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ОглавлениеAls sie zurück in die Wohnung von Maurischat kamen, hatten sich sechs Kollegen des KDD eingefunden. Zusammen mit den beiden Streifenbeamten sollten sie jetzt mit den Befragungen beginnen. Brombach hatte die nötige Adressenliste mitgebracht.
„In einer halben Stunde geht’s los“, bestimmte Travniczek.
Wolfgang Maurischat kochte für alle Tee.
Es klingelte. Breithaupt kam mit seinen Technikern zurück. Sie hatten draußen die Spuren aufgenommen.
„Habt ihr was Interessantes gefunden?“, fragte Travniczek.
„Nicht viel“, entgegnete Breithaupt, der sich mit ausgestreckten Beinen auf der Couch lümmelte, die Hände über seinem beeindruckenden Bauch gefaltet. „Die Arbeit war nahezu Zeitverschwendung. Draußen war so gut wie gar nichts zu machen. Der starke Schneefall unmittelbar nach dem Anschlag hat fast alle vorhandenen Spuren ausgelöscht. Es ist leider ein sehr trockener Schnee, bei dem nichts unterhalb der obersten Decke erhalten bleibt. Was wir ziemlich sicher sagen können: Zwei Personen sind wohl bis ganz an das eingeschlagene Fenster herangegangen. Ob sie groß oder klein, schwer oder leicht waren, ist aus den Spuren nicht mehr zu ermitteln.“
„Wenigstens etwas“, kommentierte das Travniczek. „Denn wenn der Stein von dort geworfen wurde, musste der Werfer wissen, dass nur der alte Maurischat im Wohnzimmer war.“
„Ja, wenn er von dort geworfen hat“, gab Breithaupt zu bedenken. „Aber das ist keinesfalls sicher. Es kann natürlich auch sein, dass der Werfer erst nach dem Wurf ans Fenster gegangen ist, um zu sehen, was er da eigentlich angerichtet hat.“
Travniczek schüttelte missmutig den Kopf. Er hatte sich mehr von Breithaupts Untersuchungen erhofft.
„Es gibt eine kleine Chance, doch noch etwas mehr herauszufinden. Wir haben alle Scherben der Fensterscheibe fein säuberlich eingepackt und vorher fotografiert, wie sie lagen. Wir werden morgen den ganzen Tag Puzzle spielen und die Fensterscheibe wieder zusammenlegen. Dann können wir – hoffentlich – den Aufschlagwinkel des Ziegelsteins und seine Wurfgeschwindigkeit annähernd bestimmen und daraus die Wurflinie errechnen. Dabei könnte – mit viel Glück – herauskommen, von wo der Stein genau geworfen wurde und wie groß der Werfer war. Eines kann ich aus der Lage der Glassplitter jetzt schon schließen: Der Stein war nicht sehr schnell. Also, den amtierenden Weltmeister im Kugelstoßen könnt ihr als Verdächtigen streichen. Ansonsten haben wir nur noch am Ziegelstein Spuren von Fingerabdrücken gesichert. Ob man die so aufbereiten kann, dass wir damit jemanden identifizieren können, ist zweifelhaft. Das sehen wir morgen im Labor. Mehr haben wir nicht zu bieten.“
Er und seine Mitarbeiter tranken noch einen Tee und verabschiedeten sich dann.
Die Anderen begannen jetzt mit den Vernehmungen. Zweierteams sollten alle Bewohner des Ortes befragen, wie der Drohbrief entstanden sei und ob sie sachdienliche Hinweise zu der Attacke auf Maurischat machen könnten.
Travniczek und Brombach selbst wollten Adalbert und Waldemar Schittenhelm vernehmen, da sie die beiden nach ihrem Auftritt in der Jägerstube für die Wortführer im Ort hielten. Und natürlich wollten sie dabei auch gleich die Zeugen im Prozess gegen Wolfgang Maurischat kennenlernen.
Sie gingen wieder über die tiefverschneite Dorfstraße, die parallel zur Steinach taleinwärts führte. An ihr lagen fast alle Häuser. Viele waren wohl schon lange vor dem Zweiten Weltkrieg errichtet worden. Doch die meisten hatte man aufwendig modernisiert und zum Teil auch großzügig erweitert. Dazu kamen einige prächtige neuere Villen.
„Das Dorf scheint wohlhabend zu sein“, meinte Brombach. Travniczek nickte.
Kurz hinter dem Ortszentrum, wo für eine kurze Strecke das Steinachtal so breit wurde, dass sich zwischen Kirche und „Jägerstube“ die Straße zu einem kleinen Marktplatz erweitern konnte, mussten sie in eine der wenigen Stichstraßen einbiegen. Dort lag das Haus von Adalbert Schittenhelm, architektonisch sehr ungewöhnlich gestaltet.
Es war kurz nach halb zehn. In mehreren Zimmern brannte noch Licht. Brombach läutete. „Jetzt bin ich gespannt.“
Doch schon wenige Sekunden später wurde im Flur Licht gemacht. Adalbert Schittenhelm öffnete persönlich und gab sich betont freundlich.
