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ОглавлениеNach dem Telefonat wollte Travniczek endlich sein Studium der großen Schubertsonate fortsetzen. Aber es wurde nichts daraus. Noch ehe er am Klavier saß, klingelte sein Telefon. Ärgerlich nahm er den Hörer ab. Es war sein Kollege Brombach: „Joseph, du musst ins Präsidium kommen. Der KDD1 hat heute Nacht ein Tötungsdelikt aufgenommen. Ein Mann hat seine Ehefrau mit über zwanzig Messerstichen getötet. Er konnte direkt am Tatort festgenommen werden und ist geständig. Er hat sogar selbst die Polizei angerufen. Deswegen haben die uns gar nicht erst dazu geholt. Aber jetzt müssen wir ihn vernehmen.“
Zwanzig Minuten später saßen Travniczek und Brombach im Verhörraum Eins einem Herrn Sebastian Kärcher gegenüber.
Er war nach dem Protokoll der Erstvernehmung durch den KDD sechsunddreißig Jahre alt, von Beruf Sachbearbeiter bei der Rentenversicherung und noch nie polizeiauffällig geworden.
Travniczek fragte seine persönlichen Daten ab, ehe er ihn aufforderte, den Ablauf des Geschehens zu schildern. Bereitwillig, aber sehr umständlich berichtete Kärcher folgenden Sachverhalt:
Am Tag vor Sylvester war seine Frau ohne Vorankündigung weggefahren, während er auf der Arbeit war. Sie hatte ihm einen Brief hinterlassen mit der Mitteilung, sie müsse einfach eine gewisse Zeit nachdenken. Am Tag nach Neujahr würde sie zurückkommen. Er hatte das erst sehr gefasst aufgenommen, war dann aber immer nervöser geworden. Am Tag nach Neujahr musste er sich krankmelden, weil er völlig durcheinander war. Er hatte dann tagsüber eine ganze Flasche Schnaps ausgetrunken und war schließlich auf der Wohnzimmercouch eingeschlafen. Plötzlich stand dann seine Frau vor ihm und erklärte, sie würde ihn für immer verlassen. Dann brach seine Erinnerung ab. Später fand er sich am Boden sitzend mit einem blutigen Küchenmesser in der Hand neben seiner blutüberströmten, toten Frau. Er brauchte eine Weile, um zu realisieren, was er getan hatte, und rief dann die Polizei.
Um sich dem Motiv für diese grauenhafte Tat zu nähern, ließ sich Travniczek Kärchers Lebensgeschichte erzählen. Es war eine deprimierende Biographie. Der Mann berichtete von einem ständig betrunkenen Vater, der ihn und seine Mutter immer wieder geschlagen hatte, von den Kämpfen seiner Mutter, sich und ihn aus dieser Situation zu befreien; davon, dass er später immer wieder die kleine Wohnung verlassen musste, weil die Mutter fremde Männer empfing und er erst sehr viel später begriff, dass sie damit ihren Lebensunterhalt verdiente; von den Qualen seiner Schulzeit, in der er als Loser und typisches Opfer behandelt wurde; und so ging es weiter.
Irgendwann klopfte es an der Tür und Melissa Siebert sah herein.
„Entschuldigung, Chef, ich hab da einen Mann am Telefon, der will unbedingt mit Ihnen sprechen. Es klingt sehr dringend. Er scheint mir vollkommen durcheinander.“
Etwas verärgert fragte Travniczek: „Wie heißt er?“
„Ich hab den Namen nicht genau verstanden: Mauwisch … oder so ähnlich.“
„Maurischat?“
„Ja, kann sein.“
„Mist! Was ist da jetzt passiert? Ich komme.“
Erregt meldete er sich: „Travniczek hier. Mit wem spreche ich?“
„Wolfgang, Wolfgang Maurischat, Sie wissen, wer ich bin?“
Ehe Travniczek antworten konnte, redete er weiter. Die Stimme klang hektisch und zerfahren und war kaum zu verstehen.
„Mein Vater! … Überall ist Blut! … Wenn er tot ist! Ich kann nicht mehr!“
„Ihr Vater ist verletzt? Haben Sie schon den Notarzt gerufen?“
„Notarzt … Notarzt … ich weiß ja nicht, wie … ich weiß … weiß ja gar nichts mehr … was soll ich denn …“, schrie Wolfgang Maurischat panisch.
