, denn er wollte darüber eigentlich gar nicht nachdenken. Er brauchte viel Zeit, ehe er etwas stockend antwortete.
„Also, wenn du mich so direkt fragst, ich kann das eigentlich gar nicht wirklich unterscheiden. Es ist, … wie soll ich sagen, … keine Ahnung, … irgendwas Drittes.“
„Das versteh ich jetzt gar nicht. Kannst du mir das genauer erklären?“
„Also, … ich versuch es mal so rum. Wir machen ja zusammen dieses Buchprojekt mit den beiden Altchen im Michaelistift5. Übrigens sind wir fast fertig. Ein Profi, ein Journalist, den Hannah gut kennt, liest gerade das fertige Manuskript. … Ja, das war einfach eine geile Zeit. Wir sind offenbar ein gutes Team. … Natürlich gab‘s auch mal Streit. Aber es war immer ein, na ja, produktiver Streit. Dabei ist irgendwie, keine Ahnung, etwas ganz Tolles entstanden. Würd ich jetzt mit einer von den beiden so ‘ne konventionelle Beziehung eingehen, würd ich das kaputtmachen. Und das will ich nicht.“
Jetzt wurde der Vater nachdenklich. Bernhard stand offensichtlich im Spannungsfeld zwischen Gefühl und Konvention und fand alleine nicht heraus. Er sah sich gefordert. Als Vater musste er versuchen, ihm zu helfen. Er begann ganz vorsichtig.
„Was mich zuerst interessiert: Weißt du, wie die beiden jungen Damen darüber denken?“
„Gesprochen haben wir darüber nie. Aber ich bin ziemlich sicher, die sehen das ähnlich.“
„Irgendwie klingt mir das alles zu rational. Verdammt, ihr seid jung. Da steuern nun mal die Hormone das Verhalten viel mehr als der Kopf. Wie macht ihr das denn? Ihr seid doch keine geschlechtslosen Wesen. Das muss doch ständig irgendwie knistern, oder?“
Bernhard sagte nichts.
„Du brauchst nicht zu antworten. Ich bin schließlich auch ein Mann und kann mich noch recht gut an die Zeit erinnern, als ich in deinem Alter war. Natürlich willst du mit beiden zusammen sein und natürlich nicht nur beim Erstellen eines Buches. Anders kann das doch gar nicht sein.“
Der Vater wartete lange auf eine Reaktion. Doch Bernhard stierte auf sein Weinglas, ohne daraus zu trinken.
„Wovor hast du Bammel?“
„Was heißt ‚Bammel‘? So was geht doch einfach nicht, vor allem nicht auf Dauer.“
„Warum geht das nicht?“
„Weil … weil …“
„Weil unsere kulturelle Tradition das nicht zulässt? Weil die Natur – oder der liebe Gott – die Zweierbeziehung favorisiert?“
„Ja … so etwa …“ und er lachte.
„Ich sag dir mal eins. Es sind schon unzählige Menschen vor die Hunde gegangen, weil sie mit irgendwelchen religiösen oder bürgerlichen Moralgesetzen in Konflikt geraten sind. Sie haben sich entweder verbiegen müssen, um sie zu erfüllen, und sind deswegen seelisch krank geworden, oder sie wurden mit Ausgrenzung oder Sanktionen konfrontiert oder auch stigmatisiert, weil sie sie bewusst missachtet haben. Solche Moralgesetze können nicht gut sein. Man darf sie ignorieren.“
Über einen solchen Frontalangriff auf die bürgerliche Moral war Bernhard schon fast entsetzt. Von seinem Vater hätte er das jetzt gar nicht erwartet.
„Also kann jeder machen, was er will?“
„Natürlich – solange er damit niemandem schadet. Das kannst du an prominenter Stelle nachlesen. Weißt du, wo?“
Bernhard sah ihn nur fragend an.