„Nochmals guten Abend, die Herren, kommen Sie doch bitte weiter. – Meine Frau muss ich leider entschuldigen. Sie ist krank und muss das Bett hüten.“
Die beiden Kommissare sahen sich etwas verwundert an. So einen Empfang hatten sie nicht erwartet. War der plötzlich vernünftig geworden?
Sie durchquerten den kurzen Flur und traten dann in das saalartige Wohnzimmer, das über beide Stockwerke des Hauses reichte. Zum Garten hin hatte es eine reine Glaswand. Über die drei anderen Wände lief auf halber Höhe eine Galerie mit einem Holzgeländer, der Zugang zu den Zimmern des oberen Stockwerks.
„Nehmen Sie doch bitte Platz“, forderte Schittenhelm die Kommissare auf und wies auf einen großen runden Holztisch, der zusammen mit sechs Stühlen vor der Glaswand stand.
„Schön haben Sie’s hier“, sagte Travniczek anerkennend. „Haben Sie das Haus selbst bauen lassen?“
„Ja, als ich vor dreizehn Jahren geheiratet habe.“
„Eine interessante Anlage.“
„Freut mich, dass sie Ihnen gefällt. Habe ich selber entworfen. Ich bin ja gelernter Architekt, wenn ich auch zurzeit nicht in diesem Beruf arbeite.“
„Darf ich fragen, was Sie beruflich machen?“
„Ich bin stellvertretender Leiter des Planungsamtes der Stadt Heidelberg.“
„Also Beamter?“
„Ja, sicher.“
Da sah Travniczek im Augenwinkel einen Jungen im Schleichgang die Treppe von der Galerie herunterkommen. Er blieb drei Stufen oberhalb des Bodens unschlüssig stehen. Er schien eigentlich etwas sagen zu wollen, traute sich aber wohl nicht. Als Schittenhelm ihn bemerkte, schnauzte er ihn an: „Alf, was machst du hier? Es ist nach halb zehn. Du musst längst schlafen. Sofort ab ins Bett!“
„Aber ich kann nicht …“
„Kein Aber. Sofort ins Bett, oder muss ich erst nachhelfen?“
Der Junge drehte sich um und ging langsam mit gesenktem Kopf wieder nach oben. Travniczek hatte den Eindruck, dass er weinte.
„Weiß der Junge, was hier passiert ist?“
„Keine Ahnung. Wahrscheinlich schon. Es hat sich ja wie ein Lauffeuer im Dorf rumgesprochen.“
„Für Kinder ist so etwas immer sehr schwer zu verkraften. Ich würde ihn da an Ihrer Stelle nicht so hart anfassen.“
Schittenhelms Gesicht verhärtete sich und sein Ton wurde frostig.
„Ich glaube, ich weiß selbst, wie ich meine Kinder zu erziehen habe. Da brauche ich keinen Rat von der Kriminalpolizei.“
Das ist nicht nur Überheblichkeit, dachte Travniczek, da ist auch Trotz oder Abwehr, vielleicht von Schuldgefühlen, in seinem Blick. Er versuchte es noch einmal.
„Ich will Sie ja keinesfalls belehren. Aber wissen Sie, wenn ich ermittle, habe ich auch immer wieder mit Kindern zu tun. Zu sehen, zu welch fürchterlichen Verletzungen, seelischen Verletzungen, meine ich, es da oft kommt, ist nur schwer zu ertragen. Da kann man nur mit sehr, sehr viel Zuwendung helfen.“
Schittenhelm antwortete nicht, verspannte sich aber zunehmend. Da auch die Kommissare nichts sagten, blieb es länger still.
„Ich glaube nicht, dass Sie hergekommen sind, um mit mir über Kindererziehung zu diskutieren“, brach schließlich Schittenhelm das Schweigen. Er gab sich Mühe, wieder höflich und souverän zu erscheinen. „Kommen wir doch zum Grund Ihres Besuchs. Ich möchte mich zunächst in aller Form für mein Verhalten und das meiner Mitbürger vorhin in der Jägerstube entschuldigen. Wir waren alle sehr nervös und einige, einschließlich meiner Person, haben da etwas überreagiert.“
„Die Entschuldigung ist angenommen. Es freut mich, dass wir so schnell auf eine konstruktive Gesprächsebene kommen. Dann sagen Sie mir bitte, wie sich der Anschlag auf Dieter Maurischat aus Ihrer Sicht darstellt.“
„Ich und selbstverständlich auch alle meine Mitbürger sind entsetzt darüber“, sagte Schittenhelm, ohne überlegen zu müssen.
„Weil Sie den Falschen getroffen haben?“, versuchte jetzt Brombach, ihn zu provozieren.