Travniczek merkte, wie sich diese Panik auf ihn übertrug. Warum verlor er eigentlich die professionelle Distanz, fragte er sich. Er musste seine ganze Konzentration aufbringen, um ruhig und betont deutlich weiterzusprechen: „Herr Maurischat, Sie rufen jetzt sofort die 112 an. Dort bekommen Sie den Notarzt. Haben Sie mich verstanden? Die 112! Das ist jetzt das Wichtigste. Wie hat sich Ihr Vater verletzt?“
„Die Fensterscheibe … überall liegen Scherben … und ein großer Stein ... er blutet fürchterlich aus dem Kopf … er verblutet noch … Ich weiß überhaupt nicht …“
„Also ein Mordanschlag! Dann noch mal: Sie rufen jetzt erst die 112 an und sagen unbedingt, es besteht akute Lebensgefahr. Sie bleiben aber auf jeden Fall, wo Sie sind. Haben Sie verstanden? Sie fassen möglichst nichts an, es sei denn, es geht um die Hilfe für Ihren Vater. Ich schicke Ihnen umgehend eine Polizeistreife vorbei und versuche selbst, so schnell wie möglich bei Ihnen zu sein. Herr Maurischat, Sie haben mich verstanden?“
„Ja, ja, … sicher.“
„Gut. Aber nicht vergessen: Sofort die 112 anrufen!“
Travniczek legte auf.
„Was sind das denn für Idioten in diesem Kaff?“, schimpfte er so laut, dass Melissa Siebert erschrocken von ihrem Schreibtisch aufsprang. „Wenn sie den Jungen nicht haben wollen, kann ich das ja irgendwie nachvollziehen. Aber warum wollen sie dann den Alten umbringen? Das macht doch überhaupt keinen Sinn!“
Er rief den Streifendienst an, dass sofort jemand bei Maurischats vorbeifahren sollte, es ginge um einen Mordanschlag, habe also allerhöchste Priorität. Dann suchte er verzweifelt nach seinem Mantel.
„Den haben Sie doch erst im Verhörraum ausgezogen“, half ihm Melissa Siebert. Dorthin musste er ohnehin noch einmal, um Brombach zu sagen, er sollte die laufende Vernehmung alleine weiterführen und dann nach Waldesruh nachkommen.
Ausgerechnet jetzt hatte es wieder heftig zu schneien begonnen. Die Fahrt nach Waldesruh hinauf konnte schwierig werden und er wollte auf keinen Fall riskieren, irgendwo steckenzubleiben. Er rief die Kollegen von der Verkehrspolizei an. Der Pass über den Langen Kirschbaum* sei wegen Schneebruchgefahr gesperrt, hieß es. Die Routen über Schriesheim oder Neckarsteinach seien im Moment noch frei. Wie lange noch, sei fraglich.
Er entschied sich für die Schriesheimer Route, denn die kannte er gut2. Mit Blaulicht und Martinshorn kam er zunächst problemlos voran. Aber auf halbem Weg von Schriesheim nach Wilhelmsfeld* sah er vor sich eine Kette roter Bremslichter. Stau. Weiter vorne stand ein Kleinlaster quer.
„Welcher Idiot glaubt, hier noch mit Sommerreifen hochfahren zu können?“, schimpfte er lautstark. Trotz Blaulicht und Martinshorn machten nur wenige Fahrer vor ihm Anstalten, an die Seite zu fahren, wohl aus Angst, dann selbst festzusitzen. Einige musste er fast touchieren, bevor sie ihm Platz machten.
Als er dann endlich den Kleinlaster erreicht hatte, sprang er aus seinem Wagen und schnauzte den Fahrer rüde an. Doch der ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
„Ich hab doch schon einen Abschleppdienst angerufen“, erklärte er achselzuckend. „Die müssen aber erst noch andere Aufträge abarbeiten. Das kann Stunden dauern.“
Travniczek rief zunächst Wolfgang Maurischat an. Der schien sich etwas beruhigt zu haben, denn der Notarzt hatte inzwischen Entwarnung gegeben. Die Platzwunde, die sein Vater am Kopf hatte, sah schlimmer aus, als sie war. Sie blutete zwar sehr stark, war aber mit Sicherheit keine wirklich schwere oder gar lebensbedrohliche Verletzung. Der Arzt war gerade dabei, den Vater zu versorgen und wollte ihn dann in die Klinik bringen lassen. Eine Polizeistreife war aber noch nicht da.