„Grundgesetz, Artikel 1! – Aber lass mich dir eine Geschichte erzählen, die dein spezielles Problem auf den Punkt bringt. Der junge Goethe, fünfundzwanzig war er da etwa, hat ein Theaterstück geschrieben über eine Dreierbeziehung. ‚Stella‘ heißt es. Kennst du es?“
„Nein.“
„Das alte Lied. Man lernt in der Schule nicht die wichtigen Dinge. Aber zurück zu Goethe. Das Stück endet in einem ménage à trois, also einer Ehe zu dritt. Da war vielleicht was los. Empörung allenthalben. Ein Schlag ins Gesicht der bürgerlichen Moral. Das Stück war kaum aufführbar. Und wenn, wurde es nach ein, zwei Aufführungen wieder abgesetzt oder sogar polizeilich verboten.“
„Wen wundert’s, vor allem in der damaligen Zeit.“
„Stimmt. Bis dahin war das auch nichts Besonderes. So etwas kam öfter vor, damals. Aber was etwa fünfundzwanzig Jahre später geschah, macht mich immer wieder fassungslos. Schiller, der rigorose Moralist, schlug Goethe vor, das Stück noch einmal herauszubringen, aber mit verändertem Schluss. Goethe machte jetzt eine Tragödie daraus. Die ersten vier Akte blieben unverändert, aber im fünften bringen sich jetzt zwei der drei Protagonisten um. So wurde das Stück jetzt noch einmal aufgeführt. Es war zwar nicht der große Erfolg. Aber moralische Bedenken hatte jetzt niemand mehr.“
„Tja, so war das halt damals.“
„Verdammt, wie kannst du das einfach so hinnehmen? Empört dich das nicht? Das ist doch eine völlig perverse Moral. Wenn sich drei Menschen lieben und beschließen zusammenzuleben, ist das angeblich unmoralisch. Es darf nicht sein, so was muss man verbieten. Wenn sich stattdessen zwei davon erschießen, dann ist alles o. k., eben eine menschliche Tragödie, da kann man nach Herzenslust mitheulen.“
Der Vater hatte sich in Fahrt geredet und hielt einen Moment inne. Bernhard antwortete nicht, schüttelte nur unverständlich murmelnd den Kopf.
„Und apropos ‚damals‘ “, fuhr der Alte fort. „Irrtum! Fast zweihundert Jahre später galt das auch noch so.“
„Jetzt übertreibst du aber.“
„Keine Spur. Pass auf! Der Bertelsmann Verlag machte es sich Mitte letzten Jahrhunderts zur Aufgabe, im sogenannten ‚Lesering‘ große Literatur auch dem kleinen Mann zugänglich zu machen. Dabei hatte er auch eine siebenbändige Goetheausgabe herausgebracht. Die steht heute noch in vielen Haushalten. Da ist auch ‚Stella‘ drin. Rat mal, in welcher Fassung.“
„Wenn du schon so fragst, sicher die Tragödie.“
„Natürlich, und jetzt kommt der Hammer. Auf die Urfassung wird nicht einmal mit einer Fußnote hingewiesen. Man durfte doch dem einfachen Volk nicht verraten, wie unmoralisch Goethe war.“
Inzwischen hatten sie ihre Pizza gegessen und auch die dritte Halbliterkaraffe Montepulciano geleert.
„Ich kann jetzt irgendwie nicht mehr. Ich muss jetzt schlafen“, meinte Bernhard erschöpft.
Als sie gezahlt und das Lokal verlassen hatten, blieb der Vater plötzlich stehen.
„Aber eines muss ich dir noch sagen. Ich fand es ganz toll.“
„Was denn?“
„Mit dir so offen sprechen zu können. Danke.“
Er umarmte ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
Bernhard wusste nicht recht, wie er reagieren sollte, so überrascht war er von dem ungewohnten Gefühlsausbruch seines alten Herrn. Seit seiner Kindheit hatte er das nicht mehr erlebt.
Schweigend gingen Vater und Sohn nebeneinander her, bis sie zur Theodor-Heuss-Brücke kamen. Der Pulverdampf hatte sich verzogen und die Luft war wieder klar. Im silbrig-hellen Mondlicht glitzerte am gegenüberliegenden Neckarufer die tiefverschneite Altstadt mit Schloss und Alter Brücke, ein wahrhaft unvergleichlicher Anblick, der sie augenblicklich in seinen Bann zog. Lange blieben sie wortlos stehen, ehe der Alte sagte: „Mir wird kalt. Ich ruf uns jetzt ein Taxi.“