„Nein, natürlich nicht. Gewalt, das wollen wir in unserem schönen Dorf überhaupt nicht haben.“
„Das verstehe ich jetzt nicht“, legte Brombach nach. „Sie haben doch vorher diesen Drohbrief geschrieben. Der Anschlag war doch nur die logische Fortsetzung.“
„Nein, so sehe ich das nicht.“ Schittenhelm hatte jetzt einen Distanz schaffenden, quasi amtlichen Ton gefunden. „Sicher, die überwältigende Mehrheit aller Einwohner von Waldesruh, und dazu rechne ich mich auch, wollen auf keinen Fall, dass Wolfgang Maurischat wieder hier wohnt. Und ich denke, das ist verständlich.“
„Lassen Sie uns darüber etwas später reden“, meinte jetzt wieder Travniczek. „Noch mal die Frage: Wie erklären Sie sich diesen Anschlag? Es muss ja einen Täter geben.“
„Zunächst einmal möchte ich ausdrücklich betonen: Dieser Vorfall ist eine Diskreditierung unseres berechtigten Anliegens. Ich würde daher ausschließen, dass es jemand von den Dorfbewohnern war. So dumm ist hier niemand.“
„Kommen Sie uns jetzt aber bitte nicht mit dem großen Unbekannten“, brauste Brombach auf. „Waldesruh war zur Zeit des Anschlags nahezu von der Außenwelt abgeschnitten.“
„Nein, nicht der große Unbekannte“, fuhr Schittenhelm unbeirrt fort. „Wir sind froh, dass wir einen ehemaligen Kollegen von Ihnen, Herrn Sigismund Mampel, unter unseren Mitbürgern haben. Der hat auf der Grundlage seiner langjährigen Berufserfahrung ein, wie ich finde, sehr überzeugendes Szenario entwickelt: Die Maurischats haben die ganze Sache selbst inszeniert, um uns ins Unrecht zu setzen.“
Er schwieg und sah die Kommissare herausfordernd an.
„Also, Sie machen das Opfer zum Täter?“, fuhr Brombach ihn aufgebracht an. Travniczek gab ihm einen kaum sichtbaren Wink, Ruhe zu bewahren.
„Ihre Hypothese entbehrt nicht einer gewissen Logik“, sagte er dann ganz ruhig, „und wir werden sicher auch in diese Richtung ermitteln. – Wichtiger ist mir jetzt aber Ihr Brief. Für Sie als Beamter kann das sehr unangenehm werden. Es muss Ihnen doch klar sein, dass es sich hierbei um einen schweren Fall von Nötigung handelt. Wie ist das Pamphlet eigentlich entstanden? Haben Sie das geschrieben und sind dann damit durch das Dorf gelaufen, um die Unterschriften einzusammeln oder wie habe ich mir das vorzustellen?“
Travniczek sah deutliche Unruhe in seinen Augen. Schittenhelm verlor jetzt seine Beamtendistanz und sprach zunehmend hektisch.
„Nein, natürlich nicht. Wir haben hier jeden Sonntagmorgen unseren wöchentlichen Frühschoppen. Da haben wir beim letzten Mal erfahren, dass Wolfgang Maurischat aus der Haft entlassen wird und wieder hier zu wohnen gedenkt. Das hat uns alle sehr schockiert, da niemand damit gerechnet hatte. Wir dachten alle, der traut sich nie mehr hierher. Natürlich will niemand mit diesem Mörder hier zusammenleben. Wir haben dann eben überlegt, was wir dagegen tun können. Da hat unser Dorfmaler, der Pietro Mostacci, plötzlich dieses Bild präsentiert, das er wohl schon vor einiger Zeit gemalt hatte. Wir waren alle sehr davon beeindruckt, um nicht zu sagen, begeistert und es kam die Idee auf mit dem Begrüßungsgeschenk, und da musste natürlich auch ein Brief dazu. Im Übrigen waren wir auch alle zu diesem Zeitpunkt schon sehr angeheitert.“
„Also eigentlich ganz harmlos?“
„Natürlich.“
„Das kann ich nicht so sehen. Für mich sind alle, die diesen Brief unterschrieben haben, in Bezug auf den Anschlag tatverdächtig. Ich werde dem Staatsanwalt vorschlagen, entsprechende Ermittlungsverfahren einzuleiten.“
„Sie können doch nicht ein ganzes Dorf kriminalisieren!“
„Wieso ich? Es handelt sich um eine kollektive Straftat. Da müssen Sie jetzt die Konsequenzen tragen.“
Tagebuch - 15.2.
Seit einer Woche bin ich wieder ganz gesund. Vater hat mich, seit ich krank war, noch nicht einmal geschlagen. Aber das macht es nicht besser. Denn stattdessen schlägt er Mama, weil sie mir helfen wollte. Sie ist zur Polizei gegangen und wollte Vater anzeigen. Aber die Polizei hat ihr nicht geglaubt. Die haben Vater angerufen. Mama mußte auf der Polizei bleiben, bis er sie abgeholt hat. Jetzt höre ich nachts Vaters Schläge und ihre Schreie. Gestern Morgen hatte sie ein ganz blaues Auge. Ich glaube, sie konnte nicht mehr richtig sehen.