„Warum kommen diese Nachtkappen nicht bei?“, fluchte Travniczek und rief im Präsidium an. Die Streife säße irgendwo zwischen Neckarsteinach* und Schönau* fest, hieß es.
Er trommelte einen wilden Rhythmus auf das Lenkrad. Er konnte hier doch nicht stundenlang warten. Da kam ihm eine Idee. Er sprang aus dem Wagen, klopfte beim ersten wartenden Auto an die Seitenscheibe und zückte seinen Dienstausweis. Der Fahrer ließ die Scheibe herunter und sah ihn missmutig an.
„Kommen Sie bitte raus und helfen Sie mir, diesen Laster etwas zur Seite zu schieben. Ich muss zu einem dringenden Einsatz.“
Der Fahrer sah ihn mit offenem Mund so entgeistert an, als habe er ihm gerade einen unsittlichen Antrag gemacht. Er wollte verärgert protestieren, aber Travniczek kam ihm zuvor: „Regen Sie sich nicht auf. Sie wollen doch auch nach Hause. Bis hier ein Abschleppwagen durchkommt, ist es Nacht. Wir müssen noch ein paar starke Männer mehr rekrutieren, dann schieben wir diese Karre in den Straßengraben und der Durchgang ist frei.“
Travniczek hatte den richtigen Ton getroffen und ihn bei seiner Mannesehre gepackt. Voller Tatendrang stieg der Fahrer aus und lief eilig von Wagen zu Wagen. Nach kurzer Zeit standen etwa fünfzehn mehr oder weniger starke Männer um den Kleinlaster. Doch der LKW-Fahrer stellte sich schützend vor sein Fahrzeug und zeterte fürchterlich: „Das können Sie nicht machen! Ich hab wertvolle Unterhaltungselektronik geladen. Wenn die beschädigt wird, verlier ich meinen Job.“
„Wären Sie hier nicht mit Sommerreifen hochgefahren, hätten wir das ganze Theater doch nicht“, kanzelte Travniczek ihn ab. „Sie wissen, das ist grobe Fahrlässigkeit und nach der Straßenverkehrsordnung verboten. Da können Sie sich jetzt nicht beschweren.“
Die Aktion erwies sich indessen als schwierig. Der LKW ließ sich immer nur zentimeterweise bewegen. Travniczek wollte schon abbrechen. Doch für die Männer war es jetzt Ehrensache. Und nach mehr als einer halben Stunde schweißtreibender Arbeit kam der LKW schließlich ins Rutschen, bis er mit der Hinterachse im Straßengraben festsaß. Im Inneren rumpelte es heftig.
Der LKW-Fahrer war kurz vorm Durchdrehen. Er tat Travniczek jetzt doch leid, und so drückte er ihm seine Karte in die Hand.
„Wenn ein Schaden entstanden ist, wenden Sie sich an uns. Wir deklarieren das als Notfalleinsatz. Das kriegen wir dann schon irgendwie mit der Versicherung geregelt.“
Er ließ den Mann stehen, sprang in seinen Dienstwagen, rief seinen Helfern noch ein kurzes „Danke, die Herren!“ zu und fuhr mit Blaulicht und Martinshorn weiter in Richtung Wilhelmsfeld.
Sofort rief er Wolfgang Maurischat wieder an. Der war erneut völlig durcheinander. Die Funkstreife sei inzwischen gekommen. Nachdem die Beamten aber herausgefunden hätten, wer er war, seien sie sehr unfreundlich geworden, hätten ihm selbst gewissermaßen die Schuld gegeben an diesem Überfall und wären, ohne irgendetwas zu unternehmen, gerade eben wieder weggefahren.
Travniczek ließ seine Wut zunächst am Gaspedal aus. Schon bei der ersten glücklicherweise nur leichten Kurve kam der Wagen ins Rutschen und er konnte ihn nur mühsam wieder in die Spur bringen. Er reduzierte das Tempo, ließ sich vom Präsidium die Nummer des Streifenwagens geben und rief sofort an.
„Sie waren gerade an einem Tatort in Waldesruh, in der Wohnung Maurischat. Wie ist dort die Lage?“, fragte er, sich arglos gebend.
„Kein Problem. Es ist nichts weiter. Da ist einer nach zehn Jahren Knast wegen Mord zurückgekommen, und in der Bevölkerung gibt’s verständlicherweise etwas Aufruhr. Da hat wohl jemand überreagiert und einen Stein ins Fenster geworfen. Warum kommt dieser Dummkopf auch wieder an seinen alten Wohnort zurück? Hätte sich doch denken können, dass er da nicht freundlich empfangen wird.“
„Und deswegen hielten Sie eine ordnungsgemäße Tatortsicherung für überflüssig?“, fuhr ihn Travniczek an.
„Ähm, … wir haben halt gedacht …“
„So, gedacht haben Sie. Sie fahren augenblicklich zurück! Ich schätze, dass ich in etwa einer halben Stunde dort ankomme. Wenn ich dann nicht alles so vorfinde, wie es gemäß Ihrer Dienstvorschrift zu sein hat, sorge ich dafür, dass Sie danach froh sein können, wenn Sie im Präsidium noch die Scheißhäuser putzen dürfen.“
Nur allmählich konnte er sich beruhigen. Was machte ihn so dünnhäutig, fragte er sich wieder. So aufregend war doch der Fall bis jetzt eigentlich nicht. Konnte er sich nicht verzeihen, dass er wieder in sein altes Muster gefallen war und bei seinem Bemühen um den Fall Maurischat einmal mehr seinen eigenen Fall, die Problematik um seine Tochter und ihren Stiefvater, erfolgreich verdrängt hatte?
„Du wirst Julia heute noch anrufen“, befahl er sich. „Keine Ausreden mehr!“
Er konnte noch nicht wissen, warum das diesmal tatsächlich nicht möglich sein sollte.
Innerlich sehr viel ruhiger fuhr er weiter. Der Schnee fiel immer dichter. Es kamen ihm kaum noch Fahrzeuge entgegen und er fürchtete, dass er bald auch trotz Winterreifen steckenbleiben könnte. So hielt er an, stieg aus und montierte die Schneeketten.
Es wurde richtig dunkel und das Licht der Frontscheinwerfer ließ den dicht fallenden Schnee wie eine geschlossene Wand erscheinen. Es war kein Fahren mehr, sondern eher ein langsames Vorwärtstasten. So brauchte er noch mehr als eine halbe Stunde, bis er Waldesruh endlich erreichte. Erleichtert atmete er auf.
Er wusste, dass die Maurischats gleich das erste Haus links der Straße bewohnten. Davor stand der Streifenwagen. Das Grundstück war ordnungsgemäß abgesperrt. Vor der Eingangstür kam ihm ein Schutzpolizist entgegen.
„Polizeiobermeister Venske“, stellte der sich beflissen vor. „Wir haben das Haus vorschriftsmäßig abgesperrt, die zertrümmerte Fensterscheibe fotografiert, auch den Stein, der drinnen liegt, und die Spurensicherung verständigt. Sonst können wir hier nichts mehr tun.“
„Das sehen wir gleich“, meinte Travniczek ironisch lächelnd. „Haben Sie irgendwelche Personen gesehen, die vielleicht als Zeugen in Frage kämen?“
„Nein, hier war niemand. Die ganze Zeit nicht.“
Merkwürdig, dachte Travniczek. So wie die Scheibe aussah, musste es ja heftig gekracht haben, und hier herrschte sonst Totenstille. Normalerweise konnte man sich doch bei so einem Ereignis vor Schaulustigen kaum retten.
Inzwischen war hinter Venske seine Kollegin aufgetaucht, der man ansah, dass sie sich im Augenblick nichts sehnlicher wünschte, als sich unsichtbar machen zu können.
„Dann brauche ich Sie jetzt doch noch. Gehen Sie bitte ortseinwärts und läuten Sie an den nächsten Häusern. Fragen Sie nach, ob jemand etwas gehört oder gesehen hat.“
„Verstanden. Das werden wir rausfinden“, antwortete Venske, drehte sich schnell um und ging mit seiner Kollegin die Dorfstraße hinein. Sie wollten sich unbedingt rehabilitieren.
Travniczek sah ihnen nach. Schnell wurden sie im dichten Schneegestöber undeutlicher, bis er nur noch ihre Umrisse erkennen konnte, die sich dann auch auflösten.
Jetzt erst fiel ihm der diffuse rötliche Schein auf, der von weit hinten oben am Berghang ausging und sich über das ganze Dorf legte. Seine Quelle war durch das Schneetreiben verborgen. Was konnte das sein? Zuerst dachte er an Feuer. Aber dazu hätte der Lichtschein unruhiger sein müssen. Es konnten auch ein paar starke Scheinwerfer sein, aber wofür sollten die in so einem winzigen Dorf dienen? Die latente Beklemmung, die sich seiner zu bemächtigen begann, bemerkte er noch nicht. Er hörte das ganz leise Wispern des fallenden Schnees. Irgendwo bellte ein Hund. Weiter entfernt antwortete ein anderer. Sonst war der Ort wie ausgestorben.
Nur die vordersten Häuser waren im dunklen Weiß des nächtlichen Schnees noch einigermaßen deutlich zu erkennen. Der löste weiter hinten die Konturen in flimmernde Bewegung auf. Es kam ihm vor, als ob die Häuser mit dem spitzen Kirchturm schemenhaft zu einer lautlosen Musik tanzten. Wo war er da hineingeraten? Von dem rötlichen Leuchten schien ihm ein Sog auszugehen. War das vielleicht alles gar nicht wirklich? War das ein Spuk, ein Tanz von bösen Geistern, die ihn in ihren Bann ziehen wollten, um ihn niemals wieder freizugeben? War das rote Leuchten nicht gar so etwas wie der Eingang zur Hölle?
Da – auf der anderen Straßenseite hinter einem Zaun – Bewegung: Zwei Gnome mit Mütze und dickem Wams? – – – Nein, es waren Kinder mit Pudelmützen, so in dicke Winterjacken eingemummelt, dass er nicht ausmachen konnte, ob es Jungen oder Mädchen waren. Sie mochten vielleicht zehn Jahre alt sein. Trotz der schwachen Beleuchtung glaubte er zu erkennen, dass es nicht Neugier war, die sie zum Haus herübersehen ließ, sondern eher so etwas wie bange Erwartung.
„Kommt ihr mal her?“, rief er und winkte ihnen aufmunternd zu. Aber die Kinder sahen sich nur kurz erschrocken an. Dann zog eines das andere fort und sie waren sogleich zwischen den Häusern verschwunden.
Warum liefen die so aufgeschreckt davon? Hatten sie Angst? Aber wovor?
„Hallo, sind Sie Kommissar Travniczek?“
Einen Moment setzte sein Herz aus. Dann drehte er sich um und sah einen jungen, großgewachsenen Mann aus dem Haus kommen.
„Ja, ... Wolfgang Maurischat?“
Der junge Mann nickte. Trotz der schwachen Beleuchtung erschien er Travniczek unmittelbar sympathisch.
„Darf ich reinkommen?“, fragte Travniczek.
„Natürlich.“
Maurischat führte ihn in das Wohnzimmer. Auf dem hellen Teppichboden unmittelbar vor einem nierenförmigen Couchtisch sah er einen großen Blutfleck. Nicht weit davon entfernt lag ein schwerer Ziegelstein. Durch die zerborstene Fensterscheibe konnten Kälte und Schnee ungehindert eindringen.
Travniczek ließ den Rollladen herunter.
„Ich sollte doch alles so lassen, wie es war“, entschuldigte sich Maurischat verlegen.
„War auf jeden Fall richtig, aber erfrieren brauchen wir deshalb trotzdem nicht. – Wie geht es Ihrem Vater?“
„Der Arzt meinte, außer der Platzwunde wahrscheinlich nur eine leichte Gehirnerschütterung. Er war wieder bei Bewusstsein, als er vorhin in die Klinik gebracht wurde.
„Glück im Unglück“, sagte Travniczek und atmete erleichtert auf. Er zog seinen Mantel aus, warf ihn auf einen Stuhl und setzte sich auf die schon ziemlich abgewetzte beige Couch. Er merkte jetzt erst, wie eng und niedrig das Zimmer war.
„Das hat Sie doch sicher erst mal beruhigt. Übrigens, warum stehen Sie?“
Wolfgang setzte sich neben ihn. Befangen hielt er so viel Abstand wie möglich.
„Hat Ihr Vater noch irgendetwas zu dem Anschlag sagen können?“, fragte Travniczek sofort.
Maurischat schüttelte den Kopf.
„Nein, als ich kam, war er nicht ansprechbar, … und später wollte ich nicht nachfragen.“
„Das war sicher richtig. Aber jetzt zu Ihnen. Sie sind also gestern aus der Haft entlassen worden und ...“
„Ja, bin ich“, fuhr er auf. „Aber nachdem, was ich hier schon erlebt habe, wäre ich vielleicht besser dortgeblieben.“
Er war aufgesprungen und starrte auf die zertrümmerte Fensterscheibe und den dunkelbraunen Rollladen dahinter. Travniczek ließ ihm Zeit, ehe er fragte: „Können Sie mir kurz berichten, was seit Ihrer Ankunft hier passiert ist?“
Maurischat drehte sich langsam um und sah den Kommissar ausdruckslos an.
„Ich kam gestern so gegen sechs hier an. Wir hatten uns gerade zum Abendessen hingesetzt, da läutete es. Vater ging an die Haustür, aber da war niemand. … Er fand nur dieses Paket, so eine Art ‚Begrüßungsgeschenk‘ für mich, von den Bürgern von Waldesruh.“
Er holte das Gemälde, das an eine Wand gelehnt stand. „Das soll angeblich Berit und mich darstellen.“
Travniczek sah auf das Bild und erschrak über die abgrundtiefe Bösartigkeit, mit der ihn die Teufelsfratze anstarrte.
„Dazu haben die mir auch noch einen Brief geschrieben. Hier!“
Er reichte ihm das Schriftstück, das noch auf dem Couchtisch lag. Vater Maurischat hatte es Travniczek am Telefon ja schon vorgelesen. Dennoch las er es nochmals sehr aufmerksam.
Er empfand die gleiche Beklemmung wie vorher draußen beim Blick über das Dorf. Stand da nicht noch etwas zwischen den Zeilen? War die ja irgendwie nachvollziehbare Reaktion der Dorfbewohner auf das, was sie für das Böse hielten, nur Fassade? Oder bildete er sich das nur ein? Das rötliche Leuchten von oberhalb des Dorfes kam ihm in den Sinn. Nachdenklich faltete er den Brief zusammen.
„Darf ich den mitnehmen?“
„Ja, natürlich.“
Wolfgang Maurischat stand immer noch vor dem Fenster. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und die Augen fast geschlossen.
Was ging in ihm vor? Plante er etwas, fragte sich Travniczek. Und ihm war klar: Wenn jetzt noch etwas passierte, dann brannten bei Maurischat womöglich alle Sicherungen durch.
„Setzen Sie sich doch bitte wieder“, forderte Travniczek ihn auf. Aber er blieb bewegungslos stehen.
Nach einer kleinen Pause fragte Travniczek: „Was ist dann noch weiter passiert, nachdem Sie das Paket erhalten haben?“
Ohne seine Haltung zu verändern, antwortete Maurischat leise, scheinbar ohne jede Gefühlsregung: „Ich habe noch eine Zeitlang mit meinem Vater gesprochen, bin dann aber sehr bald ins Bett gegangen, konnte aber kaum schlafen. Habe fast die ganze Nacht gegrübelt. Heute Morgen bin ich dann so gegen zehn aus dem Haus gegangen. Bin ziellos durch den Wald gelaufen, um mir klarzuwerden, wie es weitergehen soll. Als ich kurz vor vier zurückkam, fand ich dann meinen Vater hier in seinem Blut liegen. Den Rest kennen Sie.“
Travniczek versuchte, ihn etwas aufzurichten.
„Herr Maurischat, ich habe Ihre Ermittlungsakte gelesen und kann Ihnen sagen, ich halte die Chance, Ihren Fall neu aufzurollen, für relativ groß. Und der Anschlag auf Ihren Vater ist gefährliche Körperverletzung oder sogar ein Mordversuch. Der Staatsanwalt muss daraufhin Ermittlungen einleiten, die ich führen werde. Dabei werde ich sicher auch versuchen herausfinden, was vor zwölf Jahren tatsächlich passiert ist.“
In Maurischats Gesicht kam ein wenig Leben. Er setzte sich wieder neben Travniczek und sah ihn erwartungsvoll an.
„Sie meinen, Sie könnten dabei meine Unschuld beweisen?“
„Nicht so schnell. Ich will ehrlich sein. Ob Sie schuldig oder unschuldig sind, weiß ich nicht, kann ich nicht wissen. Klar ist bis jetzt nur: Gegen Sie ist seinerzeit nicht gründlich genug ermittelt worden und wir haben jetzt den Anschlag auf Ihren Vater. Alles Weitere müssen die Ermittlungen ergeben.“
In diesem Augenblick klingelte es. Herbert Breithaupt, der wohlbeleibte Spusichef der Heidelberger Kripo, kam mit zwei weiteren Kriminaltechnikern, die schon ihre weißen Schutzanzüge angelegt hatten.
„So ein Wetter gehört verboten“, maulte Breithaupt lautstark. „Ich glaub, ich lass mich nach Rom versetzen. Ich hab mal gehört, wenn die dort morgens aus dem Fenster gucken und es liegt Schnee, legen die sich einfach wieder ins Bett und niemand geht zur Arbeit. Die haben dort nämlich keinen, der den Schnee wegräumt. Das wahre Paradies.“
Travniczek erklärte ihm kurz die Situation, zog seinen Mantel an und verließ beinahe fluchtartig das Haus. Er hielt es in der bedrückenden Enge nicht länger aus. Außerdem konnte er das Geschwätz von Breithaupt jetzt gar nicht ertragen.
Mehrmals ließ er die eiskalte Schneeluft tief in sich einströmen. Das tat gut. Inzwischen hatte es aufgehört zu schneien und die Wolken waren aufgerissen. Der Schnee reflektierte das helle Licht des fast vollen Mondes und ließ die Häuser in eiskaltem Glanz überdeutlich erstrahlen. Oberhalb des Dorfendes erkannte er jetzt die Quelle des merkwürdigen rötlichen Lichts: ein von hohen Mauern eingefasstes riesiges Grundstück, auf dem eine prachtvolle Villa, ja eigentlich ein Palast stand, wohl aus der Gründerzeit. Das ganze Areal war von Scheinwerfern hell erleuchtet.
Travniczek ließ seinen Blick wieder über den Ort schweifen. Die Stille erschien ihm unheimlich, die Klarheit der Konturen unnatürlich. Irgendetwas lauerte hier. Etwas Böses. Er würde sich damit auseinandersetzen müssen.
Und was verbarg sich in diesem merkwürdigen Palast, das so martialisch geschützt werden musste? Was lebten dort für Menschen?
Er ging ein Stück die Dorfstraße hinein. Da kamen ihm die beiden Streifenbeamten entgegen, offenbar schlechtgelaunt.
„Es ist einfach nur frustrierend“, sagte Venske.
„Wieso?“
„Die sagen nichts. Keiner will etwas gehört oder gesehen haben.“
„Und ich bin sicher“, ergänzte seine Kollegin, „die lügen alle. Die haben sich abgesprochen. Die wollen nichts sagen. Und noch etwas haben wir beobachtet. In der ‚Jägerstube‘, das scheint hier die einzige Kneipe im Ort zu sein, trifft sich gerade eine größere Anzahl von Dorfbewohnern.
Travniczek überlegte. Er ermittelte jetzt zu einem Mordversuch. Dazu kam der Fall der Nötigung. Er konnte also durchaus massiv vorgehen.
„Sie bleiben noch hier. Wir machen jetzt gleich Nägel mit Köpfen. Ich werde noch ein paar Kollegen vom KDD anfordern, und dann vernehmen wir alle Bewohner des Ortes, zumindest die, die diesen Drohbrief unterschrieben haben. Aber vorher will ich sehen, was in dieser Kneipe los ist.“
Hinter sich hörte er Motorengeräusch und drehte sich um. Aus Richtung Heiligkreuzsteinach quälte sich ein Auto durch den Schnee. Es war Brombach.
Tagebuch - 23.1.
Ich war schon lange im Keller. Da hat Vater mir noch einen Nachttopf hingestellt und eine Kanne mit Wasser. Aber zum Anziehen hat er mir nichts gebracht, und ich mußte die ganze Nacht im Keller bleiben.
Es war furchtbar kalt und stockdunkel. Ich bin zuerst immer hin und her gelaufen, habe aber trotzdem immer mehr mit den Zähnen geklappert. Aber irgendwann konnte ich nicht mehr. Ich fand nichts, wo ich mich drauflegen konnte. Ich bin erst einfach stehengeblieben und habe mich dann einfach auf den eiskalten Steinfußboden gelegt. Und dann weiß ich nichts mehr.
Als ich aufgewacht bin, tat mir alles furchtbar weh und ich dachte, es brennt in mir. Das war das Fieber. Dr. Maurer hat mich untersucht und ich bekam mit, daß er zu Mama etwas von „Unterkühlung“ gesagt hat und „das darf so nicht weitergehen.“